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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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Logischen ganz untergeordnet. Je mehr die Composition die Ge-
danken ohne alles andere Interesse anschließt, desto mehr ist sie
ursprünglich Eins mit ihnen, also auch der Unterschied zwischen
ihm und der Meditation Null. Dieser Unterschied kann nicht
darin bestehen, daß man sollte ausmitteln wollen, in welcher Zeit-
folge die einzelnen Gedanken des Schriftstellers entstanden sind.
Dieß ist durch die Composition selbst ein so verschwindendes, daß
nur einzelne wenige Fälle sind, wo darüber etwas auszumitteln
ist. Wenn dieß also nicht gemeint sein kann, sondern nur der Unter-
schied, der in Beziehung auf die früher vorhandenen Elemente
durch die Composition entsteht, so ist davon auf dem wissenschaft-
lichen Gebiete das Wenigste zu erwarten, weil auf demselben die
Ausdrücke nicht alterirt werden können ohne die Gedanken selbst
zu alteriren.

Dieß ist indeß nur die eine Seite des hermeneutischen In-
teresses. Die andere Seite führt auf ganz andere Differenzen.
Nemlich wenn wir einen Complexus von Gedanken vor uns haben,
der Gegenstand sei welcher er wolle, so werden wir darin niemals
den Gegenstand erschöpft nennen. Vielmehr werden jedem, der
im Lesen in einem wirklichen Aneignungsprocesse begriffen ist, Ge-
danken einfallen, die in dasselbe Gebiet gehören, aber dort sich
nicht finden, oder die mit den in der Schrift ausgedrückten in
Widerspruch stehen. Da ist denn das Interesse zu wissen, ob der
Schriftsteller dieselben gar nicht gehabt, oder wissentlich ausgelassen.
Zum vollen Verstehen gehört offenbar beides zu wissen, sowol
was ich vermisse, als was ich im Schriftsteller mit meinen Ge-
danken über den Gegenstand in Widerspruch finde. Nimmt der
Schriftsteller Rücksicht darauf, dann muß auf den Grund der
Differenz zurückgegangen werden. Nimmt er keine Beziehung
darauf, so ist es problematisch, aber es entsteht die Aufgabe, eben
dieß wo möglich auszumitteln. Da ist denn das Interesse, die
Meditation des Schriftstellers so vollständig wie möglich an und
für sich übersehen zu können, auch in Beziehung auf das, was
in die Composition nicht aufgenommen ist. Es ist möglich, daß

Logiſchen ganz untergeordnet. Je mehr die Compoſition die Ge-
danken ohne alles andere Intereſſe anſchließt, deſto mehr iſt ſie
urſpruͤnglich Eins mit ihnen, alſo auch der Unterſchied zwiſchen
ihm und der Meditation Null. Dieſer Unterſchied kann nicht
darin beſtehen, daß man ſollte ausmitteln wollen, in welcher Zeit-
folge die einzelnen Gedanken des Schriftſtellers entſtanden ſind.
Dieß iſt durch die Compoſition ſelbſt ein ſo verſchwindendes, daß
nur einzelne wenige Faͤlle ſind, wo daruͤber etwas auszumitteln
iſt. Wenn dieß alſo nicht gemeint ſein kann, ſondern nur der Unter-
ſchied, der in Beziehung auf die fruͤher vorhandenen Elemente
durch die Compoſition entſteht, ſo iſt davon auf dem wiſſenſchaft-
lichen Gebiete das Wenigſte zu erwarten, weil auf demſelben die
Ausdruͤcke nicht alterirt werden koͤnnen ohne die Gedanken ſelbſt
zu alteriren.

Dieß iſt indeß nur die eine Seite des hermeneutiſchen In-
tereſſes. Die andere Seite fuͤhrt auf ganz andere Differenzen.
Nemlich wenn wir einen Complexus von Gedanken vor uns haben,
der Gegenſtand ſei welcher er wolle, ſo werden wir darin niemals
den Gegenſtand erſchoͤpft nennen. Vielmehr werden jedem, der
im Leſen in einem wirklichen Aneignungsproceſſe begriffen iſt, Ge-
danken einfallen, die in daſſelbe Gebiet gehoͤren, aber dort ſich
nicht finden, oder die mit den in der Schrift ausgedruͤckten in
Widerſpruch ſtehen. Da iſt denn das Intereſſe zu wiſſen, ob der
Schriftſteller dieſelben gar nicht gehabt, oder wiſſentlich ausgelaſſen.
Zum vollen Verſtehen gehoͤrt offenbar beides zu wiſſen, ſowol
was ich vermiſſe, als was ich im Schriftſteller mit meinen Ge-
danken uͤber den Gegenſtand in Widerſpruch finde. Nimmt der
Schriftſteller Ruͤckſicht darauf, dann muß auf den Grund der
Differenz zuruͤckgegangen werden. Nimmt er keine Beziehung
darauf, ſo iſt es problematiſch, aber es entſteht die Aufgabe, eben
dieß wo moͤglich auszumitteln. Da iſt denn das Intereſſe, die
Meditation des Schriftſtellers ſo vollſtaͤndig wie moͤglich an und
fuͤr ſich uͤberſehen zu koͤnnen, auch in Beziehung auf das, was
in die Compoſition nicht aufgenommen iſt. Es iſt moͤglich, daß

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[208/0232] Logiſchen ganz untergeordnet. Je mehr die Compoſition die Ge- danken ohne alles andere Intereſſe anſchließt, deſto mehr iſt ſie urſpruͤnglich Eins mit ihnen, alſo auch der Unterſchied zwiſchen ihm und der Meditation Null. Dieſer Unterſchied kann nicht darin beſtehen, daß man ſollte ausmitteln wollen, in welcher Zeit- folge die einzelnen Gedanken des Schriftſtellers entſtanden ſind. Dieß iſt durch die Compoſition ſelbſt ein ſo verſchwindendes, daß nur einzelne wenige Faͤlle ſind, wo daruͤber etwas auszumitteln iſt. Wenn dieß alſo nicht gemeint ſein kann, ſondern nur der Unter- ſchied, der in Beziehung auf die fruͤher vorhandenen Elemente durch die Compoſition entſteht, ſo iſt davon auf dem wiſſenſchaft- lichen Gebiete das Wenigſte zu erwarten, weil auf demſelben die Ausdruͤcke nicht alterirt werden koͤnnen ohne die Gedanken ſelbſt zu alteriren. Dieß iſt indeß nur die eine Seite des hermeneutiſchen In- tereſſes. Die andere Seite fuͤhrt auf ganz andere Differenzen. Nemlich wenn wir einen Complexus von Gedanken vor uns haben, der Gegenſtand ſei welcher er wolle, ſo werden wir darin niemals den Gegenſtand erſchoͤpft nennen. Vielmehr werden jedem, der im Leſen in einem wirklichen Aneignungsproceſſe begriffen iſt, Ge- danken einfallen, die in daſſelbe Gebiet gehoͤren, aber dort ſich nicht finden, oder die mit den in der Schrift ausgedruͤckten in Widerſpruch ſtehen. Da iſt denn das Intereſſe zu wiſſen, ob der Schriftſteller dieſelben gar nicht gehabt, oder wiſſentlich ausgelaſſen. Zum vollen Verſtehen gehoͤrt offenbar beides zu wiſſen, ſowol was ich vermiſſe, als was ich im Schriftſteller mit meinen Ge- danken uͤber den Gegenſtand in Widerſpruch finde. Nimmt der Schriftſteller Ruͤckſicht darauf, dann muß auf den Grund der Differenz zuruͤckgegangen werden. Nimmt er keine Beziehung darauf, ſo iſt es problematiſch, aber es entſteht die Aufgabe, eben dieß wo moͤglich auszumitteln. Da iſt denn das Intereſſe, die Meditation des Schriftſtellers ſo vollſtaͤndig wie moͤglich an und fuͤr ſich uͤberſehen zu koͤnnen, auch in Beziehung auf das, was in die Compoſition nicht aufgenommen iſt. Es iſt moͤglich, daß

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/232>, abgerufen am 04.12.2024.