Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

stellern Notizen über die neutest. Zeit, aber sind sie auch fest und
sicher? Wir finden hier z. B. die Notiz von einer zweiten Römi-
schen Gefangenschaft des Apostels Paulus. Einige sehen darin
eine bestimmte historische Nachricht, Andere eine bloße Tradition,
die ursprünglich eine exegetische Conjectur war, welche allmählich
als Thatsache genommen wurde. Man kann sagen, die christlichen
Schriftsteller, bei denen wir jene Notiz finden, gingen aus von
der Vorstellung, daß alles Einzelne in den neutest. Schriftstellen
vom heil. Geiste eingegeben sei, und daß auch alles wahr gewor-
den sein müsse, was sie sagen. So meinte man auch, daß Pau-
lus nach Spanien müsse gekommen sein wegen Röm. 15, 24.
Finden wir nun, daß die Nachricht von der zweiten Gefangen-
schaft immer mit der Nachricht von des Apostels Reise nach Spa-
nien zusammenhängt, so deutet das auf Röm. 15, 24 zurück,
und so hat wahrscheinlich die ganze Erzählung darin ihren Grund.
Je nachdem man nun die Sache so oder so ansieht, entsteht na-
türlich für die Paul. Briefe, welche darauf bezogen werden kön-
nen, eine andere Exegese. So hat Jemand 1) kürzlich sogar
den kritischen Kanon aufgestellt, daß alles dasjenige von Paulus,
was man seiner wahren Zeit nach in der Apostelgeschichte nicht
nachweisen kann, oder was offenbar aus anderer Zeit ist, in
die Zeit nach der ersten Gefangenschaft falle. Dadurch entsteht
eine ganz andere Ordnung der Paulinischen Briefe, die spätesten
werden die frühesten u. s. w. So zeigt sich auch hier, wie die
Exegese auf der Kritik beruht, aber auch die hermeneutische Kunst
wieder die Basis der Kritik sein muß.

Sollen wir das Ganze aus dem Einzelnen und das Ein-
zelne aus dem Ganzen verstehen, so befinden wir uns in dem
Verhältniß gegenseitiger Bedingtheit. Sezen wir nun auch bei
der Lösung dieser Aufgabe dieselben hermeneutischen Principien,

1) Köhler, Versuch über die Abfassungszeit der epistolischen Schriften im
N. T. und der Apokalypse 1830. 8.

ſtellern Notizen uͤber die neuteſt. Zeit, aber ſind ſie auch feſt und
ſicher? Wir finden hier z. B. die Notiz von einer zweiten Roͤmi-
ſchen Gefangenſchaft des Apoſtels Paulus. Einige ſehen darin
eine beſtimmte hiſtoriſche Nachricht, Andere eine bloße Tradition,
die urſpruͤnglich eine exegetiſche Conjectur war, welche allmaͤhlich
als Thatſache genommen wurde. Man kann ſagen, die chriſtlichen
Schriftſteller, bei denen wir jene Notiz finden, gingen aus von
der Vorſtellung, daß alles Einzelne in den neuteſt. Schriftſtellen
vom heil. Geiſte eingegeben ſei, und daß auch alles wahr gewor-
den ſein muͤſſe, was ſie ſagen. So meinte man auch, daß Pau-
lus nach Spanien muͤſſe gekommen ſein wegen Roͤm. 15, 24.
Finden wir nun, daß die Nachricht von der zweiten Gefangen-
ſchaft immer mit der Nachricht von des Apoſtels Reiſe nach Spa-
nien zuſammenhaͤngt, ſo deutet das auf Roͤm. 15, 24 zuruͤck,
und ſo hat wahrſcheinlich die ganze Erzaͤhlung darin ihren Grund.
Je nachdem man nun die Sache ſo oder ſo anſieht, entſteht na-
tuͤrlich fuͤr die Paul. Briefe, welche darauf bezogen werden koͤn-
nen, eine andere Exegeſe. So hat Jemand 1) kuͤrzlich ſogar
den kritiſchen Kanon aufgeſtellt, daß alles dasjenige von Paulus,
was man ſeiner wahren Zeit nach in der Apoſtelgeſchichte nicht
nachweiſen kann, oder was offenbar aus anderer Zeit iſt, in
die Zeit nach der erſten Gefangenſchaft falle. Dadurch entſteht
eine ganz andere Ordnung der Pauliniſchen Briefe, die ſpaͤteſten
werden die fruͤheſten u. ſ. w. So zeigt ſich auch hier, wie die
Exegeſe auf der Kritik beruht, aber auch die hermeneutiſche Kunſt
wieder die Baſis der Kritik ſein muß.

Sollen wir das Ganze aus dem Einzelnen und das Ein-
zelne aus dem Ganzen verſtehen, ſo befinden wir uns in dem
Verhaͤltniß gegenſeitiger Bedingtheit. Sezen wir nun auch bei
der Loͤſung dieſer Aufgabe dieſelben hermeneutiſchen Principien,

1) Koͤhler, Verſuch uͤber die Abfaſſungszeit der epiſtoliſchen Schriften im
N. T. und der Apokalypſe 1830. 8.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0271" n="247"/>
&#x017F;tellern Notizen u&#x0364;ber die neute&#x017F;t. Zeit, aber &#x017F;ind &#x017F;ie auch fe&#x017F;t und<lb/>
&#x017F;icher? Wir finden hier z. B. die Notiz von einer zweiten Ro&#x0364;mi-<lb/>
&#x017F;chen Gefangen&#x017F;chaft des Apo&#x017F;tels Paulus. Einige &#x017F;ehen darin<lb/>
eine be&#x017F;timmte hi&#x017F;tori&#x017F;che Nachricht, Andere eine bloße Tradition,<lb/>
die ur&#x017F;pru&#x0364;nglich eine exegeti&#x017F;che Conjectur war, welche allma&#x0364;hlich<lb/>
als That&#x017F;ache genommen wurde. Man kann &#x017F;agen, die chri&#x017F;tlichen<lb/>
Schrift&#x017F;teller, bei denen wir jene Notiz finden, gingen aus von<lb/>
der Vor&#x017F;tellung, daß alles Einzelne in den neute&#x017F;t. Schrift&#x017F;tellen<lb/>
vom heil. Gei&#x017F;te eingegeben &#x017F;ei, und daß auch alles wahr gewor-<lb/>
den &#x017F;ein mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, was &#x017F;ie &#x017F;agen. So meinte man auch, daß Pau-<lb/>
lus nach Spanien mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e gekommen &#x017F;ein wegen Ro&#x0364;m. 15, 24.<lb/>
Finden wir nun, daß die Nachricht von der zweiten Gefangen-<lb/>
&#x017F;chaft immer mit der Nachricht von des Apo&#x017F;tels Rei&#x017F;e nach Spa-<lb/>
nien zu&#x017F;ammenha&#x0364;ngt, &#x017F;o deutet das auf Ro&#x0364;m. 15, 24 zuru&#x0364;ck,<lb/>
und &#x017F;o hat wahr&#x017F;cheinlich die ganze Erza&#x0364;hlung darin ihren Grund.<lb/>
Je nachdem man nun die Sache &#x017F;o oder &#x017F;o an&#x017F;ieht, ent&#x017F;teht na-<lb/>
tu&#x0364;rlich fu&#x0364;r die Paul. Briefe, welche darauf bezogen werden ko&#x0364;n-<lb/>
nen, eine andere Exege&#x017F;e. So hat Jemand <note place="foot" n="1)">Ko&#x0364;hler, Ver&#x017F;uch u&#x0364;ber die Abfa&#x017F;&#x017F;ungszeit der epi&#x017F;toli&#x017F;chen Schriften im<lb/>
N. T. und der Apokalyp&#x017F;e 1830. 8.</note> ku&#x0364;rzlich &#x017F;ogar<lb/>
den kriti&#x017F;chen Kanon aufge&#x017F;tellt, daß alles dasjenige von Paulus,<lb/>
was man &#x017F;einer wahren Zeit nach in der Apo&#x017F;telge&#x017F;chichte nicht<lb/>
nachwei&#x017F;en kann, oder was offenbar aus anderer Zeit i&#x017F;t, in<lb/>
die Zeit nach der er&#x017F;ten Gefangen&#x017F;chaft falle. Dadurch ent&#x017F;teht<lb/>
eine ganz andere Ordnung der Paulini&#x017F;chen Briefe, die &#x017F;pa&#x0364;te&#x017F;ten<lb/>
werden die fru&#x0364;he&#x017F;ten u. &#x017F;. w. So zeigt &#x017F;ich auch hier, wie die<lb/>
Exege&#x017F;e auf der Kritik beruht, aber auch die hermeneuti&#x017F;che Kun&#x017F;t<lb/>
wieder die Ba&#x017F;is der Kritik &#x017F;ein muß.</p><lb/>
              <p>Sollen wir das Ganze aus dem Einzelnen und das Ein-<lb/>
zelne aus dem Ganzen ver&#x017F;tehen, &#x017F;o befinden wir uns in dem<lb/>
Verha&#x0364;ltniß gegen&#x017F;eitiger Bedingtheit. Sezen wir nun auch bei<lb/>
der Lo&#x0364;&#x017F;ung die&#x017F;er Aufgabe die&#x017F;elben hermeneuti&#x017F;chen Principien,<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[247/0271] ſtellern Notizen uͤber die neuteſt. Zeit, aber ſind ſie auch feſt und ſicher? Wir finden hier z. B. die Notiz von einer zweiten Roͤmi- ſchen Gefangenſchaft des Apoſtels Paulus. Einige ſehen darin eine beſtimmte hiſtoriſche Nachricht, Andere eine bloße Tradition, die urſpruͤnglich eine exegetiſche Conjectur war, welche allmaͤhlich als Thatſache genommen wurde. Man kann ſagen, die chriſtlichen Schriftſteller, bei denen wir jene Notiz finden, gingen aus von der Vorſtellung, daß alles Einzelne in den neuteſt. Schriftſtellen vom heil. Geiſte eingegeben ſei, und daß auch alles wahr gewor- den ſein muͤſſe, was ſie ſagen. So meinte man auch, daß Pau- lus nach Spanien muͤſſe gekommen ſein wegen Roͤm. 15, 24. Finden wir nun, daß die Nachricht von der zweiten Gefangen- ſchaft immer mit der Nachricht von des Apoſtels Reiſe nach Spa- nien zuſammenhaͤngt, ſo deutet das auf Roͤm. 15, 24 zuruͤck, und ſo hat wahrſcheinlich die ganze Erzaͤhlung darin ihren Grund. Je nachdem man nun die Sache ſo oder ſo anſieht, entſteht na- tuͤrlich fuͤr die Paul. Briefe, welche darauf bezogen werden koͤn- nen, eine andere Exegeſe. So hat Jemand 1) kuͤrzlich ſogar den kritiſchen Kanon aufgeſtellt, daß alles dasjenige von Paulus, was man ſeiner wahren Zeit nach in der Apoſtelgeſchichte nicht nachweiſen kann, oder was offenbar aus anderer Zeit iſt, in die Zeit nach der erſten Gefangenſchaft falle. Dadurch entſteht eine ganz andere Ordnung der Pauliniſchen Briefe, die ſpaͤteſten werden die fruͤheſten u. ſ. w. So zeigt ſich auch hier, wie die Exegeſe auf der Kritik beruht, aber auch die hermeneutiſche Kunſt wieder die Baſis der Kritik ſein muß. Sollen wir das Ganze aus dem Einzelnen und das Ein- zelne aus dem Ganzen verſtehen, ſo befinden wir uns in dem Verhaͤltniß gegenſeitiger Bedingtheit. Sezen wir nun auch bei der Loͤſung dieſer Aufgabe dieſelben hermeneutiſchen Principien, 1) Koͤhler, Verſuch uͤber die Abfaſſungszeit der epiſtoliſchen Schriften im N. T. und der Apokalypſe 1830. 8.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/271
Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/271>, abgerufen am 05.12.2024.