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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

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Als Theologen können und dürfen wir bei der einfachen
hermeneutischen Aufgabe nicht stehen bleiben. Das N. T. bildet
ein besonderes Sprachgebiet und jedes ein in seiner Art einziges.
Wir haben zwar rückwärtsliegend die Apokryphen und die Septua-
ginta, und vorwärtsliegend das patristische Griechische, aber beides ist
bei aller Verwandtschaft doch wieder verschieden. Für den Zu-
sammenhang der hermeneutischen Operation haben wir uns so
viel als möglich Analogien zu verschaffen, aber aus dem N. T.
selbst, und so müssen wir so viel als möglich alles Einzelne ge-
nau bestimmen und den Ausdruck überall wo möglich auf den
ursprünglichen der Verfasser zurückführen. Unterlassen wir dieß,
so thun wir uns selbst Schaden, denn es entstehen dann Lücken
in der Analogie. Der nicht theologische Leser mag bei der ein-
fachen hermeneutischen Aufgabe stehen bleiben. Dem Theologen
liegt die genaueste Kenntniß des neutestam. Sprachgebrauchs ob,
und in Beziehung hierauf machen sogenannte Kleinigkeiten keinen
Unterschied. Wir sind also auf das ganze vollständige kritische
Verfahren angewiesen.

Wie stehen wir nun damit zu dem Herausgeber? Was hat
er zu leisten und was wir zu thun?

Wir müssen auf die erste Herausgabe des N. T. zurückge-
hen, d. h. auf den ersten Anfang des N. T. in seinem gegenwär-
tigen Zustande als gedrucktes Buch.

Es gab, ehe es gedruckt wurde, eine große Menge von Hand-
schriften aus verschiedenen Zeiten in verschiedenen Gegenden ge-
funden und in verschiedenen Gegenden geschrieben. Wie fing
man nun von diesem Zustande aus den Druck des N. T. an?
Man hatte einige Handschriften vor sich und machte aus diesen
einen gedruckten Text, ohne gerade bestimmt einer Handschrift
zu folgen, und ohne sich von dem Verfahren bestimmte Rechen-
schaft zu geben. So entstanden verschiedene gedruckte Texte.
Späterhin fixirte sich eine Gestalt, die aber nichts weniger als
nach bestimmten Principien gemacht ist, sondern aufs Gerathewol.
Dieser Text, die sogenannte recepta, beruht nicht auf Urkundli-

Als Theologen koͤnnen und duͤrfen wir bei der einfachen
hermeneutiſchen Aufgabe nicht ſtehen bleiben. Das N. T. bildet
ein beſonderes Sprachgebiet und jedes ein in ſeiner Art einziges.
Wir haben zwar ruͤckwaͤrtsliegend die Apokryphen und die Septua-
ginta, und vorwaͤrtsliegend das patriſtiſche Griechiſche, aber beides iſt
bei aller Verwandtſchaft doch wieder verſchieden. Fuͤr den Zu-
ſammenhang der hermeneutiſchen Operation haben wir uns ſo
viel als moͤglich Analogien zu verſchaffen, aber aus dem N. T.
ſelbſt, und ſo muͤſſen wir ſo viel als moͤglich alles Einzelne ge-
nau beſtimmen und den Ausdruck uͤberall wo moͤglich auf den
urſpruͤnglichen der Verfaſſer zuruͤckfuͤhren. Unterlaſſen wir dieß,
ſo thun wir uns ſelbſt Schaden, denn es entſtehen dann Luͤcken
in der Analogie. Der nicht theologiſche Leſer mag bei der ein-
fachen hermeneutiſchen Aufgabe ſtehen bleiben. Dem Theologen
liegt die genaueſte Kenntniß des neuteſtam. Sprachgebrauchs ob,
und in Beziehung hierauf machen ſogenannte Kleinigkeiten keinen
Unterſchied. Wir ſind alſo auf das ganze vollſtaͤndige kritiſche
Verfahren angewieſen.

Wie ſtehen wir nun damit zu dem Herausgeber? Was hat
er zu leiſten und was wir zu thun?

Wir muͤſſen auf die erſte Herausgabe des N. T. zuruͤckge-
hen, d. h. auf den erſten Anfang des N. T. in ſeinem gegenwaͤr-
tigen Zuſtande als gedrucktes Buch.

Es gab, ehe es gedruckt wurde, eine große Menge von Hand-
ſchriften aus verſchiedenen Zeiten in verſchiedenen Gegenden ge-
funden und in verſchiedenen Gegenden geſchrieben. Wie fing
man nun von dieſem Zuſtande aus den Druck des N. T. an?
Man hatte einige Handſchriften vor ſich und machte aus dieſen
einen gedruckten Text, ohne gerade beſtimmt einer Handſchrift
zu folgen, und ohne ſich von dem Verfahren beſtimmte Rechen-
ſchaft zu geben. So entſtanden verſchiedene gedruckte Texte.
Spaͤterhin fixirte ſich eine Geſtalt, die aber nichts weniger als
nach beſtimmten Principien gemacht iſt, ſondern aufs Gerathewol.
Dieſer Text, die ſogenannte recepta, beruht nicht auf Urkundli-

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[303/0327] Als Theologen koͤnnen und duͤrfen wir bei der einfachen hermeneutiſchen Aufgabe nicht ſtehen bleiben. Das N. T. bildet ein beſonderes Sprachgebiet und jedes ein in ſeiner Art einziges. Wir haben zwar ruͤckwaͤrtsliegend die Apokryphen und die Septua- ginta, und vorwaͤrtsliegend das patriſtiſche Griechiſche, aber beides iſt bei aller Verwandtſchaft doch wieder verſchieden. Fuͤr den Zu- ſammenhang der hermeneutiſchen Operation haben wir uns ſo viel als moͤglich Analogien zu verſchaffen, aber aus dem N. T. ſelbſt, und ſo muͤſſen wir ſo viel als moͤglich alles Einzelne ge- nau beſtimmen und den Ausdruck uͤberall wo moͤglich auf den urſpruͤnglichen der Verfaſſer zuruͤckfuͤhren. Unterlaſſen wir dieß, ſo thun wir uns ſelbſt Schaden, denn es entſtehen dann Luͤcken in der Analogie. Der nicht theologiſche Leſer mag bei der ein- fachen hermeneutiſchen Aufgabe ſtehen bleiben. Dem Theologen liegt die genaueſte Kenntniß des neuteſtam. Sprachgebrauchs ob, und in Beziehung hierauf machen ſogenannte Kleinigkeiten keinen Unterſchied. Wir ſind alſo auf das ganze vollſtaͤndige kritiſche Verfahren angewieſen. Wie ſtehen wir nun damit zu dem Herausgeber? Was hat er zu leiſten und was wir zu thun? Wir muͤſſen auf die erſte Herausgabe des N. T. zuruͤckge- hen, d. h. auf den erſten Anfang des N. T. in ſeinem gegenwaͤr- tigen Zuſtande als gedrucktes Buch. Es gab, ehe es gedruckt wurde, eine große Menge von Hand- ſchriften aus verſchiedenen Zeiten in verſchiedenen Gegenden ge- funden und in verſchiedenen Gegenden geſchrieben. Wie fing man nun von dieſem Zuſtande aus den Druck des N. T. an? Man hatte einige Handſchriften vor ſich und machte aus dieſen einen gedruckten Text, ohne gerade beſtimmt einer Handſchrift zu folgen, und ohne ſich von dem Verfahren beſtimmte Rechen- ſchaft zu geben. So entſtanden verſchiedene gedruckte Texte. Spaͤterhin fixirte ſich eine Geſtalt, die aber nichts weniger als nach beſtimmten Principien gemacht iſt, ſondern aufs Gerathewol. Dieſer Text, die ſogenannte recepta, beruht nicht auf Urkundli-

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Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/327>, abgerufen am 05.12.2024.