klaren Anschauung und Einsicht von dem Einzelnen in der Sprache strebt, sondern daß man die hermeneutische Operation mit der historischen Kritik in genauere Verbindung zu bringen sucht.
Großes Verdienst hat, was das erste betrifft, Winers Gram- matik. Indem sie die verschiedenen formellen Elemente, die sub- stantiellen und die Flexionen, auf eine einfache Anschauung zu- rückbringt, so daß eine Einheit gewonnen wird, zerstört sie eine Menge falscher Ansichten über einzelne Gebrauchsweisen. Nur wäre zu wünschen, daß die Auffindung des Einzelnen immer mehr noch erleichtert würde.
Beachtungswerth ist das Bestreben der neueren Zeit die Sprach- charaktere der einzelnen neutest. Schriftsteller zu bestimmen. Auf einem reichen litterarischen Gebiete ist solche Charakteristik möglich. Aber wenn man im N. T. von einem Schriftsteller kaum drei Bogen im Druck hat, wird die Arbeit leicht mikroskopisch, und das vertragen wenige Augen lange. Auch versieht man es dabei wol darin, daß man dem gewöhnlichen, aufs Gerathewol ent- standenen Text folgt. Bei unzuverlässigem Text aber kann das minutiöse Unterscheiden eben so verderblich werden als das Un- tereinanderwerfen.
Kehren wir nun zu unserer Aufgabe zurück, so haben wir nach dem Obigen im Allgemeinen vorauszusezen, daß die Mi- schung der verschiedenen formellen Sprachelemente je nach dem Talent und der Übung der neutestam. Schriftsteller verschieden ist. Wir fragen nun nach einem allgemeinen Kennzeichen, Maaß- stabe, diese Verschiedenheit zu bestimmen. Dieser liegt darin, daß während in dem griechischen Sprachelement die periodische Ver- knüpfung vorherrscht, im aramäischen das Abgebrochene. Daraus ergiebt sich die Regel: Je mehr wir in einem neutest. Schrift- steller Periodisches finden, desto mehr ist zu glauben, daß er sich das griechische so angeeignet, daß er darin auch zu denken ver- mochte. Würde er sonst periodisch übertragen haben, was er nicht periodisch gedacht? Je periodischer aber ein Schriftsteller ist, desto mehr müssen wir bei dem formellen Sprachelement auf das
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klaren Anſchauung und Einſicht von dem Einzelnen in der Sprache ſtrebt, ſondern daß man die hermeneutiſche Operation mit der hiſtoriſchen Kritik in genauere Verbindung zu bringen ſucht.
Großes Verdienſt hat, was das erſte betrifft, Winers Gram- matik. Indem ſie die verſchiedenen formellen Elemente, die ſub- ſtantiellen und die Flexionen, auf eine einfache Anſchauung zu- ruͤckbringt, ſo daß eine Einheit gewonnen wird, zerſtoͤrt ſie eine Menge falſcher Anſichten uͤber einzelne Gebrauchsweiſen. Nur waͤre zu wuͤnſchen, daß die Auffindung des Einzelnen immer mehr noch erleichtert wuͤrde.
Beachtungswerth iſt das Beſtreben der neueren Zeit die Sprach- charaktere der einzelnen neuteſt. Schriftſteller zu beſtimmen. Auf einem reichen litterariſchen Gebiete iſt ſolche Charakteriſtik moͤglich. Aber wenn man im N. T. von einem Schriftſteller kaum drei Bogen im Druck hat, wird die Arbeit leicht mikroſkopiſch, und das vertragen wenige Augen lange. Auch verſieht man es dabei wol darin, daß man dem gewoͤhnlichen, aufs Gerathewol ent- ſtandenen Text folgt. Bei unzuverlaͤſſigem Text aber kann das minutioͤſe Unterſcheiden eben ſo verderblich werden als das Un- tereinanderwerfen.
Kehren wir nun zu unſerer Aufgabe zuruͤck, ſo haben wir nach dem Obigen im Allgemeinen vorauszuſezen, daß die Mi- ſchung der verſchiedenen formellen Sprachelemente je nach dem Talent und der Übung der neuteſtam. Schriftſteller verſchieden iſt. Wir fragen nun nach einem allgemeinen Kennzeichen, Maaß- ſtabe, dieſe Verſchiedenheit zu beſtimmen. Dieſer liegt darin, daß waͤhrend in dem griechiſchen Sprachelement die periodiſche Ver- knuͤpfung vorherrſcht, im aramaͤiſchen das Abgebrochene. Daraus ergiebt ſich die Regel: Je mehr wir in einem neuteſt. Schrift- ſteller Periodiſches finden, deſto mehr iſt zu glauben, daß er ſich das griechiſche ſo angeeignet, daß er darin auch zu denken ver- mochte. Wuͤrde er ſonſt periodiſch uͤbertragen haben, was er nicht periodiſch gedacht? Je periodiſcher aber ein Schriftſteller iſt, deſto mehr muͤſſen wir bei dem formellen Sprachelement auf das
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klaren Anſchauung und Einſicht von dem Einzelnen in der Sprache
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hiſtoriſchen Kritik in genauere Verbindung zu bringen ſucht.
Großes Verdienſt hat, was das erſte betrifft, Winers Gram-
matik. Indem ſie die verſchiedenen formellen Elemente, die ſub-
ſtantiellen und die Flexionen, auf eine einfache Anſchauung zu-
ruͤckbringt, ſo daß eine Einheit gewonnen wird, zerſtoͤrt ſie eine
Menge falſcher Anſichten uͤber einzelne Gebrauchsweiſen. Nur
waͤre zu wuͤnſchen, daß die Auffindung des Einzelnen immer
mehr noch erleichtert wuͤrde.
Beachtungswerth iſt das Beſtreben der neueren Zeit die Sprach-
charaktere der einzelnen neuteſt. Schriftſteller zu beſtimmen. Auf
einem reichen litterariſchen Gebiete iſt ſolche Charakteriſtik moͤglich.
Aber wenn man im N. T. von einem Schriftſteller kaum drei
Bogen im Druck hat, wird die Arbeit leicht mikroſkopiſch, und
das vertragen wenige Augen lange. Auch verſieht man es dabei
wol darin, daß man dem gewoͤhnlichen, aufs Gerathewol ent-
ſtandenen Text folgt. Bei unzuverlaͤſſigem Text aber kann das
minutioͤſe Unterſcheiden eben ſo verderblich werden als das Un-
tereinanderwerfen.
Kehren wir nun zu unſerer Aufgabe zuruͤck, ſo haben wir
nach dem Obigen im Allgemeinen vorauszuſezen, daß die Mi-
ſchung der verſchiedenen formellen Sprachelemente je nach dem
Talent und der Übung der neuteſtam. Schriftſteller verſchieden iſt.
Wir fragen nun nach einem allgemeinen Kennzeichen, Maaß-
ſtabe, dieſe Verſchiedenheit zu beſtimmen. Dieſer liegt darin, daß
waͤhrend in dem griechiſchen Sprachelement die periodiſche Ver-
knuͤpfung vorherrſcht, im aramaͤiſchen das Abgebrochene. Daraus
ergiebt ſich die Regel: Je mehr wir in einem neuteſt. Schrift-
ſteller Periodiſches finden, deſto mehr iſt zu glauben, daß er ſich
das griechiſche ſo angeeignet, daß er darin auch zu denken ver-
mochte. Wuͤrde er ſonſt periodiſch uͤbertragen haben, was er
nicht periodiſch gedacht? Je periodiſcher aber ein Schriftſteller iſt,
deſto mehr muͤſſen wir bei dem formellen Sprachelement auf das
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/153>, abgerufen am 04.12.2024.
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