ist ein Ganzes, bei allen Differenzen durch das Hervortreten des Hebraismus doch so sehr ein abgeschlossenes Ganzes, daß wir mit philologischem Interesse bei jeder Stelle auch auf den Werth derselben für den Sprachgebrauch des ganzen N. T. und speciell des besondern Schriftstellers zu sehen haben. Um nun in dieser Beziehung von allem Einzelnen den vollständigsten Gebrauch zu machen, sind wir da berechtigt, über das Urkundliche hinauszugehen, und divinatorisch zu verfahren? Es kann eine Stelle logisch und grammatisch einen guten Sinn haben, auch einen christlichen, der Ausdruck kann auf dem Gebiete der neutestam. Sprache überhaupt liegen, aber es kann etwas darin sein, was dem besondern Sprach- gebrauch des bestimmten Schriftstellers widerspricht. Entsteht dar- aus nun schon unmittelbar die Berechtigung zu einem divinatori- schen Verfahren? Nein. Ein solches Verfahren wäre ziemlich lax. Denn woher ist die Analogie, die man sich gebildet? Wenn doch aus eben den Texten, worin es noch Differenzen, Willkühr- lichkeiten giebt, worin die Täuschungen für das Auge noch nicht gänzlich vermieden sind, so muß man sagen, daß eine solche Ana- logie keine Sicherheit hat, das Ursprüngliche des Schriftstellers zu enthalten. Man wird auch fragen müssen, ob denn der Stel- len für jene Analogie so viel sind, daß uns darin die constante Weise des Schriftstellers gegeben ist? Haben wir alles, was er geschrieben hat? Kurz wir haben nicht Hülfsmittel genug, um berechtigende Analogien zu bilden aus dem, wogegen sich im Allgemeinen nichts einwenden läßt. Die Versuche spezieller Sprachcharakteristik sind gut, nur muß man nicht zu viel Werth darauf legen und glauben, es sei etwas festes. Wenn Jemand sagt, der eine Schriftsteller sage Iesous Khristos, der andere Khristos Iesous u. s. w., so sind das alles Dinge, die in den Handschriften sehr variiren, wie sie dann auch so sehr in der Hand der Abschreiber lagen, daß unmöglich ist, auf die ur- sprüngliche Hand des Schriftstellers selbst zurückzugehen.
Überhaupt können wir nicht berechtigt sein, im N. T. die divi- natorische Kritik vorwalten zu lassen um eines allgemeinen In-
iſt ein Ganzes, bei allen Differenzen durch das Hervortreten des Hebraismus doch ſo ſehr ein abgeſchloſſenes Ganzes, daß wir mit philologiſchem Intereſſe bei jeder Stelle auch auf den Werth derſelben fuͤr den Sprachgebrauch des ganzen N. T. und ſpeciell des beſondern Schriftſtellers zu ſehen haben. Um nun in dieſer Beziehung von allem Einzelnen den vollſtaͤndigſten Gebrauch zu machen, ſind wir da berechtigt, uͤber das Urkundliche hinauszugehen, und divinatoriſch zu verfahren? Es kann eine Stelle logiſch und grammatiſch einen guten Sinn haben, auch einen chriſtlichen, der Ausdruck kann auf dem Gebiete der neuteſtam. Sprache uͤberhaupt liegen, aber es kann etwas darin ſein, was dem beſondern Sprach- gebrauch des beſtimmten Schriftſtellers widerſpricht. Entſteht dar- aus nun ſchon unmittelbar die Berechtigung zu einem divinatori- ſchen Verfahren? Nein. Ein ſolches Verfahren waͤre ziemlich lax. Denn woher iſt die Analogie, die man ſich gebildet? Wenn doch aus eben den Texten, worin es noch Differenzen, Willkuͤhr- lichkeiten giebt, worin die Taͤuſchungen fuͤr das Auge noch nicht gaͤnzlich vermieden ſind, ſo muß man ſagen, daß eine ſolche Ana- logie keine Sicherheit hat, das Urſpruͤngliche des Schriftſtellers zu enthalten. Man wird auch fragen muͤſſen, ob denn der Stel- len fuͤr jene Analogie ſo viel ſind, daß uns darin die conſtante Weiſe des Schriftſtellers gegeben iſt? Haben wir alles, was er geſchrieben hat? Kurz wir haben nicht Huͤlfsmittel genug, um berechtigende Analogien zu bilden aus dem, wogegen ſich im Allgemeinen nichts einwenden laͤßt. Die Verſuche ſpezieller Sprachcharakteriſtik ſind gut, nur muß man nicht zu viel Werth darauf legen und glauben, es ſei etwas feſtes. Wenn Jemand ſagt, der eine Schriftſteller ſage Ἰησοῦς Χϱιστὸς, der andere Χϱιστὸς Ἰησοῦς u. ſ. w., ſo ſind das alles Dinge, die in den Handſchriften ſehr variiren, wie ſie dann auch ſo ſehr in der Hand der Abſchreiber lagen, daß unmoͤglich iſt, auf die ur- ſpruͤngliche Hand des Schriftſtellers ſelbſt zuruͤckzugehen.
Überhaupt koͤnnen wir nicht berechtigt ſein, im N. T. die divi- natoriſche Kritik vorwalten zu laſſen um eines allgemeinen In-
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iſt ein Ganzes, bei allen Differenzen durch das Hervortreten des
Hebraismus doch ſo ſehr ein abgeſchloſſenes Ganzes, daß wir
mit philologiſchem Intereſſe bei jeder Stelle auch auf den Werth
derſelben fuͤr den Sprachgebrauch des ganzen N. T. und ſpeciell
des beſondern Schriftſtellers zu ſehen haben. Um nun in dieſer
Beziehung von allem Einzelnen den vollſtaͤndigſten Gebrauch zu
machen, ſind wir da berechtigt, uͤber das Urkundliche hinauszugehen,
und divinatoriſch zu verfahren? Es kann eine Stelle logiſch und
grammatiſch einen guten Sinn haben, auch einen chriſtlichen, der
Ausdruck kann auf dem Gebiete der neuteſtam. Sprache uͤberhaupt
liegen, aber es kann etwas darin ſein, was dem beſondern Sprach-
gebrauch des beſtimmten Schriftſtellers widerſpricht. Entſteht dar-
aus nun ſchon unmittelbar die Berechtigung zu einem divinatori-
ſchen Verfahren? Nein. Ein ſolches Verfahren waͤre ziemlich
lax. Denn woher iſt die Analogie, die man ſich gebildet? Wenn
doch aus eben den Texten, worin es noch Differenzen, Willkuͤhr-
lichkeiten giebt, worin die Taͤuſchungen fuͤr das Auge noch nicht
gaͤnzlich vermieden ſind, ſo muß man ſagen, daß eine ſolche Ana-
logie keine Sicherheit hat, das Urſpruͤngliche des Schriftſtellers
zu enthalten. Man wird auch fragen muͤſſen, ob denn der Stel-
len fuͤr jene Analogie ſo viel ſind, daß uns darin die conſtante
Weiſe des Schriftſtellers gegeben iſt? Haben wir alles, was er
geſchrieben hat? Kurz wir haben nicht Huͤlfsmittel genug, um
berechtigende Analogien zu bilden aus dem, wogegen ſich im
Allgemeinen nichts einwenden laͤßt. Die Verſuche ſpezieller
Sprachcharakteriſtik ſind gut, nur muß man nicht zu viel
Werth darauf legen und glauben, es ſei etwas feſtes. Wenn
Jemand ſagt, der eine Schriftſteller ſage Ἰησοῦς Χϱιστὸς, der
andere Χϱιστὸς Ἰησοῦς u. ſ. w., ſo ſind das alles Dinge, die
in den Handſchriften ſehr variiren, wie ſie dann auch ſo ſehr in
der Hand der Abſchreiber lagen, daß unmoͤglich iſt, auf die ur-
ſpruͤngliche Hand des Schriftſtellers ſelbſt zuruͤckzugehen.
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 313. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/337>, abgerufen am 05.12.2024.
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