Haupt- und Nebengedanken gestaltet sich immer aus der Noth- wendigkeit der Form, wenn er auch nicht von Anfang an gewollt ist. Dieß ist das Nächste, wovon alle weitere hermeneutische Ope- ration auf dieser Seite abhängt. Die Form sei, welche sie wolle, von dem Augenblicke an, wo der Entschluß zu einer Form ent- standen ist, ist der Verfasser Organ der Form, freier oder gebun- dener, je nachdem die Form selbst mehr frei oder gebunden ist.
Die Einheit selbst kann in dem Keimentschluß stärker und schwächer gedacht sein. Die schwächste ist wenn der Entschluß nur lautet, sich in der Gedankenmittheilung gehen zu lassen. Hierin ist der Gegensaz zwischen Haupt- und Nebengedanken ganz auf- gehoben. Am stärksten und für die Auslegung am fruchtbarsten ist sie, wenn sie am meisten für den Verfasser bindend ist und auf eine bestimmte Form sich bezieht. Zwischen diesen beiden End- punkten liegt die ganze bewegliche Reihe von einzelnen Momenten.
Anwendung des bisher Erörterten auf das N. T.
Die Lösung der rein psychologischen Aufgabe hat gerade im N. T. bedeutende Schwierigkeiten. Wir haben im N. T. abge- sehn von der Apokalypse zwei Formen, die historische und epi- stolische. Von den historischen Schriften tragen vier denselben Namen, Evangelien. Diese Überschriften können nicht als Aus- druck des Keimentschlusses der Verfasser angesehen werden, denn sie sind nicht gleichzeitig mit den Schriftstellern entstanden, und enthalten gewissermaßen schon einen hermeneutischen Ausspruch, der aber als problematisch zu betrachten ist. -- Alle vier be- handeln denselben Gegenstand, das Leben Jesu Christi, und zwar in historischer Form. Allein wollte man nun sagen, jeder habe wollen eine Biographie Christi schreiben, so wäre das schon zu viel gesagt. -- Weiter bemerkt man in mehreren so viel Iden- tisches, daß man dieß nicht als accidentiell ansehen kann, sondern nur erklären kann aus zum Grunde liegenden gemeinsamen Er- zählungen, von denen aber der eine dieß, der andere jenes ge-
Haupt- und Nebengedanken geſtaltet ſich immer aus der Noth- wendigkeit der Form, wenn er auch nicht von Anfang an gewollt iſt. Dieß iſt das Naͤchſte, wovon alle weitere hermeneutiſche Ope- ration auf dieſer Seite abhaͤngt. Die Form ſei, welche ſie wolle, von dem Augenblicke an, wo der Entſchluß zu einer Form ent- ſtanden iſt, iſt der Verfaſſer Organ der Form, freier oder gebun- dener, je nachdem die Form ſelbſt mehr frei oder gebunden iſt.
Die Einheit ſelbſt kann in dem Keimentſchluß ſtaͤrker und ſchwaͤcher gedacht ſein. Die ſchwaͤchſte iſt wenn der Entſchluß nur lautet, ſich in der Gedankenmittheilung gehen zu laſſen. Hierin iſt der Gegenſaz zwiſchen Haupt- und Nebengedanken ganz auf- gehoben. Am ſtaͤrkſten und fuͤr die Auslegung am fruchtbarſten iſt ſie, wenn ſie am meiſten fuͤr den Verfaſſer bindend iſt und auf eine beſtimmte Form ſich bezieht. Zwiſchen dieſen beiden End- punkten liegt die ganze bewegliche Reihe von einzelnen Momenten.
Anwendung des bisher Eroͤrterten auf das N. T.
Die Loͤſung der rein pſychologiſchen Aufgabe hat gerade im N. T. bedeutende Schwierigkeiten. Wir haben im N. T. abge- ſehn von der Apokalypſe zwei Formen, die hiſtoriſche und epi- ſtoliſche. Von den hiſtoriſchen Schriften tragen vier denſelben Namen, Evangelien. Dieſe Überſchriften koͤnnen nicht als Aus- druck des Keimentſchluſſes der Verfaſſer angeſehen werden, denn ſie ſind nicht gleichzeitig mit den Schriftſtellern entſtanden, und enthalten gewiſſermaßen ſchon einen hermeneutiſchen Ausſpruch, der aber als problematiſch zu betrachten iſt. — Alle vier be- handeln denſelben Gegenſtand, das Leben Jeſu Chriſti, und zwar in hiſtoriſcher Form. Allein wollte man nun ſagen, jeder habe wollen eine Biographie Chriſti ſchreiben, ſo waͤre das ſchon zu viel geſagt. — Weiter bemerkt man in mehreren ſo viel Iden- tiſches, daß man dieß nicht als accidentiell anſehen kann, ſondern nur erklaͤren kann aus zum Grunde liegenden gemeinſamen Er- zaͤhlungen, von denen aber der eine dieß, der andere jenes ge-
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Haupt- und Nebengedanken geſtaltet ſich immer aus der Noth-
wendigkeit der Form, wenn er auch nicht von Anfang an gewollt
iſt. Dieß iſt das Naͤchſte, wovon alle weitere hermeneutiſche Ope-
ration auf dieſer Seite abhaͤngt. Die Form ſei, welche ſie wolle,
von dem Augenblicke an, wo der Entſchluß zu einer Form ent-
ſtanden iſt, iſt der Verfaſſer Organ der Form, freier oder gebun-
dener, je nachdem die Form ſelbſt mehr frei oder gebunden iſt.
Die Einheit ſelbſt kann in dem Keimentſchluß ſtaͤrker und
ſchwaͤcher gedacht ſein. Die ſchwaͤchſte iſt wenn der Entſchluß nur
lautet, ſich in der Gedankenmittheilung gehen zu laſſen. Hierin
iſt der Gegenſaz zwiſchen Haupt- und Nebengedanken ganz auf-
gehoben. Am ſtaͤrkſten und fuͤr die Auslegung am fruchtbarſten
iſt ſie, wenn ſie am meiſten fuͤr den Verfaſſer bindend iſt und
auf eine beſtimmte Form ſich bezieht. Zwiſchen dieſen beiden End-
punkten liegt die ganze bewegliche Reihe von einzelnen Momenten.
Anwendung des bisher Eroͤrterten auf das N. T.
Die Loͤſung der rein pſychologiſchen Aufgabe hat gerade im
N. T. bedeutende Schwierigkeiten. Wir haben im N. T. abge-
ſehn von der Apokalypſe zwei Formen, die hiſtoriſche und epi-
ſtoliſche. Von den hiſtoriſchen Schriften tragen vier denſelben
Namen, Evangelien. Dieſe Überſchriften koͤnnen nicht als Aus-
druck des Keimentſchluſſes der Verfaſſer angeſehen werden, denn
ſie ſind nicht gleichzeitig mit den Schriftſtellern entſtanden, und
enthalten gewiſſermaßen ſchon einen hermeneutiſchen Ausſpruch,
der aber als problematiſch zu betrachten iſt. — Alle vier be-
handeln denſelben Gegenſtand, das Leben Jeſu Chriſti, und zwar
in hiſtoriſcher Form. Allein wollte man nun ſagen, jeder habe
wollen eine Biographie Chriſti ſchreiben, ſo waͤre das ſchon zu
viel geſagt. — Weiter bemerkt man in mehreren ſo viel Iden-
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nur erklaͤren kann aus zum Grunde liegenden gemeinſamen Er-
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/193>, abgerufen am 04.12.2024.
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