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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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Kolosser ist an eine Gemeinde gerichtet, mit der Paulus in keiner
unmittelbaren Verbindung stand. Er hatte Notizen über sie.
Aber denkt man sich diese weg, so hätte Paulus nur von seinem
Standpunkte aus schreiben können. Wollte er sie speziell Angehen-
des schreiben, so hätte er nach der Analogie anderer Gemeinden
schreiben können, also doch immer nur vor seinem gesammten
Wahrnehmungszustande aus. Bei einem solchen Briefe kann man
sich leicht zu weit verleiten lassen durch den Umstand, daß der Apostel
Notizen bekommen hatte. Er konnte aus seinem Wahrnehmungszu-
stande vieles nehmen, dem nichts spezielles in der Gemeinde entspricht.
Man hat, weil manches polemisch aussieht, gemeint, dieß beziehe
sich auf bestimmte Irrthümer in Kolossä. Allein, da er keine
Notiz darüber giebt, und auch keinen Grund hatte, dieß, daß er
Notiz davon hatte, zu verheimlichen, so kann es eben so gut sein,
daß Paulus darüber aus seinem Zustande herausgeschrieben hat. Er
kannte die Irrlehren von anderwärts her, kannte die Gefahren
derselben, wollte denselben in der Kolossischen Gemeinde vorbauen.

Bei dem Briefe des Jakobus werden wir, was das Verhält-
niß des Verfassers zu seinen Lesern betrifft, auch nach Beseitigung
sonstiger Schwierigkeiten der Addresse für sehr wahrscheinlich halten
müssen, daß der Verfasser von denen, an die er schreibt, nicht
viel bestimmtes gewußt. Nicht einmal zur Voraussezung einer
bestimmten Analogie gewisser Verhältnisse haben wir Grund.
Allerdings mochte ihm immer das Übergericht der Heiden- oder
Judenchristen bekannt sein; er konnte in dieser Beziehung be-
stimmte Zustände voraussezen. Aber daraus konnte er nur im
Allgemeinen abnehmen auf der judenchristlichen Seite die cha-
rakteristische Neigung, das Mosaische Gesez geltend zu machen,
oder auf der heidenchristlichen Seite die Neigung, sich einer laxen
Moral wiederum hinzugeben. Bestimmtere sittliche Zustände ließen
sich daraus nicht schließen. Es war etwas Bestimmteres, wenn
er wußte, eine Gemeinde bestand aus Personen niedrigeren Stan-
des, oder es war in einer anderen ein bestimmtes Verhältniß
zwischen Höheren und Niederen. Allein bei mehreren Gemeinden

Koloſſer iſt an eine Gemeinde gerichtet, mit der Paulus in keiner
unmittelbaren Verbindung ſtand. Er hatte Notizen uͤber ſie.
Aber denkt man ſich dieſe weg, ſo haͤtte Paulus nur von ſeinem
Standpunkte aus ſchreiben koͤnnen. Wollte er ſie ſpeziell Angehen-
des ſchreiben, ſo haͤtte er nach der Analogie anderer Gemeinden
ſchreiben koͤnnen, alſo doch immer nur vor ſeinem geſammten
Wahrnehmungszuſtande aus. Bei einem ſolchen Briefe kann man
ſich leicht zu weit verleiten laſſen durch den Umſtand, daß der Apoſtel
Notizen bekommen hatte. Er konnte aus ſeinem Wahrnehmungszu-
ſtande vieles nehmen, dem nichts ſpezielles in der Gemeinde entſpricht.
Man hat, weil manches polemiſch ausſieht, gemeint, dieß beziehe
ſich auf beſtimmte Irrthuͤmer in Koloſſaͤ. Allein, da er keine
Notiz daruͤber giebt, und auch keinen Grund hatte, dieß, daß er
Notiz davon hatte, zu verheimlichen, ſo kann es eben ſo gut ſein,
daß Paulus daruͤber aus ſeinem Zuſtande herausgeſchrieben hat. Er
kannte die Irrlehren von anderwaͤrts her, kannte die Gefahren
derſelben, wollte denſelben in der Koloſſiſchen Gemeinde vorbauen.

Bei dem Briefe des Jakobus werden wir, was das Verhaͤlt-
niß des Verfaſſers zu ſeinen Leſern betrifft, auch nach Beſeitigung
ſonſtiger Schwierigkeiten der Addreſſe fuͤr ſehr wahrſcheinlich halten
muͤſſen, daß der Verfaſſer von denen, an die er ſchreibt, nicht
viel beſtimmtes gewußt. Nicht einmal zur Vorausſezung einer
beſtimmten Analogie gewiſſer Verhaͤltniſſe haben wir Grund.
Allerdings mochte ihm immer das Übergericht der Heiden- oder
Judenchriſten bekannt ſein; er konnte in dieſer Beziehung be-
ſtimmte Zuſtaͤnde vorausſezen. Aber daraus konnte er nur im
Allgemeinen abnehmen auf der judenchriſtlichen Seite die cha-
rakteriſtiſche Neigung, das Moſaiſche Geſez geltend zu machen,
oder auf der heidenchriſtlichen Seite die Neigung, ſich einer laxen
Moral wiederum hinzugeben. Beſtimmtere ſittliche Zuſtaͤnde ließen
ſich daraus nicht ſchließen. Es war etwas Beſtimmteres, wenn
er wußte, eine Gemeinde beſtand aus Perſonen niedrigeren Stan-
des, oder es war in einer anderen ein beſtimmtes Verhaͤltniß
zwiſchen Hoͤheren und Niederen. Allein bei mehreren Gemeinden

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[240/0264] Koloſſer iſt an eine Gemeinde gerichtet, mit der Paulus in keiner unmittelbaren Verbindung ſtand. Er hatte Notizen uͤber ſie. Aber denkt man ſich dieſe weg, ſo haͤtte Paulus nur von ſeinem Standpunkte aus ſchreiben koͤnnen. Wollte er ſie ſpeziell Angehen- des ſchreiben, ſo haͤtte er nach der Analogie anderer Gemeinden ſchreiben koͤnnen, alſo doch immer nur vor ſeinem geſammten Wahrnehmungszuſtande aus. Bei einem ſolchen Briefe kann man ſich leicht zu weit verleiten laſſen durch den Umſtand, daß der Apoſtel Notizen bekommen hatte. Er konnte aus ſeinem Wahrnehmungszu- ſtande vieles nehmen, dem nichts ſpezielles in der Gemeinde entſpricht. Man hat, weil manches polemiſch ausſieht, gemeint, dieß beziehe ſich auf beſtimmte Irrthuͤmer in Koloſſaͤ. Allein, da er keine Notiz daruͤber giebt, und auch keinen Grund hatte, dieß, daß er Notiz davon hatte, zu verheimlichen, ſo kann es eben ſo gut ſein, daß Paulus daruͤber aus ſeinem Zuſtande herausgeſchrieben hat. Er kannte die Irrlehren von anderwaͤrts her, kannte die Gefahren derſelben, wollte denſelben in der Koloſſiſchen Gemeinde vorbauen. Bei dem Briefe des Jakobus werden wir, was das Verhaͤlt- niß des Verfaſſers zu ſeinen Leſern betrifft, auch nach Beſeitigung ſonſtiger Schwierigkeiten der Addreſſe fuͤr ſehr wahrſcheinlich halten muͤſſen, daß der Verfaſſer von denen, an die er ſchreibt, nicht viel beſtimmtes gewußt. Nicht einmal zur Vorausſezung einer beſtimmten Analogie gewiſſer Verhaͤltniſſe haben wir Grund. Allerdings mochte ihm immer das Übergericht der Heiden- oder Judenchriſten bekannt ſein; er konnte in dieſer Beziehung be- ſtimmte Zuſtaͤnde vorausſezen. Aber daraus konnte er nur im Allgemeinen abnehmen auf der judenchriſtlichen Seite die cha- rakteriſtiſche Neigung, das Moſaiſche Geſez geltend zu machen, oder auf der heidenchriſtlichen Seite die Neigung, ſich einer laxen Moral wiederum hinzugeben. Beſtimmtere ſittliche Zuſtaͤnde ließen ſich daraus nicht ſchließen. Es war etwas Beſtimmteres, wenn er wußte, eine Gemeinde beſtand aus Perſonen niedrigeren Stan- des, oder es war in einer anderen ein beſtimmtes Verhaͤltniß zwiſchen Hoͤheren und Niederen. Allein bei mehreren Gemeinden

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/264>, abgerufen am 05.12.2024.