Logischen ganz untergeordnet. Je mehr die Composition die Ge- danken ohne alles andere Interesse anschließt, desto mehr ist sie ursprünglich Eins mit ihnen, also auch der Unterschied zwischen ihm und der Meditation Null. Dieser Unterschied kann nicht darin bestehen, daß man sollte ausmitteln wollen, in welcher Zeit- folge die einzelnen Gedanken des Schriftstellers entstanden sind. Dieß ist durch die Composition selbst ein so verschwindendes, daß nur einzelne wenige Fälle sind, wo darüber etwas auszumitteln ist. Wenn dieß also nicht gemeint sein kann, sondern nur der Unter- schied, der in Beziehung auf die früher vorhandenen Elemente durch die Composition entsteht, so ist davon auf dem wissenschaft- lichen Gebiete das Wenigste zu erwarten, weil auf demselben die Ausdrücke nicht alterirt werden können ohne die Gedanken selbst zu alteriren.
Dieß ist indeß nur die eine Seite des hermeneutischen In- teresses. Die andere Seite führt auf ganz andere Differenzen. Nemlich wenn wir einen Complexus von Gedanken vor uns haben, der Gegenstand sei welcher er wolle, so werden wir darin niemals den Gegenstand erschöpft nennen. Vielmehr werden jedem, der im Lesen in einem wirklichen Aneignungsprocesse begriffen ist, Ge- danken einfallen, die in dasselbe Gebiet gehören, aber dort sich nicht finden, oder die mit den in der Schrift ausgedrückten in Widerspruch stehen. Da ist denn das Interesse zu wissen, ob der Schriftsteller dieselben gar nicht gehabt, oder wissentlich ausgelassen. Zum vollen Verstehen gehört offenbar beides zu wissen, sowol was ich vermisse, als was ich im Schriftsteller mit meinen Ge- danken über den Gegenstand in Widerspruch finde. Nimmt der Schriftsteller Rücksicht darauf, dann muß auf den Grund der Differenz zurückgegangen werden. Nimmt er keine Beziehung darauf, so ist es problematisch, aber es entsteht die Aufgabe, eben dieß wo möglich auszumitteln. Da ist denn das Interesse, die Meditation des Schriftstellers so vollständig wie möglich an und für sich übersehen zu können, auch in Beziehung auf das, was in die Composition nicht aufgenommen ist. Es ist möglich, daß
Logiſchen ganz untergeordnet. Je mehr die Compoſition die Ge- danken ohne alles andere Intereſſe anſchließt, deſto mehr iſt ſie urſpruͤnglich Eins mit ihnen, alſo auch der Unterſchied zwiſchen ihm und der Meditation Null. Dieſer Unterſchied kann nicht darin beſtehen, daß man ſollte ausmitteln wollen, in welcher Zeit- folge die einzelnen Gedanken des Schriftſtellers entſtanden ſind. Dieß iſt durch die Compoſition ſelbſt ein ſo verſchwindendes, daß nur einzelne wenige Faͤlle ſind, wo daruͤber etwas auszumitteln iſt. Wenn dieß alſo nicht gemeint ſein kann, ſondern nur der Unter- ſchied, der in Beziehung auf die fruͤher vorhandenen Elemente durch die Compoſition entſteht, ſo iſt davon auf dem wiſſenſchaft- lichen Gebiete das Wenigſte zu erwarten, weil auf demſelben die Ausdruͤcke nicht alterirt werden koͤnnen ohne die Gedanken ſelbſt zu alteriren.
Dieß iſt indeß nur die eine Seite des hermeneutiſchen In- tereſſes. Die andere Seite fuͤhrt auf ganz andere Differenzen. Nemlich wenn wir einen Complexus von Gedanken vor uns haben, der Gegenſtand ſei welcher er wolle, ſo werden wir darin niemals den Gegenſtand erſchoͤpft nennen. Vielmehr werden jedem, der im Leſen in einem wirklichen Aneignungsproceſſe begriffen iſt, Ge- danken einfallen, die in daſſelbe Gebiet gehoͤren, aber dort ſich nicht finden, oder die mit den in der Schrift ausgedruͤckten in Widerſpruch ſtehen. Da iſt denn das Intereſſe zu wiſſen, ob der Schriftſteller dieſelben gar nicht gehabt, oder wiſſentlich ausgelaſſen. Zum vollen Verſtehen gehoͤrt offenbar beides zu wiſſen, ſowol was ich vermiſſe, als was ich im Schriftſteller mit meinen Ge- danken uͤber den Gegenſtand in Widerſpruch finde. Nimmt der Schriftſteller Ruͤckſicht darauf, dann muß auf den Grund der Differenz zuruͤckgegangen werden. Nimmt er keine Beziehung darauf, ſo iſt es problematiſch, aber es entſteht die Aufgabe, eben dieß wo moͤglich auszumitteln. Da iſt denn das Intereſſe, die Meditation des Schriftſtellers ſo vollſtaͤndig wie moͤglich an und fuͤr ſich uͤberſehen zu koͤnnen, auch in Beziehung auf das, was in die Compoſition nicht aufgenommen iſt. Es iſt moͤglich, daß
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0232"n="208"/>
Logiſchen ganz untergeordnet. Je mehr die Compoſition die Ge-<lb/>
danken ohne alles andere Intereſſe anſchließt, deſto mehr iſt ſie<lb/>
urſpruͤnglich Eins mit ihnen, alſo auch der Unterſchied zwiſchen<lb/>
ihm und der Meditation Null. Dieſer Unterſchied kann nicht<lb/>
darin beſtehen, daß man ſollte ausmitteln wollen, in welcher Zeit-<lb/>
folge die einzelnen Gedanken des Schriftſtellers entſtanden ſind.<lb/>
Dieß iſt durch die Compoſition ſelbſt ein ſo verſchwindendes, daß<lb/>
nur einzelne wenige Faͤlle ſind, wo daruͤber etwas auszumitteln<lb/>
iſt. Wenn dieß alſo nicht gemeint ſein kann, ſondern nur der Unter-<lb/>ſchied, der in Beziehung auf die fruͤher vorhandenen Elemente<lb/>
durch die Compoſition entſteht, ſo iſt davon auf dem wiſſenſchaft-<lb/>
lichen Gebiete das Wenigſte zu erwarten, weil auf demſelben die<lb/>
Ausdruͤcke nicht alterirt werden koͤnnen ohne die Gedanken ſelbſt<lb/>
zu alteriren.</p><lb/><p>Dieß iſt indeß nur die eine Seite des hermeneutiſchen In-<lb/>
tereſſes. Die andere Seite fuͤhrt auf ganz andere Differenzen.<lb/>
Nemlich wenn wir einen Complexus von Gedanken vor uns haben,<lb/>
der Gegenſtand ſei welcher er wolle, ſo werden wir darin niemals<lb/>
den Gegenſtand erſchoͤpft nennen. Vielmehr werden jedem, der<lb/>
im Leſen in einem wirklichen Aneignungsproceſſe begriffen iſt, Ge-<lb/>
danken einfallen, die in daſſelbe Gebiet gehoͤren, aber dort ſich<lb/>
nicht finden, oder die mit den in der Schrift ausgedruͤckten in<lb/>
Widerſpruch ſtehen. Da iſt denn das Intereſſe zu wiſſen, ob der<lb/>
Schriftſteller dieſelben gar nicht gehabt, oder wiſſentlich ausgelaſſen.<lb/>
Zum vollen Verſtehen gehoͤrt offenbar beides zu wiſſen, ſowol<lb/>
was ich vermiſſe, als was ich im Schriftſteller mit meinen Ge-<lb/>
danken uͤber den Gegenſtand in Widerſpruch finde. Nimmt der<lb/>
Schriftſteller Ruͤckſicht darauf, dann muß auf den Grund der<lb/>
Differenz zuruͤckgegangen werden. Nimmt er keine Beziehung<lb/>
darauf, ſo iſt es problematiſch, aber es entſteht die Aufgabe, eben<lb/>
dieß wo moͤglich auszumitteln. Da iſt denn das Intereſſe, die<lb/>
Meditation des Schriftſtellers ſo vollſtaͤndig wie moͤglich an und<lb/>
fuͤr ſich uͤberſehen zu koͤnnen, auch in Beziehung auf das, was<lb/>
in die Compoſition nicht aufgenommen iſt. Es iſt moͤglich, daß<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[208/0232]
Logiſchen ganz untergeordnet. Je mehr die Compoſition die Ge-
danken ohne alles andere Intereſſe anſchließt, deſto mehr iſt ſie
urſpruͤnglich Eins mit ihnen, alſo auch der Unterſchied zwiſchen
ihm und der Meditation Null. Dieſer Unterſchied kann nicht
darin beſtehen, daß man ſollte ausmitteln wollen, in welcher Zeit-
folge die einzelnen Gedanken des Schriftſtellers entſtanden ſind.
Dieß iſt durch die Compoſition ſelbſt ein ſo verſchwindendes, daß
nur einzelne wenige Faͤlle ſind, wo daruͤber etwas auszumitteln
iſt. Wenn dieß alſo nicht gemeint ſein kann, ſondern nur der Unter-
ſchied, der in Beziehung auf die fruͤher vorhandenen Elemente
durch die Compoſition entſteht, ſo iſt davon auf dem wiſſenſchaft-
lichen Gebiete das Wenigſte zu erwarten, weil auf demſelben die
Ausdruͤcke nicht alterirt werden koͤnnen ohne die Gedanken ſelbſt
zu alteriren.
Dieß iſt indeß nur die eine Seite des hermeneutiſchen In-
tereſſes. Die andere Seite fuͤhrt auf ganz andere Differenzen.
Nemlich wenn wir einen Complexus von Gedanken vor uns haben,
der Gegenſtand ſei welcher er wolle, ſo werden wir darin niemals
den Gegenſtand erſchoͤpft nennen. Vielmehr werden jedem, der
im Leſen in einem wirklichen Aneignungsproceſſe begriffen iſt, Ge-
danken einfallen, die in daſſelbe Gebiet gehoͤren, aber dort ſich
nicht finden, oder die mit den in der Schrift ausgedruͤckten in
Widerſpruch ſtehen. Da iſt denn das Intereſſe zu wiſſen, ob der
Schriftſteller dieſelben gar nicht gehabt, oder wiſſentlich ausgelaſſen.
Zum vollen Verſtehen gehoͤrt offenbar beides zu wiſſen, ſowol
was ich vermiſſe, als was ich im Schriftſteller mit meinen Ge-
danken uͤber den Gegenſtand in Widerſpruch finde. Nimmt der
Schriftſteller Ruͤckſicht darauf, dann muß auf den Grund der
Differenz zuruͤckgegangen werden. Nimmt er keine Beziehung
darauf, ſo iſt es problematiſch, aber es entſteht die Aufgabe, eben
dieß wo moͤglich auszumitteln. Da iſt denn das Intereſſe, die
Meditation des Schriftſtellers ſo vollſtaͤndig wie moͤglich an und
fuͤr ſich uͤberſehen zu koͤnnen, auch in Beziehung auf das, was
in die Compoſition nicht aufgenommen iſt. Es iſt moͤglich, daß
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/232>, abgerufen am 04.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.