Wollten wir alle drei auf eine Einheit zu bringen suchen, so würde uns dieß zu weit abführen. Es fragt sich nur, wozu wir uns entschließen sollen, zur Subsumtion der philologischen unter die doctrinale oder unter die historische?
Thun wir das erstere, so würden wir sagen, die Aufgabe der philologischen sei, ein Urtheil zu fällen über die Treue der Überlieferung. Aber dieses Urtheil ist noch nicht die Lösung der Aufgabe selbst. Denn wenn ich weiß, hier habe ich einen richti- gen, dort einen unrichtigen Proceß, so ist das erste doch nur auf die Weise der Fall, daß das Einzelne nicht auf gewisse Weise getrübt worden ist, und nur in dem Falle, daß dieß ganz und gar nicht statt findet, wäre eine weitere Lösung der Aufgabe un- nöthig. Habe ich aber einen unrichtigen Proceß, so entsteht die Aufgabe, aus der Schrift die ursprüngliche Rede herzustellen. Diese Aufgabe aber ist in jener der doctrinalen Kritik noch nicht gelöst.
Subsumiren wir dagegen die philologische Kritik unter die historische, so trifft diese Subsumtion wenigstens die Lösung der philologischen Aufgabe selbst. Denn es gilt die ursprüngliche Thatsache aus den vorhandenen Zeugnissen herzustellen. Dieß scheint nun allerdings besser, aber was gewinnen wir? Wir hätten mehr als die Hälfte des Ganzen, wenn die historische Kri- tik schon eine durchgearbeitete technische Disciplin wäre, wenn sie feststehende allgemeine Regeln hätte. Das ist aber der Fall ganz und gar nicht. Die historische Kritik ist auch überall nur in ihren Anfängen, denn sie hat keine sichere Theorie, worauf wir die philologische Aufgabe zurückführen könnten.
Indessen haben wir durch die Vergleichung mit der histori- schen Kritik eine Formel gewonnen, worauf wir alle Aufgaben der philologischen Kritik zurückführen können, wenn wir den Fall so stellen, daß es überall die differenten Größen giebt, Thatsache und Relation, und ein zwischen beiden angenommenes Verhältniß, welches auszumitteln ist, ob es richtig ist oder nicht. Die Copie will eine genaue Abschrift des Originals sein. Das
Wollten wir alle drei auf eine Einheit zu bringen ſuchen, ſo wuͤrde uns dieß zu weit abfuͤhren. Es fragt ſich nur, wozu wir uns entſchließen ſollen, zur Subſumtion der philologiſchen unter die doctrinale oder unter die hiſtoriſche?
Thun wir das erſtere, ſo wuͤrden wir ſagen, die Aufgabe der philologiſchen ſei, ein Urtheil zu faͤllen uͤber die Treue der Überlieferung. Aber dieſes Urtheil iſt noch nicht die Loͤſung der Aufgabe ſelbſt. Denn wenn ich weiß, hier habe ich einen richti- gen, dort einen unrichtigen Proceß, ſo iſt das erſte doch nur auf die Weiſe der Fall, daß das Einzelne nicht auf gewiſſe Weiſe getruͤbt worden iſt, und nur in dem Falle, daß dieß ganz und gar nicht ſtatt findet, waͤre eine weitere Loͤſung der Aufgabe un- noͤthig. Habe ich aber einen unrichtigen Proceß, ſo entſteht die Aufgabe, aus der Schrift die urſpruͤngliche Rede herzuſtellen. Dieſe Aufgabe aber iſt in jener der doctrinalen Kritik noch nicht geloͤſt.
Subſumiren wir dagegen die philologiſche Kritik unter die hiſtoriſche, ſo trifft dieſe Subſumtion wenigſtens die Loͤſung der philologiſchen Aufgabe ſelbſt. Denn es gilt die urſpruͤngliche Thatſache aus den vorhandenen Zeugniſſen herzuſtellen. Dieß ſcheint nun allerdings beſſer, aber was gewinnen wir? Wir haͤtten mehr als die Haͤlfte des Ganzen, wenn die hiſtoriſche Kri- tik ſchon eine durchgearbeitete techniſche Disciplin waͤre, wenn ſie feſtſtehende allgemeine Regeln haͤtte. Das iſt aber der Fall ganz und gar nicht. Die hiſtoriſche Kritik iſt auch uͤberall nur in ihren Anfaͤngen, denn ſie hat keine ſichere Theorie, worauf wir die philologiſche Aufgabe zuruͤckfuͤhren koͤnnten.
Indeſſen haben wir durch die Vergleichung mit der hiſtori- ſchen Kritik eine Formel gewonnen, worauf wir alle Aufgaben der philologiſchen Kritik zuruͤckfuͤhren koͤnnen, wenn wir den Fall ſo ſtellen, daß es uͤberall die differenten Groͤßen giebt, Thatſache und Relation, und ein zwiſchen beiden angenommenes Verhaͤltniß, welches auszumitteln iſt, ob es richtig iſt oder nicht. Die Copie will eine genaue Abſchrift des Originals ſein. Das
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Wollten wir alle drei auf eine Einheit zu bringen ſuchen,
ſo wuͤrde uns dieß zu weit abfuͤhren. Es fragt ſich nur, wozu
wir uns entſchließen ſollen, zur Subſumtion der philologiſchen
unter die doctrinale oder unter die hiſtoriſche?
Thun wir das erſtere, ſo wuͤrden wir ſagen, die Aufgabe
der philologiſchen ſei, ein Urtheil zu faͤllen uͤber die Treue der
Überlieferung. Aber dieſes Urtheil iſt noch nicht die Loͤſung der
Aufgabe ſelbſt. Denn wenn ich weiß, hier habe ich einen richti-
gen, dort einen unrichtigen Proceß, ſo iſt das erſte doch nur auf
die Weiſe der Fall, daß das Einzelne nicht auf gewiſſe Weiſe
getruͤbt worden iſt, und nur in dem Falle, daß dieß ganz und
gar nicht ſtatt findet, waͤre eine weitere Loͤſung der Aufgabe un-
noͤthig. Habe ich aber einen unrichtigen Proceß, ſo entſteht die
Aufgabe, aus der Schrift die urſpruͤngliche Rede herzuſtellen.
Dieſe Aufgabe aber iſt in jener der doctrinalen Kritik noch nicht
geloͤſt.
Subſumiren wir dagegen die philologiſche Kritik unter die
hiſtoriſche, ſo trifft dieſe Subſumtion wenigſtens die Loͤſung
der philologiſchen Aufgabe ſelbſt. Denn es gilt die urſpruͤngliche
Thatſache aus den vorhandenen Zeugniſſen herzuſtellen. Dieß
ſcheint nun allerdings beſſer, aber was gewinnen wir? Wir
haͤtten mehr als die Haͤlfte des Ganzen, wenn die hiſtoriſche Kri-
tik ſchon eine durchgearbeitete techniſche Disciplin waͤre, wenn ſie
feſtſtehende allgemeine Regeln haͤtte. Das iſt aber der Fall ganz
und gar nicht. Die hiſtoriſche Kritik iſt auch uͤberall nur in ihren
Anfaͤngen, denn ſie hat keine ſichere Theorie, worauf wir die
philologiſche Aufgabe zuruͤckfuͤhren koͤnnten.
Indeſſen haben wir durch die Vergleichung mit der hiſtori-
ſchen Kritik eine Formel gewonnen, worauf wir alle Aufgaben
der philologiſchen Kritik zuruͤckfuͤhren koͤnnen, wenn wir den
Fall ſo ſtellen, daß es uͤberall die differenten Groͤßen giebt,
Thatſache und Relation, und ein zwiſchen beiden angenommenes
Verhaͤltniß, welches auszumitteln iſt, ob es richtig iſt oder nicht.
Die Copie will eine genaue Abſchrift des Originals ſein. Das
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/300>, abgerufen am 05.12.2024.
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