und verändert sich nichts bedeutend und erfolgt der Akt des Schreibens in möglichster Schnelligkeit, so ist dieser das Ausein- anderlegen jenes Moments. Sagen wir aber, daß eine bedeu- tende Veränderung im Zustande des Schreibenden vorgeht, so werden Elemente aus dieser Veränderung in die Schrift kommen, ohne daß der Schreibende vielleicht diese Veränderung erwähnt. Der Wille ist alterirt und überträgt sich auf den gegenwärtigen Zustand und läßt den vorigen fallen. Denken wir uns, daß verschiedene Zustände in dem Akte des Schreibers größere Zeiträume ausfüllen, so werden sich die darauf bezüglichen Massen sondern, besonders für den Leser. Eben deßwegen wird der Schreibende selbst diese als verschiedene Absäze sondern, und bemerkt er dabei die Zeitdifferenz, so ist eine solche Mittheilung eine briefliche. Sie ist Wirkung der veränderten Zustände und Mittheilung derselben. Die briefliche Form bleibt, nur ist die Einheit eine andere gewor- den; ja sie kann bei aller Erweiterung der Gedanken in ihrer Wahrheit bleiben, auch wenn sie den äußeren Umfang eines Bu- ches erhält.
Fragen wir nun in Beziehung auf den didaktischen Inhalt der neutestam. Briefe, ob die briefliche Mittheilung des Didakti- schen den Umfang eines Buches erhalten könne? Nein! denn man kann im Didaktischen nicht Gedankenreihen von verschiedenem Inhalt als Eins hinstellen, sondern entweder ist die Analogie mit einem didaktischen Buche da, und dann ist die Wahrheit der Brief- form aufgehoben, oder die Wahrheit der brieflichen Form ist da, dann aber kann das Werk auch nur einen geringeren Umfang haben. Der der Briefform eigenthümliche Umfang aber wird dadurch bestimmt, daß es für den, der liest, ein fortlaufender Akt sein soll. Geht der Brief darüber hinaus, so hört auch die Briefform in der That auf. Kann ein Werk nicht in einem Striche fort- gelesen werden, so ist Grund zur Theilung da, mit der Theilung aber ist die Wahrheit der Briefform aufgehoben, und wir haben ein Buch in äußerer Briefform. Hier giebt es Übergänge, die sich in der Erscheinung ziemlich genau fixiren lassen.
Hermeneutik u. Kritik. 12
und veraͤndert ſich nichts bedeutend und erfolgt der Akt des Schreibens in moͤglichſter Schnelligkeit, ſo iſt dieſer das Ausein- anderlegen jenes Moments. Sagen wir aber, daß eine bedeu- tende Veraͤnderung im Zuſtande des Schreibenden vorgeht, ſo werden Elemente aus dieſer Veraͤnderung in die Schrift kommen, ohne daß der Schreibende vielleicht dieſe Veraͤnderung erwaͤhnt. Der Wille iſt alterirt und uͤbertraͤgt ſich auf den gegenwaͤrtigen Zuſtand und laͤßt den vorigen fallen. Denken wir uns, daß verſchiedene Zuſtaͤnde in dem Akte des Schreibers groͤßere Zeitraͤume ausfuͤllen, ſo werden ſich die darauf bezuͤglichen Maſſen ſondern, beſonders fuͤr den Leſer. Eben deßwegen wird der Schreibende ſelbſt dieſe als verſchiedene Abſaͤze ſondern, und bemerkt er dabei die Zeitdifferenz, ſo iſt eine ſolche Mittheilung eine briefliche. Sie iſt Wirkung der veraͤnderten Zuſtaͤnde und Mittheilung derſelben. Die briefliche Form bleibt, nur iſt die Einheit eine andere gewor- den; ja ſie kann bei aller Erweiterung der Gedanken in ihrer Wahrheit bleiben, auch wenn ſie den aͤußeren Umfang eines Bu- ches erhaͤlt.
Fragen wir nun in Beziehung auf den didaktiſchen Inhalt der neuteſtam. Briefe, ob die briefliche Mittheilung des Didakti- ſchen den Umfang eines Buches erhalten koͤnne? Nein! denn man kann im Didaktiſchen nicht Gedankenreihen von verſchiedenem Inhalt als Eins hinſtellen, ſondern entweder iſt die Analogie mit einem didaktiſchen Buche da, und dann iſt die Wahrheit der Brief- form aufgehoben, oder die Wahrheit der brieflichen Form iſt da, dann aber kann das Werk auch nur einen geringeren Umfang haben. Der der Briefform eigenthuͤmliche Umfang aber wird dadurch beſtimmt, daß es fuͤr den, der lieſt, ein fortlaufender Akt ſein ſoll. Geht der Brief daruͤber hinaus, ſo hoͤrt auch die Briefform in der That auf. Kann ein Werk nicht in einem Striche fort- geleſen werden, ſo iſt Grund zur Theilung da, mit der Theilung aber iſt die Wahrheit der Briefform aufgehoben, und wir haben ein Buch in aͤußerer Briefform. Hier giebt es Übergaͤnge, die ſich in der Erſcheinung ziemlich genau fixiren laſſen.
Hermeneutik u. Kritik. 12
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und veraͤndert ſich nichts bedeutend und erfolgt der Akt des
Schreibens in moͤglichſter Schnelligkeit, ſo iſt dieſer das Ausein-
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tende Veraͤnderung im Zuſtande des Schreibenden vorgeht, ſo
werden Elemente aus dieſer Veraͤnderung in die Schrift kommen,
ohne daß der Schreibende vielleicht dieſe Veraͤnderung erwaͤhnt.
Der Wille iſt alterirt und uͤbertraͤgt ſich auf den gegenwaͤrtigen
Zuſtand und laͤßt den vorigen fallen. Denken wir uns, daß
verſchiedene Zuſtaͤnde in dem Akte des Schreibers groͤßere Zeitraͤume
ausfuͤllen, ſo werden ſich die darauf bezuͤglichen Maſſen ſondern,
beſonders fuͤr den Leſer. Eben deßwegen wird der Schreibende
ſelbſt dieſe als verſchiedene Abſaͤze ſondern, und bemerkt er dabei die
Zeitdifferenz, ſo iſt eine ſolche Mittheilung eine briefliche. Sie
iſt Wirkung der veraͤnderten Zuſtaͤnde und Mittheilung derſelben.
Die briefliche Form bleibt, nur iſt die Einheit eine andere gewor-
den; ja ſie kann bei aller Erweiterung der Gedanken in ihrer
Wahrheit bleiben, auch wenn ſie den aͤußeren Umfang eines Bu-
ches erhaͤlt.
Fragen wir nun in Beziehung auf den didaktiſchen Inhalt
der neuteſtam. Briefe, ob die briefliche Mittheilung des Didakti-
ſchen den Umfang eines Buches erhalten koͤnne? Nein! denn
man kann im Didaktiſchen nicht Gedankenreihen von verſchiedenem
Inhalt als Eins hinſtellen, ſondern entweder iſt die Analogie mit
einem didaktiſchen Buche da, und dann iſt die Wahrheit der Brief-
form aufgehoben, oder die Wahrheit der brieflichen Form iſt da,
dann aber kann das Werk auch nur einen geringeren Umfang
haben. Der der Briefform eigenthuͤmliche Umfang aber wird dadurch
beſtimmt, daß es fuͤr den, der lieſt, ein fortlaufender Akt ſein
ſoll. Geht der Brief daruͤber hinaus, ſo hoͤrt auch die Briefform
in der That auf. Kann ein Werk nicht in einem Striche fort-
geleſen werden, ſo iſt Grund zur Theilung da, mit der Theilung
aber iſt die Wahrheit der Briefform aufgehoben, und wir haben
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 177. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/201>, abgerufen am 04.12.2024.
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