wir sagen, es giebt in der ersten Entwicklung des Einzelnen, die wir Meditation nennen, ein Fortschreiten, welches mehr an der Leitung des Allgemeinen geht, und ein Fortschreiten, welches mehr unmittelbar das Einzelne producirt. Dann wird das Erste immer gleich die Form bestimmen, und es wird da ein Wechsel sein zwi- schen dem Werden des Einzelnen und dem der Form. Das Ein- zelne wird im Zusammenhange nur mit seiner Stelle gefunden. Dagegen wird der einzelne Inhalt, der nur den Charakter des Einzelnen hat, für sich gefunden, wo dann mannigfaltige Zusam- menstellungen möglich sind. Das Ganze wird ein Anderes sein, wenn es auf die eine oder andere Weise verstanden wird, also mehr in Beziehung auf die Form oder in Beziehung auf den ein- zelnen Inhalt. Aber es folgt, daß wir es vollkommen nur ver- stehen können, wenn wir die Genesis verstehen. Daher die uner- laßliche Aufgabe, jede Produktion, welche Gegenstand der Herme- neutik sein kann, in jener zweifachen Beziehung zu verstehen. Sobald man sich mehr an das eine oder andere hält, wird die Lösung der Aufgabe unvollkommen sein. Es wird freilich bei dieser Aufgabe Jeder durch sich selbst eine vorherrschende Richtung auf das eine oder andere haben. Wir wollen alle die Darstellung der Gedanken eines Andern in Beziehung auf unsre eigenen ver- stehen. Dann kann die Folge Aneignung oder Abstoßung sein. Daher wird die Art der hermeneutischen Operation sich nach der eigenen Gedankenentwicklung bestimmen. Es giebt viele, die sich, wenn sie lesen, aus der Form nichts machen und nur auf den Inhalt sehen. Dabei ist ein unordentliches Verfahren möglich. Denke ich den Inhalt von der Form gesondert, so kann ich überall anfangen, weil ich ihn als Aggregat von Einzelheiten ansehe. Manche Arten von Darstellungen ertragen das eher, als andere. Es giebt aber auch Leser, die es überwiegend auf die Form an- legen. Dabei ist denn gewöhnlich im Hinterhalt, daß man denkt, sich aus der Form und einzelnen Punkten das Ganze bilden zu können in dem Maaße, in welchem man das Ganze nöthig hat. Aber in der That sobald bei dem Verstehenwollen die Richtung
wir ſagen, es giebt in der erſten Entwicklung des Einzelnen, die wir Meditation nennen, ein Fortſchreiten, welches mehr an der Leitung des Allgemeinen geht, und ein Fortſchreiten, welches mehr unmittelbar das Einzelne producirt. Dann wird das Erſte immer gleich die Form beſtimmen, und es wird da ein Wechſel ſein zwi- ſchen dem Werden des Einzelnen und dem der Form. Das Ein- zelne wird im Zuſammenhange nur mit ſeiner Stelle gefunden. Dagegen wird der einzelne Inhalt, der nur den Charakter des Einzelnen hat, fuͤr ſich gefunden, wo dann mannigfaltige Zuſam- menſtellungen moͤglich ſind. Das Ganze wird ein Anderes ſein, wenn es auf die eine oder andere Weiſe verſtanden wird, alſo mehr in Beziehung auf die Form oder in Beziehung auf den ein- zelnen Inhalt. Aber es folgt, daß wir es vollkommen nur ver- ſtehen koͤnnen, wenn wir die Geneſis verſtehen. Daher die uner- laßliche Aufgabe, jede Produktion, welche Gegenſtand der Herme- neutik ſein kann, in jener zweifachen Beziehung zu verſtehen. Sobald man ſich mehr an das eine oder andere haͤlt, wird die Loͤſung der Aufgabe unvollkommen ſein. Es wird freilich bei dieſer Aufgabe Jeder durch ſich ſelbſt eine vorherrſchende Richtung auf das eine oder andere haben. Wir wollen alle die Darſtellung der Gedanken eines Andern in Beziehung auf unſre eigenen ver- ſtehen. Dann kann die Folge Aneignung oder Abſtoßung ſein. Daher wird die Art der hermeneutiſchen Operation ſich nach der eigenen Gedankenentwicklung beſtimmen. Es giebt viele, die ſich, wenn ſie leſen, aus der Form nichts machen und nur auf den Inhalt ſehen. Dabei iſt ein unordentliches Verfahren moͤglich. Denke ich den Inhalt von der Form geſondert, ſo kann ich uͤberall anfangen, weil ich ihn als Aggregat von Einzelheiten anſehe. Manche Arten von Darſtellungen ertragen das eher, als andere. Es giebt aber auch Leſer, die es uͤberwiegend auf die Form an- legen. Dabei iſt denn gewoͤhnlich im Hinterhalt, daß man denkt, ſich aus der Form und einzelnen Punkten das Ganze bilden zu koͤnnen in dem Maaße, in welchem man das Ganze noͤthig hat. Aber in der That ſobald bei dem Verſtehenwollen die Richtung
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wir ſagen, es giebt in der erſten Entwicklung des Einzelnen, die
wir Meditation nennen, ein Fortſchreiten, welches mehr an der
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unmittelbar das Einzelne producirt. Dann wird das Erſte immer
gleich die Form beſtimmen, und es wird da ein Wechſel ſein zwi-
ſchen dem Werden des Einzelnen und dem der Form. Das Ein-
zelne wird im Zuſammenhange nur mit ſeiner Stelle gefunden.
Dagegen wird der einzelne Inhalt, der nur den Charakter des
Einzelnen hat, fuͤr ſich gefunden, wo dann mannigfaltige Zuſam-
menſtellungen moͤglich ſind. Das Ganze wird ein Anderes ſein,
wenn es auf die eine oder andere Weiſe verſtanden wird, alſo
mehr in Beziehung auf die Form oder in Beziehung auf den ein-
zelnen Inhalt. Aber es folgt, daß wir es vollkommen nur ver-
ſtehen koͤnnen, wenn wir die Geneſis verſtehen. Daher die uner-
laßliche Aufgabe, jede Produktion, welche Gegenſtand der Herme-
neutik ſein kann, in jener zweifachen Beziehung zu verſtehen.
Sobald man ſich mehr an das eine oder andere haͤlt, wird die
Loͤſung der Aufgabe unvollkommen ſein. Es wird freilich bei
dieſer Aufgabe Jeder durch ſich ſelbſt eine vorherrſchende Richtung
auf das eine oder andere haben. Wir wollen alle die Darſtellung
der Gedanken eines Andern in Beziehung auf unſre eigenen ver-
ſtehen. Dann kann die Folge Aneignung oder Abſtoßung ſein.
Daher wird die Art der hermeneutiſchen Operation ſich nach der
eigenen Gedankenentwicklung beſtimmen. Es giebt viele, die ſich,
wenn ſie leſen, aus der Form nichts machen und nur auf den
Inhalt ſehen. Dabei iſt ein unordentliches Verfahren moͤglich.
Denke ich den Inhalt von der Form geſondert, ſo kann ich uͤberall
anfangen, weil ich ihn als Aggregat von Einzelheiten anſehe.
Manche Arten von Darſtellungen ertragen das eher, als andere.
Es giebt aber auch Leſer, die es uͤberwiegend auf die Form an-
legen. Dabei iſt denn gewoͤhnlich im Hinterhalt, daß man denkt,
ſich aus der Form und einzelnen Punkten das Ganze bilden zu
koͤnnen in dem Maaße, in welchem man das Ganze noͤthig hat.
Aber in der That ſobald bei dem Verſtehenwollen die Richtung
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/228>, abgerufen am 04.12.2024.
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