von dem dogmatischen Interesse aus. Abgesehen von der In- spiration dachte man sich das N. T. wenigstens als corpus do- ctrinae, als Kanon. Das dogmatische Interesse aber, wo es vorherrscht, verleitet dazu, unaufmerksam über alles wegzueilen was nicht eben das dogmatische Interesse erregt. Es handelt sich dabei meist nur um einzelne schwierige und streitige Säze, die aus dem Zusammenhange genommen durch analoge ebenfalls aus ihrem Zusammenhange gerissene erläutert werden. Es leuchtet ein, daß ein solches Verfahren der reine Gegensaz des kunstmäßi- gen ist. Das Zusammenstellen der Parallelen nur aus dem bestimm- ten Bedürfniß einer einzelnen Stelle läßt das ganze Verwandt- schaftsverhältniß ignoriren; man sieht nur nach dem einzelnen Ausdruck, wo die Verwandtschaft gar kein Maaß hat, und so ent- stehen leicht Fehlgriffe. -- Nur von der Abnahme des dogmati- schen Interesses war Heil zu erwarten. Und dieß ist das Gute, welches gewisse Zeiten, wenn auch nur per accidens hervorge- bracht haben. Das heilsame Abnehmen des dogmatischen Interesses soll nicht zum (dogmatischen) Indifferentismus führen, sondern nur die Polemik ausschließen, welche auf schnelle Entschließung dringend die hermeneutische Operation in Gefahr bringt sich zu übereilen, und es zu keiner ruhigen historischen, kritischen Forschung kommen läßt. Großes Verdienst haben in dieser Hinsicht zuerst die Socinianer, nachher besonders die Remonstranten. Beide wa- ren freilich auch in der Polemik begriffen, aber namentlich unter den Remonstranten waren ausgezeichnete Männer, die mit einem gewissen unabhängigen philologischen Sinne die Richtung hatten das Biblische von den auf leidenschaftlichem Wege entstandenen Auslegungen zu reinigen, wodurch die Exegese der Remonstranten einen mehr eigentlich hermeneutischen Charakter bekam.
Wie ist es jezt? Auf der einen Seite fängt alles an sich zu wiederholen was ehedem den richtigen hermeneutischen Gang gehemmt hat. Aber auf der andern Seite sind bedeutende Fort- schritte gemacht in der Reinigung der hermeneutischen Maximen. Besonders ist zweierlei hervorzuheben, einmal, daß man nach einer
von dem dogmatiſchen Intereſſe aus. Abgeſehen von der In- ſpiration dachte man ſich das N. T. wenigſtens als corpus do- ctrinae, als Kanon. Das dogmatiſche Intereſſe aber, wo es vorherrſcht, verleitet dazu, unaufmerkſam uͤber alles wegzueilen was nicht eben das dogmatiſche Intereſſe erregt. Es handelt ſich dabei meiſt nur um einzelne ſchwierige und ſtreitige Saͤze, die aus dem Zuſammenhange genommen durch analoge ebenfalls aus ihrem Zuſammenhange geriſſene erlaͤutert werden. Es leuchtet ein, daß ein ſolches Verfahren der reine Gegenſaz des kunſtmaͤßi- gen iſt. Das Zuſammenſtellen der Parallelen nur aus dem beſtimm- ten Beduͤrfniß einer einzelnen Stelle laͤßt das ganze Verwandt- ſchaftsverhaͤltniß ignoriren; man ſieht nur nach dem einzelnen Ausdruck, wo die Verwandtſchaft gar kein Maaß hat, und ſo ent- ſtehen leicht Fehlgriffe. — Nur von der Abnahme des dogmati- ſchen Intereſſes war Heil zu erwarten. Und dieß iſt das Gute, welches gewiſſe Zeiten, wenn auch nur per accidens hervorge- bracht haben. Das heilſame Abnehmen des dogmatiſchen Intereſſes ſoll nicht zum (dogmatiſchen) Indifferentismus fuͤhren, ſondern nur die Polemik ausſchließen, welche auf ſchnelle Entſchließung dringend die hermeneutiſche Operation in Gefahr bringt ſich zu uͤbereilen, und es zu keiner ruhigen hiſtoriſchen, kritiſchen Forſchung kommen laͤßt. Großes Verdienſt haben in dieſer Hinſicht zuerſt die Socinianer, nachher beſonders die Remonſtranten. Beide wa- ren freilich auch in der Polemik begriffen, aber namentlich unter den Remonſtranten waren ausgezeichnete Maͤnner, die mit einem gewiſſen unabhaͤngigen philologiſchen Sinne die Richtung hatten das Bibliſche von den auf leidenſchaftlichem Wege entſtandenen Auslegungen zu reinigen, wodurch die Exegeſe der Remonſtranten einen mehr eigentlich hermeneutiſchen Charakter bekam.
Wie iſt es jezt? Auf der einen Seite faͤngt alles an ſich zu wiederholen was ehedem den richtigen hermeneutiſchen Gang gehemmt hat. Aber auf der andern Seite ſind bedeutende Fort- ſchritte gemacht in der Reinigung der hermeneutiſchen Maximen. Beſonders iſt zweierlei hervorzuheben, einmal, daß man nach einer
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von dem dogmatiſchen Intereſſe aus. Abgeſehen von der In-
ſpiration dachte man ſich das N. T. wenigſtens als corpus do-
ctrinae, als Kanon. Das dogmatiſche Intereſſe aber, wo es
vorherrſcht, verleitet dazu, unaufmerkſam uͤber alles wegzueilen
was nicht eben das dogmatiſche Intereſſe erregt. Es handelt
ſich dabei meiſt nur um einzelne ſchwierige und ſtreitige Saͤze,
die aus dem Zuſammenhange genommen durch analoge ebenfalls
aus ihrem Zuſammenhange geriſſene erlaͤutert werden. Es leuchtet
ein, daß ein ſolches Verfahren der reine Gegenſaz des kunſtmaͤßi-
gen iſt. Das Zuſammenſtellen der Parallelen nur aus dem beſtimm-
ten Beduͤrfniß einer einzelnen Stelle laͤßt das ganze Verwandt-
ſchaftsverhaͤltniß ignoriren; man ſieht nur nach dem einzelnen
Ausdruck, wo die Verwandtſchaft gar kein Maaß hat, und ſo ent-
ſtehen leicht Fehlgriffe. — Nur von der Abnahme des dogmati-
ſchen Intereſſes war Heil zu erwarten. Und dieß iſt das Gute,
welches gewiſſe Zeiten, wenn auch nur per accidens hervorge-
bracht haben. Das heilſame Abnehmen des dogmatiſchen Intereſſes
ſoll nicht zum (dogmatiſchen) Indifferentismus fuͤhren, ſondern
nur die Polemik ausſchließen, welche auf ſchnelle Entſchließung
dringend die hermeneutiſche Operation in Gefahr bringt ſich zu
uͤbereilen, und es zu keiner ruhigen hiſtoriſchen, kritiſchen Forſchung
kommen laͤßt. Großes Verdienſt haben in dieſer Hinſicht zuerſt
die Socinianer, nachher beſonders die Remonſtranten. Beide wa-
ren freilich auch in der Polemik begriffen, aber namentlich unter
den Remonſtranten waren ausgezeichnete Maͤnner, die mit einem
gewiſſen unabhaͤngigen philologiſchen Sinne die Richtung hatten
das Bibliſche von den auf leidenſchaftlichem Wege entſtandenen
Auslegungen zu reinigen, wodurch die Exegeſe der Remonſtranten
einen mehr eigentlich hermeneutiſchen Charakter bekam.
Wie iſt es jezt? Auf der einen Seite faͤngt alles an ſich
zu wiederholen was ehedem den richtigen hermeneutiſchen Gang
gehemmt hat. Aber auf der andern Seite ſind bedeutende Fort-
ſchritte gemacht in der Reinigung der hermeneutiſchen Maximen.
Beſonders iſt zweierlei hervorzuheben, einmal, daß man nach einer
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/152>, abgerufen am 04.12.2024.
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