in verschiedenen Gegenden ließ sich ein solches Verhältniß nicht überall voraussezen. Betrachten wir nun die Mannigfaltigkeit der Gegenstände, die Jakobus in seinem Briefe behandelt, so fin- den wir, daß der Brief, wie objectiv er auch ist, doch nur aus dem Gesammtzustande des Verfassers geschrieben ist ohne spezielle Beziehung auf die, an die er gerichtet ist. Sollen wir die Com- position des Briefes entwickeln, so fehlt es uns an allem, was wir außer dem Briefe selbst haben müßten, um sie aus den Zu- ständen, Verhältnissen und Umgebungen des Verfassers zu erklä- ren. Der Brief hat solche Sprünge, die sich als Thatsache des Schreibenden selbst bestimmt nur erklären lassen, wenn wir die Verhältnisse desselben genau kennten. Aus dem Briefe selbst las- sen sie sich nicht erklären.
So wie wir wissen, die Schreibart steht in keiner bestimm- ten Relation zu denen, an die der Verfasser schreibt, ferner, so wie wir sehen, die Art der Auseinandersezung der Gegenstände hat gar nicht die Farbe, sich auf die bestimmten Zustände derer, an die er schreibt, zu beziehen, sie hat auch keine bestimmte Rich- tung: so ist keine Ursache zu glauben, daß der Grund der Com- position in dem liege, was der Verfasser von denen weiß, an die er schreibt. Vielmehr kann dann der Grund der Composition nur liegen in den Zuständen und Verhältnissen des Verfassers selbst.
Wir wissen, daß der Apostel Paulus, als er an die Christen in Rom schrieb, noch in keinem bestimmten Verhältnisse zu der Römischen Gemeinde als solcher stand. Wenn aber die lange Reihe von Grüßen am Ende zum Briefe gehören, was aber einige Kritiker bezweifeln, so müssen wir freilich zugeben, daß der Apostel viele einzelne Personen in der Gemeinde gekannt. Nehmen wir dazu die Notiz über die Christen in Rom, welche die Apostelgeschichte giebt, so hat es nicht den Anschein, als wäre die Gemeinde in Rom eben so consolidirt gewesen, wie andere. Dieß würde sich daraus erklären, daß es in Rom immer eine Menge durchgehender, nicht bleibender Christen gab. Wenn wir nun sagen wollten, der Brief sei durch das, was Paulus von
Hermeneutik u. Kritik. 16
in verſchiedenen Gegenden ließ ſich ein ſolches Verhaͤltniß nicht uͤberall vorausſezen. Betrachten wir nun die Mannigfaltigkeit der Gegenſtaͤnde, die Jakobus in ſeinem Briefe behandelt, ſo fin- den wir, daß der Brief, wie objectiv er auch iſt, doch nur aus dem Geſammtzuſtande des Verfaſſers geſchrieben iſt ohne ſpezielle Beziehung auf die, an die er gerichtet iſt. Sollen wir die Com- poſition des Briefes entwickeln, ſo fehlt es uns an allem, was wir außer dem Briefe ſelbſt haben muͤßten, um ſie aus den Zu- ſtaͤnden, Verhaͤltniſſen und Umgebungen des Verfaſſers zu erklaͤ- ren. Der Brief hat ſolche Spruͤnge, die ſich als Thatſache des Schreibenden ſelbſt beſtimmt nur erklaͤren laſſen, wenn wir die Verhaͤltniſſe deſſelben genau kennten. Aus dem Briefe ſelbſt laſ- ſen ſie ſich nicht erklaͤren.
So wie wir wiſſen, die Schreibart ſteht in keiner beſtimm- ten Relation zu denen, an die der Verfaſſer ſchreibt, ferner, ſo wie wir ſehen, die Art der Auseinanderſezung der Gegenſtaͤnde hat gar nicht die Farbe, ſich auf die beſtimmten Zuſtaͤnde derer, an die er ſchreibt, zu beziehen, ſie hat auch keine beſtimmte Rich- tung: ſo iſt keine Urſache zu glauben, daß der Grund der Com- poſition in dem liege, was der Verfaſſer von denen weiß, an die er ſchreibt. Vielmehr kann dann der Grund der Compoſition nur liegen in den Zuſtaͤnden und Verhaͤltniſſen des Verfaſſers ſelbſt.
Wir wiſſen, daß der Apoſtel Paulus, als er an die Chriſten in Rom ſchrieb, noch in keinem beſtimmten Verhaͤltniſſe zu der Roͤmiſchen Gemeinde als ſolcher ſtand. Wenn aber die lange Reihe von Gruͤßen am Ende zum Briefe gehoͤren, was aber einige Kritiker bezweifeln, ſo muͤſſen wir freilich zugeben, daß der Apoſtel viele einzelne Perſonen in der Gemeinde gekannt. Nehmen wir dazu die Notiz uͤber die Chriſten in Rom, welche die Apoſtelgeſchichte giebt, ſo hat es nicht den Anſchein, als waͤre die Gemeinde in Rom eben ſo conſolidirt geweſen, wie andere. Dieß wuͤrde ſich daraus erklaͤren, daß es in Rom immer eine Menge durchgehender, nicht bleibender Chriſten gab. Wenn wir nun ſagen wollten, der Brief ſei durch das, was Paulus von
Hermeneutik u. Kritik. 16
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in verſchiedenen Gegenden ließ ſich ein ſolches Verhaͤltniß nicht
uͤberall vorausſezen. Betrachten wir nun die Mannigfaltigkeit
der Gegenſtaͤnde, die Jakobus in ſeinem Briefe behandelt, ſo fin-
den wir, daß der Brief, wie objectiv er auch iſt, doch nur aus
dem Geſammtzuſtande des Verfaſſers geſchrieben iſt ohne ſpezielle
Beziehung auf die, an die er gerichtet iſt. Sollen wir die Com-
poſition des Briefes entwickeln, ſo fehlt es uns an allem, was
wir außer dem Briefe ſelbſt haben muͤßten, um ſie aus den Zu-
ſtaͤnden, Verhaͤltniſſen und Umgebungen des Verfaſſers zu erklaͤ-
ren. Der Brief hat ſolche Spruͤnge, die ſich als Thatſache des
Schreibenden ſelbſt beſtimmt nur erklaͤren laſſen, wenn wir die
Verhaͤltniſſe deſſelben genau kennten. Aus dem Briefe ſelbſt laſ-
ſen ſie ſich nicht erklaͤren.
So wie wir wiſſen, die Schreibart ſteht in keiner beſtimm-
ten Relation zu denen, an die der Verfaſſer ſchreibt, ferner, ſo
wie wir ſehen, die Art der Auseinanderſezung der Gegenſtaͤnde
hat gar nicht die Farbe, ſich auf die beſtimmten Zuſtaͤnde derer,
an die er ſchreibt, zu beziehen, ſie hat auch keine beſtimmte Rich-
tung: ſo iſt keine Urſache zu glauben, daß der Grund der Com-
poſition in dem liege, was der Verfaſſer von denen weiß, an
die er ſchreibt. Vielmehr kann dann der Grund der Compoſition
nur liegen in den Zuſtaͤnden und Verhaͤltniſſen des Verfaſſers ſelbſt.
Wir wiſſen, daß der Apoſtel Paulus, als er an die Chriſten
in Rom ſchrieb, noch in keinem beſtimmten Verhaͤltniſſe zu der
Roͤmiſchen Gemeinde als ſolcher ſtand. Wenn aber die lange
Reihe von Gruͤßen am Ende zum Briefe gehoͤren, was aber
einige Kritiker bezweifeln, ſo muͤſſen wir freilich zugeben, daß
der Apoſtel viele einzelne Perſonen in der Gemeinde gekannt.
Nehmen wir dazu die Notiz uͤber die Chriſten in Rom, welche
die Apoſtelgeſchichte giebt, ſo hat es nicht den Anſchein, als waͤre
die Gemeinde in Rom eben ſo conſolidirt geweſen, wie andere.
Dieß wuͤrde ſich daraus erklaͤren, daß es in Rom immer eine
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 241. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/265>, abgerufen am 05.12.2024.
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