schem Wege gebessert hat. Dagegen gewinnt bei einem Schrift- steller, dessen Sprachbildung für die ganze Sprache von Werth ist, auch das Interesse zu wissen, was er wirklich geschrieben hat. Da ist also die kritische Aufgabe zu lösen. Als bloßer Leser kann man sich mit dem divinatorischen Verfahren um so mehr begnü- gen, je mehr man sich mit der Sprachweise des Schriftstellers vertraut glaubt, so daß man nach sicherer Analogie entscheiden kann. Also können wir im Allgemeinen sagen, daß, nimmt man die hermeneutische Aufgabe in ihrer Unmittelbarkeit, in sehr vielen Fällen die kritische Aufgabe gar nicht entsteht; erst vom allgemei- nen philologischen Standpunkte aus bekommt die kritische Aufgabe ihren wahren tieferen Sinn und ihre innere Nothwendigkeit.
Es giebt Fälle, wo im Lesen keine kritische Aufgabe zu ent- stehen scheint, weil wirklich ein bestimmter Sinn da ist, der auch dem Zusammenhange entspricht. Gleichwol kann es sein, daß das, was man liest, nicht wirklich vom Schriftsteller herrührt. Man hat also falsche Elemente für die Anschauung der Sprache des Schriftstellers, woraus dann Irrthümer entstehen. Hier kann die Ausscheidung nur durch die urkundliche Kritik entstehen.
Wie aber steht hier nun beides zu einander, das urkundliche und divinatorische Verfahren? Sollen wir sagen, das verglei- chende, urkundliche Verfahren solle bei der Voraussezung mecha- nischer Fehler so lange fortgesezt werden, bis eine divinatorische Entscheidung nicht mehr vorkommen kann? Das würde voraus- sezen, daß die Aufgabe durch das urkundliche Verfahren vollkom- men gelöst werden könne. Diese Voraussezung aber ist nicht rich- tig. Es werden die unmittelbarsten Aufgaben nicht durch die urkundliche Kritik gelöst, die divinatorische ist immer eine unent- behrliche Hülfe. Allein wenn wir von diesem Standpunkte aus- gehen, erscheint die divinatorische Kritik eben nur als Nothbehelf.
Suchen wir nun die Endpunkte des urkundlichen Verfah- rens näher zu bestimmen und fangen mit denen an, wo es nicht Statt findet. Haben wir z. B. ein eben erschienenes Buch, so ist vorauszusezen, alle Exemplare seien einander gleich. Es kom-
ſchem Wege gebeſſert hat. Dagegen gewinnt bei einem Schrift- ſteller, deſſen Sprachbildung fuͤr die ganze Sprache von Werth iſt, auch das Intereſſe zu wiſſen, was er wirklich geſchrieben hat. Da iſt alſo die kritiſche Aufgabe zu loͤſen. Als bloßer Leſer kann man ſich mit dem divinatoriſchen Verfahren um ſo mehr begnuͤ- gen, je mehr man ſich mit der Sprachweiſe des Schriftſtellers vertraut glaubt, ſo daß man nach ſicherer Analogie entſcheiden kann. Alſo koͤnnen wir im Allgemeinen ſagen, daß, nimmt man die hermeneutiſche Aufgabe in ihrer Unmittelbarkeit, in ſehr vielen Faͤllen die kritiſche Aufgabe gar nicht entſteht; erſt vom allgemei- nen philologiſchen Standpunkte aus bekommt die kritiſche Aufgabe ihren wahren tieferen Sinn und ihre innere Nothwendigkeit.
Es giebt Faͤlle, wo im Leſen keine kritiſche Aufgabe zu ent- ſtehen ſcheint, weil wirklich ein beſtimmter Sinn da iſt, der auch dem Zuſammenhange entſpricht. Gleichwol kann es ſein, daß das, was man lieſt, nicht wirklich vom Schriftſteller herruͤhrt. Man hat alſo falſche Elemente fuͤr die Anſchauung der Sprache des Schriftſtellers, woraus dann Irrthuͤmer entſtehen. Hier kann die Ausſcheidung nur durch die urkundliche Kritik entſtehen.
Wie aber ſteht hier nun beides zu einander, das urkundliche und divinatoriſche Verfahren? Sollen wir ſagen, das verglei- chende, urkundliche Verfahren ſolle bei der Vorausſezung mecha- niſcher Fehler ſo lange fortgeſezt werden, bis eine divinatoriſche Entſcheidung nicht mehr vorkommen kann? Das wuͤrde voraus- ſezen, daß die Aufgabe durch das urkundliche Verfahren vollkom- men geloͤſt werden koͤnne. Dieſe Vorausſezung aber iſt nicht rich- tig. Es werden die unmittelbarſten Aufgaben nicht durch die urkundliche Kritik geloͤſt, die divinatoriſche iſt immer eine unent- behrliche Huͤlfe. Allein wenn wir von dieſem Standpunkte aus- gehen, erſcheint die divinatoriſche Kritik eben nur als Nothbehelf.
Suchen wir nun die Endpunkte des urkundlichen Verfah- rens naͤher zu beſtimmen und fangen mit denen an, wo es nicht Statt findet. Haben wir z. B. ein eben erſchienenes Buch, ſo iſt vorauszuſezen, alle Exemplare ſeien einander gleich. Es kom-
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ſchem Wege gebeſſert hat. Dagegen gewinnt bei einem Schrift-
ſteller, deſſen Sprachbildung fuͤr die ganze Sprache von Werth
iſt, auch das Intereſſe zu wiſſen, was er wirklich geſchrieben hat.
Da iſt alſo die kritiſche Aufgabe zu loͤſen. Als bloßer Leſer kann
man ſich mit dem divinatoriſchen Verfahren um ſo mehr begnuͤ-
gen, je mehr man ſich mit der Sprachweiſe des Schriftſtellers
vertraut glaubt, ſo daß man nach ſicherer Analogie entſcheiden
kann. Alſo koͤnnen wir im Allgemeinen ſagen, daß, nimmt man
die hermeneutiſche Aufgabe in ihrer Unmittelbarkeit, in ſehr vielen
Faͤllen die kritiſche Aufgabe gar nicht entſteht; erſt vom allgemei-
nen philologiſchen Standpunkte aus bekommt die kritiſche Aufgabe
ihren wahren tieferen Sinn und ihre innere Nothwendigkeit.
Es giebt Faͤlle, wo im Leſen keine kritiſche Aufgabe zu ent-
ſtehen ſcheint, weil wirklich ein beſtimmter Sinn da iſt, der auch
dem Zuſammenhange entſpricht. Gleichwol kann es ſein, daß
das, was man lieſt, nicht wirklich vom Schriftſteller herruͤhrt.
Man hat alſo falſche Elemente fuͤr die Anſchauung der Sprache
des Schriftſtellers, woraus dann Irrthuͤmer entſtehen. Hier kann
die Ausſcheidung nur durch die urkundliche Kritik entſtehen.
Wie aber ſteht hier nun beides zu einander, das urkundliche
und divinatoriſche Verfahren? Sollen wir ſagen, das verglei-
chende, urkundliche Verfahren ſolle bei der Vorausſezung mecha-
niſcher Fehler ſo lange fortgeſezt werden, bis eine divinatoriſche
Entſcheidung nicht mehr vorkommen kann? Das wuͤrde voraus-
ſezen, daß die Aufgabe durch das urkundliche Verfahren vollkom-
men geloͤſt werden koͤnne. Dieſe Vorausſezung aber iſt nicht rich-
tig. Es werden die unmittelbarſten Aufgaben nicht durch die
urkundliche Kritik geloͤſt, die divinatoriſche iſt immer eine unent-
behrliche Huͤlfe. Allein wenn wir von dieſem Standpunkte aus-
gehen, erſcheint die divinatoriſche Kritik eben nur als Nothbehelf.
Suchen wir nun die Endpunkte des urkundlichen Verfah-
rens naͤher zu beſtimmen und fangen mit denen an, wo es nicht
Statt findet. Haben wir z. B. ein eben erſchienenes Buch, ſo
iſt vorauszuſezen, alle Exemplare ſeien einander gleich. Es kom-
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 292. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/316>, abgerufen am 05.12.2024.
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