synoptischen Verhältnisses folgt, wird die hermeneutische Lösung auch verschieden sein, aber ehe ich nicht alles Einzelne verstanden habe, darf ich auch auf das Ganze keinen sicheren Schluß machen.
Was den Johannes in seinem Verhältniß zu den drei ersten Evangelien betrifft, so ist das, was er mit diesen gemein hat, ganz anderer Art als die identischen Stellen der Synoptiker. Das sezt aber die Frage über die Zeit und den Ort der Abfassung in Beziehung auf die Genesis der Traditionen voraus. Ist dieß nun unentschieden, so darf man nicht gleich Folgerungen machen. Da Johannes von einer biographischen Idee ausging, so konnte er die vorhandenen einzelnen Erzählungen nicht so gebrauchen. Man darf nicht schließen, daß Joh., wenn er solche Materialien gehabt, sie habe nehmen müssen. Die entgegenstehende Ansicht, daß er die drei ersten Evangelien habe ergänzen wollen, ist eben so ungegründet und unsicher. Die Frage also nach der Einheit des Werkes rein hermeneutisch bei jedem besonders lösen zu wollen, ist die erste Grundlage, der nur die der historischen Kritik voran- gehen muß.
Bei der Apostelgeschichte sind die Fragen und Operationen wesentlich dieselben. Die Hauptfrage ist, ob sie mehr dem Joh. Evangelium oder mehr den synoptischen analog ist?
Was nun die didaktischen Schriften betrifft, so gestattet ihre epistolarische Form die Annahme eines gänzlichen Gehenlas- sens, also den geringsten Grad der Einheit und Bestimmtheit, so daß kein Gegensaz ist zwischen Haupt- und Nebengedanken. Ver- einzelt man die Gedanken, so erscheinen sie alle als Nebengedanken, und es wäre nur auszumitteln, wie sie gerade jezt und so und so entstanden sind. Allein die Briefform gestattet an sich auch die Möglichkeit der Annäherung an die strenge Form und Einheit; z. B. in dem eigentlichen Geschäftsbrief. Bei den didaktischen Briefen ist eine große Mannigfaltigkeit in Beziehung auf die Ein- heit denkbar. Das Minimum wäre der Entschluß des freien sich gehen lassens. Aber auf der andern Seite kann der Lehrbrief sich der strengen didaktischen und rhetorischen Form sehr nähern. Man
ſynoptiſchen Verhaͤltniſſes folgt, wird die hermeneutiſche Loͤſung auch verſchieden ſein, aber ehe ich nicht alles Einzelne verſtanden habe, darf ich auch auf das Ganze keinen ſicheren Schluß machen.
Was den Johannes in ſeinem Verhaͤltniß zu den drei erſten Evangelien betrifft, ſo iſt das, was er mit dieſen gemein hat, ganz anderer Art als die identiſchen Stellen der Synoptiker. Das ſezt aber die Frage uͤber die Zeit und den Ort der Abfaſſung in Beziehung auf die Geneſis der Traditionen voraus. Iſt dieß nun unentſchieden, ſo darf man nicht gleich Folgerungen machen. Da Johannes von einer biographiſchen Idee ausging, ſo konnte er die vorhandenen einzelnen Erzaͤhlungen nicht ſo gebrauchen. Man darf nicht ſchließen, daß Joh., wenn er ſolche Materialien gehabt, ſie habe nehmen muͤſſen. Die entgegenſtehende Anſicht, daß er die drei erſten Evangelien habe ergaͤnzen wollen, iſt eben ſo ungegruͤndet und unſicher. Die Frage alſo nach der Einheit des Werkes rein hermeneutiſch bei jedem beſonders loͤſen zu wollen, iſt die erſte Grundlage, der nur die der hiſtoriſchen Kritik voran- gehen muß.
Bei der Apoſtelgeſchichte ſind die Fragen und Operationen weſentlich dieſelben. Die Hauptfrage iſt, ob ſie mehr dem Joh. Evangelium oder mehr den ſynoptiſchen analog iſt?
Was nun die didaktiſchen Schriften betrifft, ſo geſtattet ihre epiſtolariſche Form die Annahme eines gaͤnzlichen Gehenlaſ- ſens, alſo den geringſten Grad der Einheit und Beſtimmtheit, ſo daß kein Gegenſaz iſt zwiſchen Haupt- und Nebengedanken. Ver- einzelt man die Gedanken, ſo erſcheinen ſie alle als Nebengedanken, und es waͤre nur auszumitteln, wie ſie gerade jezt und ſo und ſo entſtanden ſind. Allein die Briefform geſtattet an ſich auch die Moͤglichkeit der Annaͤherung an die ſtrenge Form und Einheit; z. B. in dem eigentlichen Geſchaͤftsbrief. Bei den didaktiſchen Briefen iſt eine große Mannigfaltigkeit in Beziehung auf die Ein- heit denkbar. Das Minimum waͤre der Entſchluß des freien ſich gehen laſſens. Aber auf der andern Seite kann der Lehrbrief ſich der ſtrengen didaktiſchen und rhetoriſchen Form ſehr naͤhern. Man
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ſynoptiſchen Verhaͤltniſſes folgt, wird die hermeneutiſche Loͤſung
auch verſchieden ſein, aber ehe ich nicht alles Einzelne verſtanden
habe, darf ich auch auf das Ganze keinen ſicheren Schluß machen.
Was den Johannes in ſeinem Verhaͤltniß zu den drei erſten
Evangelien betrifft, ſo iſt das, was er mit dieſen gemein hat,
ganz anderer Art als die identiſchen Stellen der Synoptiker. Das
ſezt aber die Frage uͤber die Zeit und den Ort der Abfaſſung in
Beziehung auf die Geneſis der Traditionen voraus. Iſt dieß
nun unentſchieden, ſo darf man nicht gleich Folgerungen machen.
Da Johannes von einer biographiſchen Idee ausging, ſo konnte
er die vorhandenen einzelnen Erzaͤhlungen nicht ſo gebrauchen.
Man darf nicht ſchließen, daß Joh., wenn er ſolche Materialien
gehabt, ſie habe nehmen muͤſſen. Die entgegenſtehende Anſicht,
daß er die drei erſten Evangelien habe ergaͤnzen wollen, iſt eben
ſo ungegruͤndet und unſicher. Die Frage alſo nach der Einheit
des Werkes rein hermeneutiſch bei jedem beſonders loͤſen zu wollen,
iſt die erſte Grundlage, der nur die der hiſtoriſchen Kritik voran-
gehen muß.
Bei der Apoſtelgeſchichte ſind die Fragen und Operationen
weſentlich dieſelben. Die Hauptfrage iſt, ob ſie mehr dem Joh.
Evangelium oder mehr den ſynoptiſchen analog iſt?
Was nun die didaktiſchen Schriften betrifft, ſo geſtattet
ihre epiſtolariſche Form die Annahme eines gaͤnzlichen Gehenlaſ-
ſens, alſo den geringſten Grad der Einheit und Beſtimmtheit, ſo
daß kein Gegenſaz iſt zwiſchen Haupt- und Nebengedanken. Ver-
einzelt man die Gedanken, ſo erſcheinen ſie alle als Nebengedanken,
und es waͤre nur auszumitteln, wie ſie gerade jezt und ſo und ſo
entſtanden ſind. Allein die Briefform geſtattet an ſich auch die
Moͤglichkeit der Annaͤherung an die ſtrenge Form und Einheit;
z. B. in dem eigentlichen Geſchaͤftsbrief. Bei den didaktiſchen
Briefen iſt eine große Mannigfaltigkeit in Beziehung auf die Ein-
heit denkbar. Das Minimum waͤre der Entſchluß des freien ſich
gehen laſſens. Aber auf der andern Seite kann der Lehrbrief ſich
der ſtrengen didaktiſchen und rhetoriſchen Form ſehr naͤhern. Man
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/199>, abgerufen am 04.12.2024.
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