dann im vertraulichen Theile wenigstens die Spur der Thatsache finden, und so wäre das eigentliche Motif im zweiten Theile, und die ganze Zusammensezung fände ihren Schlüssel in den Äußerungen, woraus man sieht, was in den Gemeinden vorge- gangen. Je mehr in dem abhandelnden Theile die Freiheit vor- herrscht, desto schwieriger ist die Einheit der Composition zu fin- den. Je mehr dagegen der Charakter der eigentlichen Abhand- lung herrscht, also auch das Ganze gebundener erscheint, desto leichter ist die Einheit zu finden, desto weniger Einfluß hat dann auch die Epistolarform, welche dann wie zufällig erscheinen kann. Hiernach können wir überhaupt unterscheiden Briefe von mehr gebundener Composition, welche eine objective Einheit, und Briefe von freier Composition, die eine subjective Einheit haben. Im ersten Falle gilt es einen Gegenstand aufzufassen als Gedanken, auf den sich alles bezieht; im lezteren Falle ist die Einheit, auf die alles zurückgeführt werden kann, eine gewisse Einheit der Stimmung und der Verhältnisse.
Woran kann man nun die eine und andere Art erkennen? So wie man das Einzelne vor sich hat, muß im Allgemeinen wol deutlich sein, ob ein Brief mehr zu der einen oder andern Art gehört, womit noch nicht die Einheit bestimmt und bezeichnet ist. Denken wir uns vom Brief an die Römer den lezten Theil fort, so kann in Beziehung auf die Hauptmasse niemand zweifeln, daß diese einen zusammenhängenden objectiv didaktischen Charakter hat. Aber welches die objective Einheit sei, ist eine andere Frage, die dadurch noch gar nicht bestimmt ist. Sobald die einzelnen Säze überwiegend solche Form und Tendenz haben, ist die Haupt- sache schon dadurch entschieden. In einem rein vertraulichen Briefe, der keine andere Einheit hat als das Verhältniß beider Theile zu einander und zwar in Beziehung auf den Lebensmo- ment, worin der Schreibende, oder der, an den geschrieben wird, sich befindet, da wird das Einzelne mehr musikalischen Charakter haben, d. h. Darstellung von inneren Zuständen sein. In ge- wisser Beziehung ist das also leicht zu unterscheiden, und wenn
dann im vertraulichen Theile wenigſtens die Spur der Thatſache finden, und ſo waͤre das eigentliche Motif im zweiten Theile, und die ganze Zuſammenſezung faͤnde ihren Schluͤſſel in den Äußerungen, woraus man ſieht, was in den Gemeinden vorge- gangen. Je mehr in dem abhandelnden Theile die Freiheit vor- herrſcht, deſto ſchwieriger iſt die Einheit der Compoſition zu fin- den. Je mehr dagegen der Charakter der eigentlichen Abhand- lung herrſcht, alſo auch das Ganze gebundener erſcheint, deſto leichter iſt die Einheit zu finden, deſto weniger Einfluß hat dann auch die Epiſtolarform, welche dann wie zufaͤllig erſcheinen kann. Hiernach koͤnnen wir uͤberhaupt unterſcheiden Briefe von mehr gebundener Compoſition, welche eine objective Einheit, und Briefe von freier Compoſition, die eine ſubjective Einheit haben. Im erſten Falle gilt es einen Gegenſtand aufzufaſſen als Gedanken, auf den ſich alles bezieht; im lezteren Falle iſt die Einheit, auf die alles zuruͤckgefuͤhrt werden kann, eine gewiſſe Einheit der Stimmung und der Verhaͤltniſſe.
Woran kann man nun die eine und andere Art erkennen? So wie man das Einzelne vor ſich hat, muß im Allgemeinen wol deutlich ſein, ob ein Brief mehr zu der einen oder andern Art gehoͤrt, womit noch nicht die Einheit beſtimmt und bezeichnet iſt. Denken wir uns vom Brief an die Roͤmer den lezten Theil fort, ſo kann in Beziehung auf die Hauptmaſſe niemand zweifeln, daß dieſe einen zuſammenhaͤngenden objectiv didaktiſchen Charakter hat. Aber welches die objective Einheit ſei, iſt eine andere Frage, die dadurch noch gar nicht beſtimmt iſt. Sobald die einzelnen Saͤze uͤberwiegend ſolche Form und Tendenz haben, iſt die Haupt- ſache ſchon dadurch entſchieden. In einem rein vertraulichen Briefe, der keine andere Einheit hat als das Verhaͤltniß beider Theile zu einander und zwar in Beziehung auf den Lebensmo- ment, worin der Schreibende, oder der, an den geſchrieben wird, ſich befindet, da wird das Einzelne mehr muſikaliſchen Charakter haben, d. h. Darſtellung von inneren Zuſtaͤnden ſein. In ge- wiſſer Beziehung iſt das alſo leicht zu unterſcheiden, und wenn
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dann im vertraulichen Theile wenigſtens die Spur der Thatſache
finden, und ſo waͤre das eigentliche Motif im zweiten Theile,
und die ganze Zuſammenſezung faͤnde ihren Schluͤſſel in den
Äußerungen, woraus man ſieht, was in den Gemeinden vorge-
gangen. Je mehr in dem abhandelnden Theile die Freiheit vor-
herrſcht, deſto ſchwieriger iſt die Einheit der Compoſition zu fin-
den. Je mehr dagegen der Charakter der eigentlichen Abhand-
lung herrſcht, alſo auch das Ganze gebundener erſcheint, deſto
leichter iſt die Einheit zu finden, deſto weniger Einfluß hat dann
auch die Epiſtolarform, welche dann wie zufaͤllig erſcheinen kann.
Hiernach koͤnnen wir uͤberhaupt unterſcheiden Briefe von mehr
gebundener Compoſition, welche eine objective Einheit, und Briefe
von freier Compoſition, die eine ſubjective Einheit haben. Im
erſten Falle gilt es einen Gegenſtand aufzufaſſen als Gedanken,
auf den ſich alles bezieht; im lezteren Falle iſt die Einheit, auf
die alles zuruͤckgefuͤhrt werden kann, eine gewiſſe Einheit der
Stimmung und der Verhaͤltniſſe.
Woran kann man nun die eine und andere Art erkennen?
So wie man das Einzelne vor ſich hat, muß im Allgemeinen
wol deutlich ſein, ob ein Brief mehr zu der einen oder andern Art
gehoͤrt, womit noch nicht die Einheit beſtimmt und bezeichnet iſt.
Denken wir uns vom Brief an die Roͤmer den lezten Theil fort,
ſo kann in Beziehung auf die Hauptmaſſe niemand zweifeln,
daß dieſe einen zuſammenhaͤngenden objectiv didaktiſchen Charakter
hat. Aber welches die objective Einheit ſei, iſt eine andere Frage,
die dadurch noch gar nicht beſtimmt iſt. Sobald die einzelnen
Saͤze uͤberwiegend ſolche Form und Tendenz haben, iſt die Haupt-
ſache ſchon dadurch entſchieden. In einem rein vertraulichen
Briefe, der keine andere Einheit hat als das Verhaͤltniß beider
Theile zu einander und zwar in Beziehung auf den Lebensmo-
ment, worin der Schreibende, oder der, an den geſchrieben wird,
ſich befindet, da wird das Einzelne mehr muſikaliſchen Charakter
haben, d. h. Darſtellung von inneren Zuſtaͤnden ſein. In ge-
wiſſer Beziehung iſt das alſo leicht zu unterſcheiden, und wenn
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/262>, abgerufen am 05.12.2024.
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