Der Umfang derselben aber ist weiter als das classische, ja als das litterarische Gebiet überhaupt. In ihrer vollen Allgemein- heit gefaßt, haben wir sie im täglichen Leben beständig zu üben. So oft sich Jemand verspricht, haben wir einen Fall für die philologische Kritik, ungeachtet kein geschriebener Buchstabe vor- handen ist. Was eins sein soll, Gedanke und Rede, ist zweier- lei geworden. Wer sich verspricht, sagt anderes als er denkt. So haben wir eine Differenz. Die Differenz kann oft im Au- genblicke nicht gleich bemerkt werden, sondern erst hintennach. Man mag sie gleich bemerken, will aber nicht unterbrechen, um eine Erklärung zu fordern, und so sucht man selbst auszumitteln, was er hat sagen wollen. -- Immer aber soll in solchen Fällen ausgemittelt werden, was der Redende wirklich hat sagen wollen, da, was er gesagt hat, ein anderes ist. Eben so tritt die Auf- gabe ein bei den Schreibfehlern in Urschriften und Abschriften. Aber selbst Aufgaben der höheren Kritik kommen im gewöhnlichen Leben vor, z. B. bei anonymen Schriften. So haben die zu- sammengeseztesten kritischen Probleme des classischen Alterthums überall im Leben wenigstens ihr Analogon, und die Allgemeinheit der Aufgabe ist unverkennbar.
Vergleichen wir nun die drei kritischen Hauptaufgaben mit einander, so finden wir, daß die doctrinale Kritik, die ethische mit umfassend, eine ganz allgemeine Aufgabe hat, die überall vorkommt in jedem Zustande der Menschen. Sie bezieht sich auf das Verhältniß des als Einzelnen Bestimmten zum Begriff. Hier liegen die lezten Gründe auf dem dialektischen und speculativen Gebiete. Die historische Kritik ist eine Aufgabe, die ebenfalls überall vorkommt, wo Vergangenheit und Gegenwart einander gegen- übertreten. Da ist immer eine Vergleichung zwischen der Thatsache (in der Vergangenheit) und der Relation (in der Gegenwart) anzu- stellen. Die Aufgabe ist überall, wo es geschichtliches Dasein giebt.
Die philologische Kritik hat es zu thun mit der allmählichen Umgestaltung, die durch das Spiel zwischen Aufnehmen und Wie- dergeben, Receptivität und Spontaneität entsteht.
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Der Umfang derſelben aber iſt weiter als das claſſiſche, ja als das litterariſche Gebiet uͤberhaupt. In ihrer vollen Allgemein- heit gefaßt, haben wir ſie im taͤglichen Leben beſtaͤndig zu uͤben. So oft ſich Jemand verſpricht, haben wir einen Fall fuͤr die philologiſche Kritik, ungeachtet kein geſchriebener Buchſtabe vor- handen iſt. Was eins ſein ſoll, Gedanke und Rede, iſt zweier- lei geworden. Wer ſich verſpricht, ſagt anderes als er denkt. So haben wir eine Differenz. Die Differenz kann oft im Au- genblicke nicht gleich bemerkt werden, ſondern erſt hintennach. Man mag ſie gleich bemerken, will aber nicht unterbrechen, um eine Erklaͤrung zu fordern, und ſo ſucht man ſelbſt auszumitteln, was er hat ſagen wollen. — Immer aber ſoll in ſolchen Faͤllen ausgemittelt werden, was der Redende wirklich hat ſagen wollen, da, was er geſagt hat, ein anderes iſt. Eben ſo tritt die Auf- gabe ein bei den Schreibfehlern in Urſchriften und Abſchriften. Aber ſelbſt Aufgaben der hoͤheren Kritik kommen im gewoͤhnlichen Leben vor, z. B. bei anonymen Schriften. So haben die zu- ſammengeſezteſten kritiſchen Probleme des claſſiſchen Alterthums uͤberall im Leben wenigſtens ihr Analogon, und die Allgemeinheit der Aufgabe iſt unverkennbar.
Vergleichen wir nun die drei kritiſchen Hauptaufgaben mit einander, ſo finden wir, daß die doctrinale Kritik, die ethiſche mit umfaſſend, eine ganz allgemeine Aufgabe hat, die uͤberall vorkommt in jedem Zuſtande der Menſchen. Sie bezieht ſich auf das Verhaͤltniß des als Einzelnen Beſtimmten zum Begriff. Hier liegen die lezten Gruͤnde auf dem dialektiſchen und ſpeculativen Gebiete. Die hiſtoriſche Kritik iſt eine Aufgabe, die ebenfalls uͤberall vorkommt, wo Vergangenheit und Gegenwart einander gegen- uͤbertreten. Da iſt immer eine Vergleichung zwiſchen der Thatſache (in der Vergangenheit) und der Relation (in der Gegenwart) anzu- ſtellen. Die Aufgabe iſt uͤberall, wo es geſchichtliches Daſein giebt.
Die philologiſche Kritik hat es zu thun mit der allmaͤhlichen Umgeſtaltung, die durch das Spiel zwiſchen Aufnehmen und Wie- dergeben, Receptivitaͤt und Spontaneitaͤt entſteht.
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Der Umfang derſelben aber iſt weiter als das claſſiſche, ja
als das litterariſche Gebiet uͤberhaupt. In ihrer vollen Allgemein-
heit gefaßt, haben wir ſie im taͤglichen Leben beſtaͤndig zu uͤben.
So oft ſich Jemand verſpricht, haben wir einen Fall fuͤr die
philologiſche Kritik, ungeachtet kein geſchriebener Buchſtabe vor-
handen iſt. Was eins ſein ſoll, Gedanke und Rede, iſt zweier-
lei geworden. Wer ſich verſpricht, ſagt anderes als er denkt.
So haben wir eine Differenz. Die Differenz kann oft im Au-
genblicke nicht gleich bemerkt werden, ſondern erſt hintennach.
Man mag ſie gleich bemerken, will aber nicht unterbrechen, um eine
Erklaͤrung zu fordern, und ſo ſucht man ſelbſt auszumitteln, was
er hat ſagen wollen. — Immer aber ſoll in ſolchen Faͤllen
ausgemittelt werden, was der Redende wirklich hat ſagen wollen,
da, was er geſagt hat, ein anderes iſt. Eben ſo tritt die Auf-
gabe ein bei den Schreibfehlern in Urſchriften und Abſchriften.
Aber ſelbſt Aufgaben der hoͤheren Kritik kommen im gewoͤhnlichen
Leben vor, z. B. bei anonymen Schriften. So haben die zu-
ſammengeſezteſten kritiſchen Probleme des claſſiſchen Alterthums
uͤberall im Leben wenigſtens ihr Analogon, und die Allgemeinheit
der Aufgabe iſt unverkennbar.
Vergleichen wir nun die drei kritiſchen Hauptaufgaben mit
einander, ſo finden wir, daß die doctrinale Kritik, die ethiſche
mit umfaſſend, eine ganz allgemeine Aufgabe hat, die uͤberall
vorkommt in jedem Zuſtande der Menſchen. Sie bezieht ſich auf
das Verhaͤltniß des als Einzelnen Beſtimmten zum Begriff. Hier
liegen die lezten Gruͤnde auf dem dialektiſchen und ſpeculativen
Gebiete. Die hiſtoriſche Kritik iſt eine Aufgabe, die ebenfalls uͤberall
vorkommt, wo Vergangenheit und Gegenwart einander gegen-
uͤbertreten. Da iſt immer eine Vergleichung zwiſchen der Thatſache
(in der Vergangenheit) und der Relation (in der Gegenwart) anzu-
ſtellen. Die Aufgabe iſt uͤberall, wo es geſchichtliches Daſein giebt.
Die philologiſche Kritik hat es zu thun mit der allmaͤhlichen
Umgeſtaltung, die durch das Spiel zwiſchen Aufnehmen und Wie-
dergeben, Receptivitaͤt und Spontaneitaͤt entſteht.
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/299>, abgerufen am 05.12.2024.
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