Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

lassen. Bei Markus dagegen werden wir annehmen dürfen, daß
ihn an der Aufnahme des Früheren entweder Mangel an Notiz
oder an Raum hinderte.

Betrachten wir die streitige Frage von einer andern Seite,
nemlich, wie eine historische Produktion, die wir Biographie nen-
nen, sich gestalten müsse.

Es ist nicht möglich, eine Continuität von Zeiterfüllun-
gen darzustellen. Wäre es möglich, so könnte es nur unter der
Form der strengen Chronik geschehen, denn da theilt sich die
Zeit in fortlaufende Abschnitte. Abstrahirt man davon und sezt
in den biographischen Inhalt eine Differenz zwischen dem, was eben
wegen seines Inhalts mitgetheilt zu werden verdient und was
nicht, so werden Lücken entstehen. Eine solche Produktion würde
dann als Aggregat von Einzelheiten anzusehen sein. Der Idee
der Lebensbeschreibung liegt die Continuität zum Grunde, weil
das Leben Eins ist. Wiewol nun die Continuität nicht unmit-
telbar darstellbar ist, sondern nur in der Form des Einzelnen,
das sich sondert, so darf doch die Beziehung des Einzelnen auf
die Continuität nicht fehlen. Diese Beziehung liegt nicht in der
Identität des Subjects, sondern im Zeitverlauf. Es müssen also
die Einzelheiten der Zeit nach so gestellt werden, daß der Leser
die Continuität erkennen kann. Bloße Zusammenstellungen von
Einzelheiten ohne jene Continuität sind nur Materialien, Elemente
zur Biographie. Daraus läßt sich auch unmittelbar keine Bio-
graphie bilden; es bleibt, selbst wenn man das Einzelne der Zeit nach
stellt und mit Verbindungsformeln versieht, ein bloßes Aggregat,
dem der innere Zusammenhang im Zeitverlauf fehlt.

Was nun unsere Evangelien betrifft, so zerfällt jedes in zwei
in dieser Beziehung ganz verschiedene Theile; der eine Theil, die
Beschreibung der öffentlichen Wirksamkeit, besteht aus lauter mehr
und weniger aneinandergereiheten einzelnen Erzählungen, wogegen
der zweite Theil, die Leidensgeschichte, überwiegend als ein Conti-
nuum erscheint. Hier war die Continuität kaum zu vermeiden.
Vergleichen wir nun unsere Evangelien in Beziehung auf den

laſſen. Bei Markus dagegen werden wir annehmen duͤrfen, daß
ihn an der Aufnahme des Fruͤheren entweder Mangel an Notiz
oder an Raum hinderte.

Betrachten wir die ſtreitige Frage von einer andern Seite,
nemlich, wie eine hiſtoriſche Produktion, die wir Biographie nen-
nen, ſich geſtalten muͤſſe.

Es iſt nicht moͤglich, eine Continuitaͤt von Zeiterfuͤllun-
gen darzuſtellen. Waͤre es moͤglich, ſo koͤnnte es nur unter der
Form der ſtrengen Chronik geſchehen, denn da theilt ſich die
Zeit in fortlaufende Abſchnitte. Abſtrahirt man davon und ſezt
in den biographiſchen Inhalt eine Differenz zwiſchen dem, was eben
wegen ſeines Inhalts mitgetheilt zu werden verdient und was
nicht, ſo werden Luͤcken entſtehen. Eine ſolche Produktion wuͤrde
dann als Aggregat von Einzelheiten anzuſehen ſein. Der Idee
der Lebensbeſchreibung liegt die Continuitaͤt zum Grunde, weil
das Leben Eins iſt. Wiewol nun die Continuitaͤt nicht unmit-
telbar darſtellbar iſt, ſondern nur in der Form des Einzelnen,
das ſich ſondert, ſo darf doch die Beziehung des Einzelnen auf
die Continuitaͤt nicht fehlen. Dieſe Beziehung liegt nicht in der
Identitaͤt des Subjects, ſondern im Zeitverlauf. Es muͤſſen alſo
die Einzelheiten der Zeit nach ſo geſtellt werden, daß der Leſer
die Continuitaͤt erkennen kann. Bloße Zuſammenſtellungen von
Einzelheiten ohne jene Continuitaͤt ſind nur Materialien, Elemente
zur Biographie. Daraus laͤßt ſich auch unmittelbar keine Bio-
graphie bilden; es bleibt, ſelbſt wenn man das Einzelne der Zeit nach
ſtellt und mit Verbindungsformeln verſieht, ein bloßes Aggregat,
dem der innere Zuſammenhang im Zeitverlauf fehlt.

Was nun unſere Evangelien betrifft, ſo zerfaͤllt jedes in zwei
in dieſer Beziehung ganz verſchiedene Theile; der eine Theil, die
Beſchreibung der oͤffentlichen Wirkſamkeit, beſteht aus lauter mehr
und weniger aneinandergereiheten einzelnen Erzaͤhlungen, wogegen
der zweite Theil, die Leidensgeſchichte, uͤberwiegend als ein Conti-
nuum erſcheint. Hier war die Continuitaͤt kaum zu vermeiden.
Vergleichen wir nun unſere Evangelien in Beziehung auf den

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0197" n="173"/>
la&#x017F;&#x017F;en. Bei Markus dagegen werden wir annehmen du&#x0364;rfen, daß<lb/>
ihn an der Aufnahme des Fru&#x0364;heren entweder Mangel an Notiz<lb/>
oder an Raum hinderte.</p><lb/>
              <p>Betrachten wir die &#x017F;treitige Frage von einer andern Seite,<lb/>
nemlich, wie eine hi&#x017F;tori&#x017F;che Produktion, die wir Biographie nen-<lb/>
nen, &#x017F;ich ge&#x017F;talten mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e.</p><lb/>
              <p>Es i&#x017F;t nicht mo&#x0364;glich, eine <hi rendition="#g">Continuita&#x0364;t</hi> von Zeiterfu&#x0364;llun-<lb/>
gen darzu&#x017F;tellen. Wa&#x0364;re es mo&#x0364;glich, &#x017F;o ko&#x0364;nnte es nur unter der<lb/>
Form der <hi rendition="#g">&#x017F;trengen Chronik</hi> ge&#x017F;chehen, denn da theilt &#x017F;ich die<lb/>
Zeit in fortlaufende Ab&#x017F;chnitte. Ab&#x017F;trahirt man davon und &#x017F;ezt<lb/>
in den biographi&#x017F;chen Inhalt eine Differenz zwi&#x017F;chen dem, was eben<lb/>
wegen &#x017F;eines Inhalts mitgetheilt zu werden verdient und was<lb/>
nicht, &#x017F;o werden Lu&#x0364;cken ent&#x017F;tehen. Eine &#x017F;olche Produktion wu&#x0364;rde<lb/>
dann als Aggregat von Einzelheiten anzu&#x017F;ehen &#x017F;ein. Der Idee<lb/>
der Lebensbe&#x017F;chreibung liegt die Continuita&#x0364;t zum Grunde, weil<lb/>
das Leben Eins i&#x017F;t. Wiewol nun die Continuita&#x0364;t nicht unmit-<lb/>
telbar dar&#x017F;tellbar i&#x017F;t, &#x017F;ondern nur in der Form des Einzelnen,<lb/>
das &#x017F;ich &#x017F;ondert, &#x017F;o darf doch die Beziehung des Einzelnen auf<lb/>
die Continuita&#x0364;t nicht fehlen. Die&#x017F;e Beziehung liegt nicht in der<lb/>
Identita&#x0364;t des Subjects, &#x017F;ondern im Zeitverlauf. Es mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en al&#x017F;o<lb/>
die Einzelheiten der Zeit nach &#x017F;o ge&#x017F;tellt werden, daß der Le&#x017F;er<lb/>
die Continuita&#x0364;t erkennen kann. Bloße Zu&#x017F;ammen&#x017F;tellungen von<lb/>
Einzelheiten ohne jene Continuita&#x0364;t &#x017F;ind nur Materialien, Elemente<lb/>
zur Biographie. Daraus la&#x0364;ßt &#x017F;ich auch unmittelbar keine Bio-<lb/>
graphie bilden; es bleibt, &#x017F;elb&#x017F;t wenn man das Einzelne der Zeit nach<lb/>
&#x017F;tellt und mit Verbindungsformeln ver&#x017F;ieht, ein bloßes Aggregat,<lb/>
dem der innere Zu&#x017F;ammenhang im Zeitverlauf fehlt.</p><lb/>
              <p>Was nun un&#x017F;ere Evangelien betrifft, &#x017F;o zerfa&#x0364;llt jedes in zwei<lb/>
in die&#x017F;er Beziehung ganz ver&#x017F;chiedene Theile; der eine Theil, die<lb/>
Be&#x017F;chreibung der o&#x0364;ffentlichen Wirk&#x017F;amkeit, be&#x017F;teht aus lauter mehr<lb/>
und weniger aneinandergereiheten einzelnen Erza&#x0364;hlungen, wogegen<lb/>
der zweite Theil, die Leidensge&#x017F;chichte, u&#x0364;berwiegend als ein Conti-<lb/>
nuum er&#x017F;cheint. Hier war die Continuita&#x0364;t kaum zu vermeiden.<lb/>
Vergleichen wir nun un&#x017F;ere Evangelien in Beziehung auf den<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[173/0197] laſſen. Bei Markus dagegen werden wir annehmen duͤrfen, daß ihn an der Aufnahme des Fruͤheren entweder Mangel an Notiz oder an Raum hinderte. Betrachten wir die ſtreitige Frage von einer andern Seite, nemlich, wie eine hiſtoriſche Produktion, die wir Biographie nen- nen, ſich geſtalten muͤſſe. Es iſt nicht moͤglich, eine Continuitaͤt von Zeiterfuͤllun- gen darzuſtellen. Waͤre es moͤglich, ſo koͤnnte es nur unter der Form der ſtrengen Chronik geſchehen, denn da theilt ſich die Zeit in fortlaufende Abſchnitte. Abſtrahirt man davon und ſezt in den biographiſchen Inhalt eine Differenz zwiſchen dem, was eben wegen ſeines Inhalts mitgetheilt zu werden verdient und was nicht, ſo werden Luͤcken entſtehen. Eine ſolche Produktion wuͤrde dann als Aggregat von Einzelheiten anzuſehen ſein. Der Idee der Lebensbeſchreibung liegt die Continuitaͤt zum Grunde, weil das Leben Eins iſt. Wiewol nun die Continuitaͤt nicht unmit- telbar darſtellbar iſt, ſondern nur in der Form des Einzelnen, das ſich ſondert, ſo darf doch die Beziehung des Einzelnen auf die Continuitaͤt nicht fehlen. Dieſe Beziehung liegt nicht in der Identitaͤt des Subjects, ſondern im Zeitverlauf. Es muͤſſen alſo die Einzelheiten der Zeit nach ſo geſtellt werden, daß der Leſer die Continuitaͤt erkennen kann. Bloße Zuſammenſtellungen von Einzelheiten ohne jene Continuitaͤt ſind nur Materialien, Elemente zur Biographie. Daraus laͤßt ſich auch unmittelbar keine Bio- graphie bilden; es bleibt, ſelbſt wenn man das Einzelne der Zeit nach ſtellt und mit Verbindungsformeln verſieht, ein bloßes Aggregat, dem der innere Zuſammenhang im Zeitverlauf fehlt. Was nun unſere Evangelien betrifft, ſo zerfaͤllt jedes in zwei in dieſer Beziehung ganz verſchiedene Theile; der eine Theil, die Beſchreibung der oͤffentlichen Wirkſamkeit, beſteht aus lauter mehr und weniger aneinandergereiheten einzelnen Erzaͤhlungen, wogegen der zweite Theil, die Leidensgeſchichte, uͤberwiegend als ein Conti- nuum erſcheint. Hier war die Continuitaͤt kaum zu vermeiden. Vergleichen wir nun unſere Evangelien in Beziehung auf den

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/197
Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/197>, abgerufen am 04.12.2024.