Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

ist, dann je mehr die Gedankenentwicklung objectiv ist, desto mehr
das im ersten Keim Gesezte das Einzelne ist, das als Gedanke
hervortritt, je mehr aber die Gedankenentwicklung subjectiv ist,
desto mehr das im Keime liegende der Ton ist und die verschie-
denen Modificationen des Tones, in denen sich das Ganze bewegt.
In dem Falle aber, daß der Impuls mehr Formel ist, trägt er
mehr die Verhältnisse in sich, und eben weil diese durch die An-
ordnung zur Darstellung kommen, enthält er auch mehr die Keime
der Composition, als die des einzelnen Inhalts. Aber beides
muß sich gegenseitig suchen, so daß wir aus der Composition das
Einzelne des Inhalts erkennen, und, indem sich das Einzelne
mehr entwickelt, wird, wenn es vollständig gegeben ist, auch die
Composition mitgegeben sein. -- Aber wie stimmt dieß mit der
Unterscheidung zwischen Meditation und Composition? Dabei war
das Grundprincip, daß wir erst von dem Impuls aus das Ein-
zelne erfassen, und dann die richtige Stellung, nach der alles,
was derselben nicht entspricht, ausgeschieden ist. Ist es aber mög-
lich, daß der erste Impuls die Composition mehr in sich trägt,
so müßte da auch der umgekehrte Weg eingeschlagen werden.
Wie ist dieß? Wenn wir einen allgemeinen aber realen Begriff
haben, so finden wir darin immer schon mit Leichtigkeit die An-
deutung auf weitere Theilung. Aber wenn wir sagen wollten,
durch die bloße Theilung gelangten wir zu allem Einzelnen, so
wäre das unwahr, wir würden nur einen Typus finden. So
können wir uns wol eine innere Entwicklung der Composition
von der allgemeinen Formel des Ganzen aus denken, aber das
Einzelne kann dadurch auf keine Weise gefunden werden. Sehen
wir vorerst ab von der subjectiven Richtung im ersten Impuls,
welche ein spezifisches Talent voraussezt, und halten uns an das
Allgemeinere, Verbreitetere, so können wir einen quantitativen Un-
terschied wahrnehmen zwischen der Thätigkeit, wodurch der ur-
sprüngliche Keim seinem Inhalte nach sich näher ertwickelt, und
der, wodurch der Inhalt seine Form bekommt. Nehmen wir
dann das Subjective als untergeordnet wieder auf, so können

iſt, dann je mehr die Gedankenentwicklung objectiv iſt, deſto mehr
das im erſten Keim Geſezte das Einzelne iſt, das als Gedanke
hervortritt, je mehr aber die Gedankenentwicklung ſubjectiv iſt,
deſto mehr das im Keime liegende der Ton iſt und die verſchie-
denen Modificationen des Tones, in denen ſich das Ganze bewegt.
In dem Falle aber, daß der Impuls mehr Formel iſt, traͤgt er
mehr die Verhaͤltniſſe in ſich, und eben weil dieſe durch die An-
ordnung zur Darſtellung kommen, enthaͤlt er auch mehr die Keime
der Compoſition, als die des einzelnen Inhalts. Aber beides
muß ſich gegenſeitig ſuchen, ſo daß wir aus der Compoſition das
Einzelne des Inhalts erkennen, und, indem ſich das Einzelne
mehr entwickelt, wird, wenn es vollſtaͤndig gegeben iſt, auch die
Compoſition mitgegeben ſein. — Aber wie ſtimmt dieß mit der
Unterſcheidung zwiſchen Meditation und Compoſition? Dabei war
das Grundprincip, daß wir erſt von dem Impuls aus das Ein-
zelne erfaſſen, und dann die richtige Stellung, nach der alles,
was derſelben nicht entſpricht, ausgeſchieden iſt. Iſt es aber moͤg-
lich, daß der erſte Impuls die Compoſition mehr in ſich traͤgt,
ſo muͤßte da auch der umgekehrte Weg eingeſchlagen werden.
Wie iſt dieß? Wenn wir einen allgemeinen aber realen Begriff
haben, ſo finden wir darin immer ſchon mit Leichtigkeit die An-
deutung auf weitere Theilung. Aber wenn wir ſagen wollten,
durch die bloße Theilung gelangten wir zu allem Einzelnen, ſo
waͤre das unwahr, wir wuͤrden nur einen Typus finden. So
koͤnnen wir uns wol eine innere Entwicklung der Compoſition
von der allgemeinen Formel des Ganzen aus denken, aber das
Einzelne kann dadurch auf keine Weiſe gefunden werden. Sehen
wir vorerſt ab von der ſubjectiven Richtung im erſten Impuls,
welche ein ſpezifiſches Talent vorausſezt, und halten uns an das
Allgemeinere, Verbreitetere, ſo koͤnnen wir einen quantitativen Un-
terſchied wahrnehmen zwiſchen der Thaͤtigkeit, wodurch der ur-
ſpruͤngliche Keim ſeinem Inhalte nach ſich naͤher ertwickelt, und
der, wodurch der Inhalt ſeine Form bekommt. Nehmen wir
dann das Subjective als untergeordnet wieder auf, ſo koͤnnen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0227" n="203"/>
i&#x017F;t, dann je mehr die Gedankenentwicklung objectiv i&#x017F;t, de&#x017F;to mehr<lb/>
das im er&#x017F;ten Keim Ge&#x017F;ezte das Einzelne i&#x017F;t, das als Gedanke<lb/>
hervortritt, je mehr aber die Gedankenentwicklung &#x017F;ubjectiv i&#x017F;t,<lb/>
de&#x017F;to mehr das im Keime liegende der Ton i&#x017F;t und die ver&#x017F;chie-<lb/>
denen Modificationen des Tones, in denen &#x017F;ich das Ganze bewegt.<lb/>
In dem Falle aber, daß der Impuls mehr Formel i&#x017F;t, tra&#x0364;gt er<lb/>
mehr die Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e in &#x017F;ich, und eben weil die&#x017F;e durch die An-<lb/>
ordnung zur Dar&#x017F;tellung kommen, entha&#x0364;lt er auch mehr die Keime<lb/>
der Compo&#x017F;ition, als die des einzelnen Inhalts. Aber beides<lb/>
muß &#x017F;ich gegen&#x017F;eitig &#x017F;uchen, &#x017F;o daß wir aus der Compo&#x017F;ition das<lb/>
Einzelne des Inhalts erkennen, und, indem &#x017F;ich das Einzelne<lb/>
mehr entwickelt, wird, wenn es voll&#x017F;ta&#x0364;ndig gegeben i&#x017F;t, auch die<lb/>
Compo&#x017F;ition mitgegeben &#x017F;ein. &#x2014; Aber wie &#x017F;timmt dieß mit der<lb/>
Unter&#x017F;cheidung zwi&#x017F;chen Meditation und Compo&#x017F;ition? Dabei war<lb/>
das Grundprincip, daß wir er&#x017F;t von dem Impuls aus das Ein-<lb/>
zelne erfa&#x017F;&#x017F;en, und dann die richtige Stellung, nach der alles,<lb/>
was der&#x017F;elben nicht ent&#x017F;pricht, ausge&#x017F;chieden i&#x017F;t. I&#x017F;t es aber mo&#x0364;g-<lb/>
lich, daß der er&#x017F;te Impuls die Compo&#x017F;ition mehr in &#x017F;ich tra&#x0364;gt,<lb/>
&#x017F;o mu&#x0364;ßte da auch der umgekehrte Weg einge&#x017F;chlagen werden.<lb/>
Wie i&#x017F;t dieß? Wenn wir einen allgemeinen aber realen Begriff<lb/>
haben, &#x017F;o finden wir darin immer &#x017F;chon mit Leichtigkeit die An-<lb/>
deutung auf weitere Theilung. Aber wenn wir &#x017F;agen wollten,<lb/>
durch die bloße Theilung gelangten wir zu allem Einzelnen, &#x017F;o<lb/>
wa&#x0364;re das unwahr, wir wu&#x0364;rden nur einen Typus finden. So<lb/>
ko&#x0364;nnen wir uns wol eine innere Entwicklung der Compo&#x017F;ition<lb/>
von der allgemeinen Formel des Ganzen aus denken, aber das<lb/>
Einzelne kann dadurch auf keine Wei&#x017F;e gefunden werden. Sehen<lb/>
wir vorer&#x017F;t ab von der &#x017F;ubjectiven Richtung im er&#x017F;ten Impuls,<lb/>
welche ein &#x017F;pezifi&#x017F;ches Talent voraus&#x017F;ezt, und halten uns an das<lb/>
Allgemeinere, Verbreitetere, &#x017F;o ko&#x0364;nnen wir einen quantitativen Un-<lb/>
ter&#x017F;chied wahrnehmen zwi&#x017F;chen der Tha&#x0364;tigkeit, wodurch der ur-<lb/>
&#x017F;pru&#x0364;ngliche Keim &#x017F;einem Inhalte nach &#x017F;ich na&#x0364;her ertwickelt, und<lb/>
der, wodurch der Inhalt &#x017F;eine Form bekommt. Nehmen wir<lb/>
dann das Subjective als untergeordnet wieder auf, &#x017F;o ko&#x0364;nnen<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[203/0227] iſt, dann je mehr die Gedankenentwicklung objectiv iſt, deſto mehr das im erſten Keim Geſezte das Einzelne iſt, das als Gedanke hervortritt, je mehr aber die Gedankenentwicklung ſubjectiv iſt, deſto mehr das im Keime liegende der Ton iſt und die verſchie- denen Modificationen des Tones, in denen ſich das Ganze bewegt. In dem Falle aber, daß der Impuls mehr Formel iſt, traͤgt er mehr die Verhaͤltniſſe in ſich, und eben weil dieſe durch die An- ordnung zur Darſtellung kommen, enthaͤlt er auch mehr die Keime der Compoſition, als die des einzelnen Inhalts. Aber beides muß ſich gegenſeitig ſuchen, ſo daß wir aus der Compoſition das Einzelne des Inhalts erkennen, und, indem ſich das Einzelne mehr entwickelt, wird, wenn es vollſtaͤndig gegeben iſt, auch die Compoſition mitgegeben ſein. — Aber wie ſtimmt dieß mit der Unterſcheidung zwiſchen Meditation und Compoſition? Dabei war das Grundprincip, daß wir erſt von dem Impuls aus das Ein- zelne erfaſſen, und dann die richtige Stellung, nach der alles, was derſelben nicht entſpricht, ausgeſchieden iſt. Iſt es aber moͤg- lich, daß der erſte Impuls die Compoſition mehr in ſich traͤgt, ſo muͤßte da auch der umgekehrte Weg eingeſchlagen werden. Wie iſt dieß? Wenn wir einen allgemeinen aber realen Begriff haben, ſo finden wir darin immer ſchon mit Leichtigkeit die An- deutung auf weitere Theilung. Aber wenn wir ſagen wollten, durch die bloße Theilung gelangten wir zu allem Einzelnen, ſo waͤre das unwahr, wir wuͤrden nur einen Typus finden. So koͤnnen wir uns wol eine innere Entwicklung der Compoſition von der allgemeinen Formel des Ganzen aus denken, aber das Einzelne kann dadurch auf keine Weiſe gefunden werden. Sehen wir vorerſt ab von der ſubjectiven Richtung im erſten Impuls, welche ein ſpezifiſches Talent vorausſezt, und halten uns an das Allgemeinere, Verbreitetere, ſo koͤnnen wir einen quantitativen Un- terſchied wahrnehmen zwiſchen der Thaͤtigkeit, wodurch der ur- ſpruͤngliche Keim ſeinem Inhalte nach ſich naͤher ertwickelt, und der, wodurch der Inhalt ſeine Form bekommt. Nehmen wir dann das Subjective als untergeordnet wieder auf, ſo koͤnnen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/227
Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/227>, abgerufen am 04.12.2024.