die Gedanken die ich vermisse dem Verfasser vorgeschwebt, er aber Gründe gehabt hat, sie nicht aufzunehmen, noch auch Beziehung darauf zu nehmen. Das kann im ersten Willensakte liegen, z. B. wenn er nicht polemisch sein wollte. Doch ist es wichtig zu wissen, ob jene Gedanken dem Verfasser vorgeschwebt haben oder nicht. Denn darnach gewinnt sein Gedankencomplexus eine andere Be- deutung. Im lezteren Falle wird der Werth desselben verringert, im ersten Falle das Interesse, in die Gründe seines Verfahrens genauer einzugehen, erhöhet. Diese Aufgabe aber ist eben so schwierig, als interessant. Das Interesse aber ist hier wieder ver- schieden, jedoch in umgekehrter Richtung. Je mehr der ganze Gedankencomplexus dem Inhalte nach gebunden ist, um so größer ist das Interesse von dieser Seite, je weniger um so geringer. Ist der Gedankencomplexus nur eben ein Aggregat von Einzeln- heiten, so verschwindet das Interesse, und die Frage, was der Verfasser noch außerdem gedacht habe, liegt ganz außer der her- meneutischen Aufgabe. --
In den synoptischen Evangelien fehlt z. B. die Geschichte von der Auferweckung des Lazarus. Als nächste Veranlassung zur lezten Katastrophe, wie sie Johannes darstellt, ist sie von gro- ßer Bedeutung. Denken wir uns, daß die drei ersten Evangelien eine Lebensbeschreibung Christi haben geben wollen, so ist die Frage, wie sie dazu gekommen sind, sie auszulassen, oder ob sie dieselbige nicht gekannt haben? Allein da sie offenbar mehr nur Aneinanderreihungen einzelner Erzählungen sind, so verliert jene Frage das hermeneutische Interesse und behält nur das kritische, nemlich ob und wie die Erzählung so wenig allgemein geworden, daß sie in die gemeinschaftliche Quelle nicht gekommen ist. So sieht man, wie das Interesse an einem gebundenen Ganzen ein ganz anderes ist, als an einem ungebundenen.
Fassen wir nun das Bisherige zusammen, so haben wir zwiefaches Interesse, die Meditation eines Schriftstellers in ihrer Totalität, abgesondert davon, was in die Composition eingegangen ist, kennen zu lernen, nemlich auf der einen Seite, wie seine Dar-
Hermeneutik u. Kritik. 14
die Gedanken die ich vermiſſe dem Verfaſſer vorgeſchwebt, er aber Gruͤnde gehabt hat, ſie nicht aufzunehmen, noch auch Beziehung darauf zu nehmen. Das kann im erſten Willensakte liegen, z. B. wenn er nicht polemiſch ſein wollte. Doch iſt es wichtig zu wiſſen, ob jene Gedanken dem Verfaſſer vorgeſchwebt haben oder nicht. Denn darnach gewinnt ſein Gedankencomplexus eine andere Be- deutung. Im lezteren Falle wird der Werth deſſelben verringert, im erſten Falle das Intereſſe, in die Gruͤnde ſeines Verfahrens genauer einzugehen, erhoͤhet. Dieſe Aufgabe aber iſt eben ſo ſchwierig, als intereſſant. Das Intereſſe aber iſt hier wieder ver- ſchieden, jedoch in umgekehrter Richtung. Je mehr der ganze Gedankencomplexus dem Inhalte nach gebunden iſt, um ſo groͤßer iſt das Intereſſe von dieſer Seite, je weniger um ſo geringer. Iſt der Gedankencomplexus nur eben ein Aggregat von Einzeln- heiten, ſo verſchwindet das Intereſſe, und die Frage, was der Verfaſſer noch außerdem gedacht habe, liegt ganz außer der her- meneutiſchen Aufgabe. —
In den ſynoptiſchen Evangelien fehlt z. B. die Geſchichte von der Auferweckung des Lazarus. Als naͤchſte Veranlaſſung zur lezten Kataſtrophe, wie ſie Johannes darſtellt, iſt ſie von gro- ßer Bedeutung. Denken wir uns, daß die drei erſten Evangelien eine Lebensbeſchreibung Chriſti haben geben wollen, ſo iſt die Frage, wie ſie dazu gekommen ſind, ſie auszulaſſen, oder ob ſie dieſelbige nicht gekannt haben? Allein da ſie offenbar mehr nur Aneinanderreihungen einzelner Erzaͤhlungen ſind, ſo verliert jene Frage das hermeneutiſche Intereſſe und behaͤlt nur das kritiſche, nemlich ob und wie die Erzaͤhlung ſo wenig allgemein geworden, daß ſie in die gemeinſchaftliche Quelle nicht gekommen iſt. So ſieht man, wie das Intereſſe an einem gebundenen Ganzen ein ganz anderes iſt, als an einem ungebundenen.
Faſſen wir nun das Bisherige zuſammen, ſo haben wir zwiefaches Intereſſe, die Meditation eines Schriftſtellers in ihrer Totalitaͤt, abgeſondert davon, was in die Compoſition eingegangen iſt, kennen zu lernen, nemlich auf der einen Seite, wie ſeine Dar-
Hermeneutik u. Kritik. 14
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die Gedanken die ich vermiſſe dem Verfaſſer vorgeſchwebt, er aber
Gruͤnde gehabt hat, ſie nicht aufzunehmen, noch auch Beziehung
darauf zu nehmen. Das kann im erſten Willensakte liegen, z. B.
wenn er nicht polemiſch ſein wollte. Doch iſt es wichtig zu wiſſen,
ob jene Gedanken dem Verfaſſer vorgeſchwebt haben oder nicht.
Denn darnach gewinnt ſein Gedankencomplexus eine andere Be-
deutung. Im lezteren Falle wird der Werth deſſelben verringert,
im erſten Falle das Intereſſe, in die Gruͤnde ſeines Verfahrens
genauer einzugehen, erhoͤhet. Dieſe Aufgabe aber iſt eben ſo
ſchwierig, als intereſſant. Das Intereſſe aber iſt hier wieder ver-
ſchieden, jedoch in umgekehrter Richtung. Je mehr der ganze
Gedankencomplexus dem Inhalte nach gebunden iſt, um ſo groͤßer
iſt das Intereſſe von dieſer Seite, je weniger um ſo geringer.
Iſt der Gedankencomplexus nur eben ein Aggregat von Einzeln-
heiten, ſo verſchwindet das Intereſſe, und die Frage, was der
Verfaſſer noch außerdem gedacht habe, liegt ganz außer der her-
meneutiſchen Aufgabe. —
In den ſynoptiſchen Evangelien fehlt z. B. die Geſchichte
von der Auferweckung des Lazarus. Als naͤchſte Veranlaſſung
zur lezten Kataſtrophe, wie ſie Johannes darſtellt, iſt ſie von gro-
ßer Bedeutung. Denken wir uns, daß die drei erſten Evangelien
eine Lebensbeſchreibung Chriſti haben geben wollen, ſo iſt die
Frage, wie ſie dazu gekommen ſind, ſie auszulaſſen, oder ob ſie
dieſelbige nicht gekannt haben? Allein da ſie offenbar mehr nur
Aneinanderreihungen einzelner Erzaͤhlungen ſind, ſo verliert jene
Frage das hermeneutiſche Intereſſe und behaͤlt nur das kritiſche,
nemlich ob und wie die Erzaͤhlung ſo wenig allgemein geworden,
daß ſie in die gemeinſchaftliche Quelle nicht gekommen iſt. So
ſieht man, wie das Intereſſe an einem gebundenen Ganzen ein
ganz anderes iſt, als an einem ungebundenen.
Faſſen wir nun das Bisherige zuſammen, ſo haben wir zwiefaches
Intereſſe, die Meditation eines Schriftſtellers in ihrer Totalitaͤt,
abgeſondert davon, was in die Compoſition eingegangen iſt,
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/233>, abgerufen am 04.12.2024.
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