Als Thatsachen ihres Gemüthes in persönlichen Verhältnissen ha- ben sie großen Einfluß auf das Verstehen ihrer übrigen littera- rischen Produkte. Es gehören hieher die freien Gedankenpro- duktionen von größerem objectiven Gehalt, z. B. in Reisebeschrei- bungen und dergl. ohne Kunstform, in Briefen. Diese können auf gleiche Weise als Thatsache des Gemüthes der Reisenden und Beschreibenden aufgefaßt werden. Denken wir uns zwei zusam- menreisende, die ihre Auffassungen wieder geben. Diese Auffassungen werden verschieden sein. Kennen wir die objective Beschaffen- heit der Sache, so wird die Differenz dadurch recht deutlich für uns. Oft aber lernen wir erst den Gegenstand aus verschiedenen Beschreibungen kennen, dann ist's schwer, das Objective und Sub- jective darin zu unterscheiden. -- Ferner gehören hieher Be- schreibungen des Geschehenen in Memoiren, Tagebüchern und dergl., worin das kunstlose Wiedergeben der eigenen Auffassung herrscht. Da können sich Urtheil und objective Wahrnehmung sehr vermischen, so daß die Unterscheidung der objectiven und sub- jectiven Elemente schwierig wird. Es ist dann die Aufgabe, das Wiedergeben der Auffassung als Thatsache im Gemüth des Verfassers zu betrachten.
Ganz anders, wenn die Combination unter der Potenz eines bestimmten Zieles steht. Da ist zwischen den einzelnen Elemen- ten ein anderes Band des Fortschreitens, eine constante Größe, ein bestimmtes Verhältniß jedes Punktes zu dem vorgesezten Ziele in Vergleichung mit jedem vorhergehenden. Je nachdem das Ziel ein anderes ist, ist auch die Art und Weise der Combination ver- schieden. Hier ist Methode der Combination und künstlerische Pro- duktion. Dem kunstlosen Memorienschreiber auf jener Seite z. B. steht auf dieser Seite der künstliche Geschichtschreiber gegenüber. Das hermeneutische Verfahren ist hier natürlich ein anderes, als dort. Ich darf an den Memorienschreiber nicht die Ansprüche machen, wie an den Geschichtschreiber.
Es giebt keine Gattung der Mittheilung durch Rede, in der diese Differenz nicht wäre. Überall, auch auf dem Gebiete der
Als Thatſachen ihres Gemuͤthes in perſoͤnlichen Verhaͤltniſſen ha- ben ſie großen Einfluß auf das Verſtehen ihrer uͤbrigen littera- riſchen Produkte. Es gehoͤren hieher die freien Gedankenpro- duktionen von groͤßerem objectiven Gehalt, z. B. in Reiſebeſchrei- bungen und dergl. ohne Kunſtform, in Briefen. Dieſe koͤnnen auf gleiche Weiſe als Thatſache des Gemuͤthes der Reiſenden und Beſchreibenden aufgefaßt werden. Denken wir uns zwei zuſam- menreiſende, die ihre Auffaſſungen wieder geben. Dieſe Auffaſſungen werden verſchieden ſein. Kennen wir die objective Beſchaffen- heit der Sache, ſo wird die Differenz dadurch recht deutlich fuͤr uns. Oft aber lernen wir erſt den Gegenſtand aus verſchiedenen Beſchreibungen kennen, dann iſt's ſchwer, das Objective und Sub- jective darin zu unterſcheiden. — Ferner gehoͤren hieher Be- ſchreibungen des Geſchehenen in Memoiren, Tagebuͤchern und dergl., worin das kunſtloſe Wiedergeben der eigenen Auffaſſung herrſcht. Da koͤnnen ſich Urtheil und objective Wahrnehmung ſehr vermiſchen, ſo daß die Unterſcheidung der objectiven und ſub- jectiven Elemente ſchwierig wird. Es iſt dann die Aufgabe, das Wiedergeben der Auffaſſung als Thatſache im Gemuͤth des Verfaſſers zu betrachten.
Ganz anders, wenn die Combination unter der Potenz eines beſtimmten Zieles ſteht. Da iſt zwiſchen den einzelnen Elemen- ten ein anderes Band des Fortſchreitens, eine conſtante Groͤße, ein beſtimmtes Verhaͤltniß jedes Punktes zu dem vorgeſezten Ziele in Vergleichung mit jedem vorhergehenden. Je nachdem das Ziel ein anderes iſt, iſt auch die Art und Weiſe der Combination ver- ſchieden. Hier iſt Methode der Combination und kuͤnſtleriſche Pro- duktion. Dem kunſtloſen Memorienſchreiber auf jener Seite z. B. ſteht auf dieſer Seite der kuͤnſtliche Geſchichtſchreiber gegenuͤber. Das hermeneutiſche Verfahren iſt hier natuͤrlich ein anderes, als dort. Ich darf an den Memorienſchreiber nicht die Anſpruͤche machen, wie an den Geſchichtſchreiber.
Es giebt keine Gattung der Mittheilung durch Rede, in der dieſe Differenz nicht waͤre. Überall, auch auf dem Gebiete der
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Als Thatſachen ihres Gemuͤthes in perſoͤnlichen Verhaͤltniſſen ha-
ben ſie großen Einfluß auf das Verſtehen ihrer uͤbrigen littera-
riſchen Produkte. Es gehoͤren hieher die freien Gedankenpro-
duktionen von groͤßerem objectiven Gehalt, z. B. in Reiſebeſchrei-
bungen und dergl. ohne Kunſtform, in Briefen. Dieſe koͤnnen
auf gleiche Weiſe als Thatſache des Gemuͤthes der Reiſenden und
Beſchreibenden aufgefaßt werden. Denken wir uns zwei zuſam-
menreiſende, die ihre Auffaſſungen wieder geben. Dieſe Auffaſſungen
werden verſchieden ſein. Kennen wir die objective Beſchaffen-
heit der Sache, ſo wird die Differenz dadurch recht deutlich fuͤr
uns. Oft aber lernen wir erſt den Gegenſtand aus verſchiedenen
Beſchreibungen kennen, dann iſt's ſchwer, das Objective und Sub-
jective darin zu unterſcheiden. — Ferner gehoͤren hieher Be-
ſchreibungen des Geſchehenen in Memoiren, Tagebuͤchern und
dergl., worin das kunſtloſe Wiedergeben der eigenen Auffaſſung
herrſcht. Da koͤnnen ſich Urtheil und objective Wahrnehmung
ſehr vermiſchen, ſo daß die Unterſcheidung der objectiven und ſub-
jectiven Elemente ſchwierig wird. Es iſt dann die Aufgabe,
das Wiedergeben der Auffaſſung als Thatſache im Gemuͤth des
Verfaſſers zu betrachten.
Ganz anders, wenn die Combination unter der Potenz eines
beſtimmten Zieles ſteht. Da iſt zwiſchen den einzelnen Elemen-
ten ein anderes Band des Fortſchreitens, eine conſtante Groͤße,
ein beſtimmtes Verhaͤltniß jedes Punktes zu dem vorgeſezten Ziele
in Vergleichung mit jedem vorhergehenden. Je nachdem das Ziel
ein anderes iſt, iſt auch die Art und Weiſe der Combination ver-
ſchieden. Hier iſt Methode der Combination und kuͤnſtleriſche Pro-
duktion. Dem kunſtloſen Memorienſchreiber auf jener Seite z. B.
ſteht auf dieſer Seite der kuͤnſtliche Geſchichtſchreiber gegenuͤber.
Das hermeneutiſche Verfahren iſt hier natuͤrlich ein anderes, als
dort. Ich darf an den Memorienſchreiber nicht die Anſpruͤche
machen, wie an den Geſchichtſchreiber.
Es giebt keine Gattung der Mittheilung durch Rede, in der
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/174>, abgerufen am 04.12.2024.
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