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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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Einheit haben, und in solche, die sich dem vertrauten Gespräche
nähern und keine Einheit weiter haben, als das Verhältniß bei-
der Theile zu einander. Es lag in der Natur der Sache, daß
Zusammensezungen beider Formen entstanden, so daß wenn Je-
mand in dem Falle ist, eine bestimmte Auseinandersezung ma-
chen zu müssen, er zuvor didaktisch ist, nachher aber in die ver-
trauliche Mittheilung übergeht. In Beziehung hierauf werden
wir also die Frage über die Einheit der Composition bei den
Briefen auf eine verschiedene Weise zu stellen haben.

Wenn der Brief ganz und gar den Charakter der vertrauli-
chen Mittheilung trägt, so ist die Frage so zu stellen, aus wel-
chem Gesichtspunkt schreibt der Verfasser? ob mehr aus seinem
als dessen, an den er schreibt? oder auf welche Weise ist beides
verbunden? Eben so bei den Briefen gemischter Form in Be-
treff des vertraulichen Theiles, nur daß jene Fragen um so mehr
untergeordnet sind, je weniger Raum das Vertrauliche einnimmt.
Da ist denn nach dem Verhältnisse beider Elemente zu fragen,
und gar nicht bloß nach dem quantitativen, sondern auch nach
dem qualitativen, nemlich wie streng sich beides sondert oder
wie viel es ineinander übergeht. In dieser Frage hat man die
ganze Richtung auf alles, was dem Briefsteller vorschwebte, und
auf den Gang, den er genommen hat. Bei den ganz didakti-
schen Briefen oder dem mehr traktatmäßigen Theile der zusam-
mengesezten Briefform ist es oft gar nicht leicht, die Einheit zu
finden. Es kann Fälle geben, wo man das eigentliche Motif
(und ohne das existirt keine Einheit) nur in dem vertraulichen
Theile des Briefes findet, weil hier vielleicht erst die Rede
ist von dem bestimmten Verhältnisse. -- Im Briefe an die
Galater ist von vorn herein die Rede von der Thatsache,
die das Motif des Briefes ist, von einem wahrscheinlichen Rück-
fall der Galatischen Gemeinden in ein unchristliches Leben. Aber
man kann sich denken, Paulus hätte den didaktischen Theil aus-
bilden können ohne jener motivirenden Thatsache zu gedenken,
ähnlich wie im Briefe an die Hebräer geschieht, allein man würde

Einheit haben, und in ſolche, die ſich dem vertrauten Geſpraͤche
naͤhern und keine Einheit weiter haben, als das Verhaͤltniß bei-
der Theile zu einander. Es lag in der Natur der Sache, daß
Zuſammenſezungen beider Formen entſtanden, ſo daß wenn Je-
mand in dem Falle iſt, eine beſtimmte Auseinanderſezung ma-
chen zu muͤſſen, er zuvor didaktiſch iſt, nachher aber in die ver-
trauliche Mittheilung uͤbergeht. In Beziehung hierauf werden
wir alſo die Frage uͤber die Einheit der Compoſition bei den
Briefen auf eine verſchiedene Weiſe zu ſtellen haben.

Wenn der Brief ganz und gar den Charakter der vertrauli-
chen Mittheilung traͤgt, ſo iſt die Frage ſo zu ſtellen, aus wel-
chem Geſichtspunkt ſchreibt der Verfaſſer? ob mehr aus ſeinem
als deſſen, an den er ſchreibt? oder auf welche Weiſe iſt beides
verbunden? Eben ſo bei den Briefen gemiſchter Form in Be-
treff des vertraulichen Theiles, nur daß jene Fragen um ſo mehr
untergeordnet ſind, je weniger Raum das Vertrauliche einnimmt.
Da iſt denn nach dem Verhaͤltniſſe beider Elemente zu fragen,
und gar nicht bloß nach dem quantitativen, ſondern auch nach
dem qualitativen, nemlich wie ſtreng ſich beides ſondert oder
wie viel es ineinander uͤbergeht. In dieſer Frage hat man die
ganze Richtung auf alles, was dem Briefſteller vorſchwebte, und
auf den Gang, den er genommen hat. Bei den ganz didakti-
ſchen Briefen oder dem mehr traktatmaͤßigen Theile der zuſam-
mengeſezten Briefform iſt es oft gar nicht leicht, die Einheit zu
finden. Es kann Faͤlle geben, wo man das eigentliche Motif
(und ohne das exiſtirt keine Einheit) nur in dem vertraulichen
Theile des Briefes findet, weil hier vielleicht erſt die Rede
iſt von dem beſtimmten Verhaͤltniſſe. — Im Briefe an die
Galater iſt von vorn herein die Rede von der Thatſache,
die das Motif des Briefes iſt, von einem wahrſcheinlichen Ruͤck-
fall der Galatiſchen Gemeinden in ein unchriſtliches Leben. Aber
man kann ſich denken, Paulus haͤtte den didaktiſchen Theil aus-
bilden koͤnnen ohne jener motivirenden Thatſache zu gedenken,
aͤhnlich wie im Briefe an die Hebraͤer geſchieht, allein man wuͤrde

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[237/0261] Einheit haben, und in ſolche, die ſich dem vertrauten Geſpraͤche naͤhern und keine Einheit weiter haben, als das Verhaͤltniß bei- der Theile zu einander. Es lag in der Natur der Sache, daß Zuſammenſezungen beider Formen entſtanden, ſo daß wenn Je- mand in dem Falle iſt, eine beſtimmte Auseinanderſezung ma- chen zu muͤſſen, er zuvor didaktiſch iſt, nachher aber in die ver- trauliche Mittheilung uͤbergeht. In Beziehung hierauf werden wir alſo die Frage uͤber die Einheit der Compoſition bei den Briefen auf eine verſchiedene Weiſe zu ſtellen haben. Wenn der Brief ganz und gar den Charakter der vertrauli- chen Mittheilung traͤgt, ſo iſt die Frage ſo zu ſtellen, aus wel- chem Geſichtspunkt ſchreibt der Verfaſſer? ob mehr aus ſeinem als deſſen, an den er ſchreibt? oder auf welche Weiſe iſt beides verbunden? Eben ſo bei den Briefen gemiſchter Form in Be- treff des vertraulichen Theiles, nur daß jene Fragen um ſo mehr untergeordnet ſind, je weniger Raum das Vertrauliche einnimmt. Da iſt denn nach dem Verhaͤltniſſe beider Elemente zu fragen, und gar nicht bloß nach dem quantitativen, ſondern auch nach dem qualitativen, nemlich wie ſtreng ſich beides ſondert oder wie viel es ineinander uͤbergeht. In dieſer Frage hat man die ganze Richtung auf alles, was dem Briefſteller vorſchwebte, und auf den Gang, den er genommen hat. Bei den ganz didakti- ſchen Briefen oder dem mehr traktatmaͤßigen Theile der zuſam- mengeſezten Briefform iſt es oft gar nicht leicht, die Einheit zu finden. Es kann Faͤlle geben, wo man das eigentliche Motif (und ohne das exiſtirt keine Einheit) nur in dem vertraulichen Theile des Briefes findet, weil hier vielleicht erſt die Rede iſt von dem beſtimmten Verhaͤltniſſe. — Im Briefe an die Galater iſt von vorn herein die Rede von der Thatſache, die das Motif des Briefes iſt, von einem wahrſcheinlichen Ruͤck- fall der Galatiſchen Gemeinden in ein unchriſtliches Leben. Aber man kann ſich denken, Paulus haͤtte den didaktiſchen Theil aus- bilden koͤnnen ohne jener motivirenden Thatſache zu gedenken, aͤhnlich wie im Briefe an die Hebraͤer geſchieht, allein man wuͤrde

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 237. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/261>, abgerufen am 05.12.2024.