ditionen und einzelnen schriftlichen Aufsäzen entstanden sind, auf sehr secundäre Weise aus der zweiten und dritten Hand, so daß das erste Schriftliche schon nicht das rein Ursprüngliche mehr war in Beziehung auf viele Partieen. So können darin Aussprüche Christi vorkommen, von denen wir nicht wissen, in welchem Zu- sammenhange sie gesprochen sind. Wir sind dann auch nicht im Stande, den Sinn mit voller Bestimmtheit und in seinem gan- zen Umfange anzugeben. Wir haben Aussprüche, die bei allem Sententiösen doch gar nicht auf allgemeine Weise erklärt werden dürfen, weil sie in dem Falle mit andern in Widerspruch stehen würden. Wie weit sie aber zu beschränken seien, kann man bei so mangelhaften Umgebungen nicht wissen. Um diese zu ergänzen, kann man seine Zuflucht nicht zur divinatorischen Kritik nehmen, denn was wir vor uns haben ist nichts Falsches, sondern nur ein Unbestimmtes. Hier kann allein die historische Kritik eintre- ten, welche nach der Analogie des vollständigeren Factums, wel- ches vorliegt, das unvollkommene beurtheilt, und aus dem so construirten Zusammenhange bestimmt, in welchem Sinne das unbestimmte zu nehmen sei. -- Wo der Saz grammatisch und logisch vollständig und geschlossen ist und nur die Erklärungsmittel für einen einzelnen Ausdruck fehlen, da darf man nicht durch divinatorische Änderungen helfen wollen.
Die Operationen der divinatorischen Kritik dürfen freilich bei der Lesung des N. T. nicht ganz verbannt werden, obschon man vermuthen darf, daß ihr Bedürfniß geringer ist, als bei andern Schriften, wo so viel weniger Handschriften vorhanden sind. Aber in Beziehung auf die einfache hermeneutische Aufgabe darf man die divinatorische Kritik nur in den oben bezeichneten Gren- zen ausüben.
Allein der theologische Leser hat es nicht bloß jedesmal mit den einzelnen Stellen zu thun, die er vor sich hat, auch nicht bloß mit dem einzelnen Buche, sondern immer mit dem ganzen N. T. Dieses umfaßt einen gewissen Ideenkreis, so daß alles für das andere Parallele oder Analogie ist. Auch der Sprachgebrauch
ditionen und einzelnen ſchriftlichen Aufſaͤzen entſtanden ſind, auf ſehr ſecundaͤre Weiſe aus der zweiten und dritten Hand, ſo daß das erſte Schriftliche ſchon nicht das rein Urſpruͤngliche mehr war in Beziehung auf viele Partieen. So koͤnnen darin Ausſpruͤche Chriſti vorkommen, von denen wir nicht wiſſen, in welchem Zu- ſammenhange ſie geſprochen ſind. Wir ſind dann auch nicht im Stande, den Sinn mit voller Beſtimmtheit und in ſeinem gan- zen Umfange anzugeben. Wir haben Ausſpruͤche, die bei allem Sententioͤſen doch gar nicht auf allgemeine Weiſe erklaͤrt werden duͤrfen, weil ſie in dem Falle mit andern in Widerſpruch ſtehen wuͤrden. Wie weit ſie aber zu beſchraͤnken ſeien, kann man bei ſo mangelhaften Umgebungen nicht wiſſen. Um dieſe zu ergaͤnzen, kann man ſeine Zuflucht nicht zur divinatoriſchen Kritik nehmen, denn was wir vor uns haben iſt nichts Falſches, ſondern nur ein Unbeſtimmtes. Hier kann allein die hiſtoriſche Kritik eintre- ten, welche nach der Analogie des vollſtaͤndigeren Factums, wel- ches vorliegt, das unvollkommene beurtheilt, und aus dem ſo conſtruirten Zuſammenhange beſtimmt, in welchem Sinne das unbeſtimmte zu nehmen ſei. — Wo der Saz grammatiſch und logiſch vollſtaͤndig und geſchloſſen iſt und nur die Erklaͤrungsmittel fuͤr einen einzelnen Ausdruck fehlen, da darf man nicht durch divinatoriſche Änderungen helfen wollen.
Die Operationen der divinatoriſchen Kritik duͤrfen freilich bei der Leſung des N. T. nicht ganz verbannt werden, obſchon man vermuthen darf, daß ihr Beduͤrfniß geringer iſt, als bei andern Schriften, wo ſo viel weniger Handſchriften vorhanden ſind. Aber in Beziehung auf die einfache hermeneutiſche Aufgabe darf man die divinatoriſche Kritik nur in den oben bezeichneten Gren- zen ausuͤben.
Allein der theologiſche Leſer hat es nicht bloß jedesmal mit den einzelnen Stellen zu thun, die er vor ſich hat, auch nicht bloß mit dem einzelnen Buche, ſondern immer mit dem ganzen N. T. Dieſes umfaßt einen gewiſſen Ideenkreis, ſo daß alles fuͤr das andere Parallele oder Analogie iſt. Auch der Sprachgebrauch
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ditionen und einzelnen ſchriftlichen Aufſaͤzen entſtanden ſind, auf
ſehr ſecundaͤre Weiſe aus der zweiten und dritten Hand, ſo daß
das erſte Schriftliche ſchon nicht das rein Urſpruͤngliche mehr war
in Beziehung auf viele Partieen. So koͤnnen darin Ausſpruͤche
Chriſti vorkommen, von denen wir nicht wiſſen, in welchem Zu-
ſammenhange ſie geſprochen ſind. Wir ſind dann auch nicht im
Stande, den Sinn mit voller Beſtimmtheit und in ſeinem gan-
zen Umfange anzugeben. Wir haben Ausſpruͤche, die bei allem
Sententioͤſen doch gar nicht auf allgemeine Weiſe erklaͤrt werden
duͤrfen, weil ſie in dem Falle mit andern in Widerſpruch ſtehen
wuͤrden. Wie weit ſie aber zu beſchraͤnken ſeien, kann man bei
ſo mangelhaften Umgebungen nicht wiſſen. Um dieſe zu ergaͤnzen,
kann man ſeine Zuflucht nicht zur divinatoriſchen Kritik nehmen,
denn was wir vor uns haben iſt nichts Falſches, ſondern nur
ein Unbeſtimmtes. Hier kann allein die hiſtoriſche Kritik eintre-
ten, welche nach der Analogie des vollſtaͤndigeren Factums, wel-
ches vorliegt, das unvollkommene beurtheilt, und aus dem ſo
conſtruirten Zuſammenhange beſtimmt, in welchem Sinne das
unbeſtimmte zu nehmen ſei. — Wo der Saz grammatiſch und
logiſch vollſtaͤndig und geſchloſſen iſt und nur die Erklaͤrungsmittel
fuͤr einen einzelnen Ausdruck fehlen, da darf man nicht durch
divinatoriſche Änderungen helfen wollen.
Die Operationen der divinatoriſchen Kritik duͤrfen freilich bei
der Leſung des N. T. nicht ganz verbannt werden, obſchon man
vermuthen darf, daß ihr Beduͤrfniß geringer iſt, als bei andern
Schriften, wo ſo viel weniger Handſchriften vorhanden ſind.
Aber in Beziehung auf die einfache hermeneutiſche Aufgabe darf
man die divinatoriſche Kritik nur in den oben bezeichneten Gren-
zen ausuͤben.
Allein der theologiſche Leſer hat es nicht bloß jedesmal mit
den einzelnen Stellen zu thun, die er vor ſich hat, auch nicht
bloß mit dem einzelnen Buche, ſondern immer mit dem ganzen
N. T. Dieſes umfaßt einen gewiſſen Ideenkreis, ſo daß alles fuͤr
das andere Parallele oder Analogie iſt. Auch der Sprachgebrauch
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 312. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/336>, abgerufen am 05.12.2024.
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