Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

ist ein Ganzes, bei allen Differenzen durch das Hervortreten des
Hebraismus doch so sehr ein abgeschlossenes Ganzes, daß wir
mit philologischem Interesse bei jeder Stelle auch auf den Werth
derselben für den Sprachgebrauch des ganzen N. T. und speciell
des besondern Schriftstellers zu sehen haben. Um nun in dieser
Beziehung von allem Einzelnen den vollständigsten Gebrauch zu
machen, sind wir da berechtigt, über das Urkundliche hinauszugehen,
und divinatorisch zu verfahren? Es kann eine Stelle logisch und
grammatisch einen guten Sinn haben, auch einen christlichen, der
Ausdruck kann auf dem Gebiete der neutestam. Sprache überhaupt
liegen, aber es kann etwas darin sein, was dem besondern Sprach-
gebrauch des bestimmten Schriftstellers widerspricht. Entsteht dar-
aus nun schon unmittelbar die Berechtigung zu einem divinatori-
schen Verfahren? Nein. Ein solches Verfahren wäre ziemlich
lax. Denn woher ist die Analogie, die man sich gebildet? Wenn
doch aus eben den Texten, worin es noch Differenzen, Willkühr-
lichkeiten giebt, worin die Täuschungen für das Auge noch nicht
gänzlich vermieden sind, so muß man sagen, daß eine solche Ana-
logie keine Sicherheit hat, das Ursprüngliche des Schriftstellers
zu enthalten. Man wird auch fragen müssen, ob denn der Stel-
len für jene Analogie so viel sind, daß uns darin die constante
Weise des Schriftstellers gegeben ist? Haben wir alles, was er
geschrieben hat? Kurz wir haben nicht Hülfsmittel genug, um
berechtigende Analogien zu bilden aus dem, wogegen sich im
Allgemeinen nichts einwenden läßt. Die Versuche spezieller
Sprachcharakteristik sind gut, nur muß man nicht zu viel
Werth darauf legen und glauben, es sei etwas festes. Wenn
Jemand sagt, der eine Schriftsteller sage Iesous Khristos, der
andere Khristos Iesous u. s. w., so sind das alles Dinge, die
in den Handschriften sehr variiren, wie sie dann auch so sehr in
der Hand der Abschreiber lagen, daß unmöglich ist, auf die ur-
sprüngliche Hand des Schriftstellers selbst zurückzugehen.

Überhaupt können wir nicht berechtigt sein, im N. T. die divi-
natorische Kritik vorwalten zu lassen um eines allgemeinen In-

iſt ein Ganzes, bei allen Differenzen durch das Hervortreten des
Hebraismus doch ſo ſehr ein abgeſchloſſenes Ganzes, daß wir
mit philologiſchem Intereſſe bei jeder Stelle auch auf den Werth
derſelben fuͤr den Sprachgebrauch des ganzen N. T. und ſpeciell
des beſondern Schriftſtellers zu ſehen haben. Um nun in dieſer
Beziehung von allem Einzelnen den vollſtaͤndigſten Gebrauch zu
machen, ſind wir da berechtigt, uͤber das Urkundliche hinauszugehen,
und divinatoriſch zu verfahren? Es kann eine Stelle logiſch und
grammatiſch einen guten Sinn haben, auch einen chriſtlichen, der
Ausdruck kann auf dem Gebiete der neuteſtam. Sprache uͤberhaupt
liegen, aber es kann etwas darin ſein, was dem beſondern Sprach-
gebrauch des beſtimmten Schriftſtellers widerſpricht. Entſteht dar-
aus nun ſchon unmittelbar die Berechtigung zu einem divinatori-
ſchen Verfahren? Nein. Ein ſolches Verfahren waͤre ziemlich
lax. Denn woher iſt die Analogie, die man ſich gebildet? Wenn
doch aus eben den Texten, worin es noch Differenzen, Willkuͤhr-
lichkeiten giebt, worin die Taͤuſchungen fuͤr das Auge noch nicht
gaͤnzlich vermieden ſind, ſo muß man ſagen, daß eine ſolche Ana-
logie keine Sicherheit hat, das Urſpruͤngliche des Schriftſtellers
zu enthalten. Man wird auch fragen muͤſſen, ob denn der Stel-
len fuͤr jene Analogie ſo viel ſind, daß uns darin die conſtante
Weiſe des Schriftſtellers gegeben iſt? Haben wir alles, was er
geſchrieben hat? Kurz wir haben nicht Huͤlfsmittel genug, um
berechtigende Analogien zu bilden aus dem, wogegen ſich im
Allgemeinen nichts einwenden laͤßt. Die Verſuche ſpezieller
Sprachcharakteriſtik ſind gut, nur muß man nicht zu viel
Werth darauf legen und glauben, es ſei etwas feſtes. Wenn
Jemand ſagt, der eine Schriftſteller ſage Ἰησοῦς Χϱιστὸς, der
andere Χϱιστὸς Ἰησοῦς u. ſ. w., ſo ſind das alles Dinge, die
in den Handſchriften ſehr variiren, wie ſie dann auch ſo ſehr in
der Hand der Abſchreiber lagen, daß unmoͤglich iſt, auf die ur-
ſpruͤngliche Hand des Schriftſtellers ſelbſt zuruͤckzugehen.

Überhaupt koͤnnen wir nicht berechtigt ſein, im N. T. die divi-
natoriſche Kritik vorwalten zu laſſen um eines allgemeinen In-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0337" n="313"/>
i&#x017F;t ein Ganzes, bei allen Differenzen durch das Hervortreten des<lb/>
Hebraismus doch &#x017F;o &#x017F;ehr ein abge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enes Ganzes, daß wir<lb/>
mit philologi&#x017F;chem Intere&#x017F;&#x017F;e bei jeder Stelle auch auf den Werth<lb/>
der&#x017F;elben fu&#x0364;r den Sprachgebrauch des ganzen N. T. und &#x017F;peciell<lb/>
des be&#x017F;ondern Schrift&#x017F;tellers zu &#x017F;ehen haben. Um nun in die&#x017F;er<lb/>
Beziehung von allem Einzelnen den voll&#x017F;ta&#x0364;ndig&#x017F;ten Gebrauch zu<lb/>
machen, &#x017F;ind wir da berechtigt, u&#x0364;ber das Urkundliche hinauszugehen,<lb/>
und divinatori&#x017F;ch zu verfahren? Es kann eine Stelle logi&#x017F;ch und<lb/>
grammati&#x017F;ch einen guten Sinn haben, auch einen chri&#x017F;tlichen, der<lb/>
Ausdruck kann auf dem Gebiete der neute&#x017F;tam. Sprache u&#x0364;berhaupt<lb/>
liegen, aber es kann etwas darin &#x017F;ein, was dem be&#x017F;ondern Sprach-<lb/>
gebrauch des be&#x017F;timmten Schrift&#x017F;tellers wider&#x017F;pricht. Ent&#x017F;teht dar-<lb/>
aus nun &#x017F;chon unmittelbar die Berechtigung zu einem divinatori-<lb/>
&#x017F;chen Verfahren? Nein. Ein &#x017F;olches Verfahren wa&#x0364;re ziemlich<lb/>
lax. Denn woher i&#x017F;t die Analogie, die man &#x017F;ich gebildet? Wenn<lb/>
doch aus eben den Texten, worin es noch Differenzen, Willku&#x0364;hr-<lb/>
lichkeiten giebt, worin die Ta&#x0364;u&#x017F;chungen fu&#x0364;r das Auge noch nicht<lb/>
ga&#x0364;nzlich vermieden &#x017F;ind, &#x017F;o muß man &#x017F;agen, daß eine &#x017F;olche Ana-<lb/>
logie keine Sicherheit hat, das Ur&#x017F;pru&#x0364;ngliche des Schrift&#x017F;tellers<lb/>
zu enthalten. Man wird auch fragen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, ob denn der Stel-<lb/>
len fu&#x0364;r jene Analogie &#x017F;o viel &#x017F;ind, daß uns darin die con&#x017F;tante<lb/>
Wei&#x017F;e des Schrift&#x017F;tellers gegeben i&#x017F;t? Haben wir alles, was er<lb/>
ge&#x017F;chrieben hat? Kurz wir haben nicht Hu&#x0364;lfsmittel genug, um<lb/>
berechtigende Analogien zu bilden aus dem, wogegen &#x017F;ich im<lb/>
Allgemeinen nichts einwenden la&#x0364;ßt. Die Ver&#x017F;uche &#x017F;pezieller<lb/>
Sprachcharakteri&#x017F;tik &#x017F;ind gut, nur muß man nicht zu viel<lb/>
Werth darauf legen und glauben, es &#x017F;ei etwas fe&#x017F;tes. Wenn<lb/>
Jemand &#x017F;agt, der eine Schrift&#x017F;teller &#x017F;age &#x1F38;&#x03B7;&#x03C3;&#x03BF;&#x1FE6;&#x03C2; &#x03A7;&#x03F1;&#x03B9;&#x03C3;&#x03C4;&#x1F78;&#x03C2;, der<lb/>
andere &#x03A7;&#x03F1;&#x03B9;&#x03C3;&#x03C4;&#x1F78;&#x03C2; &#x1F38;&#x03B7;&#x03C3;&#x03BF;&#x1FE6;&#x03C2; u. &#x017F;. w., &#x017F;o &#x017F;ind das alles Dinge, die<lb/>
in den Hand&#x017F;chriften &#x017F;ehr variiren, wie &#x017F;ie dann auch &#x017F;o &#x017F;ehr in<lb/>
der Hand der Ab&#x017F;chreiber lagen, daß unmo&#x0364;glich i&#x017F;t, auf die ur-<lb/>
&#x017F;pru&#x0364;ngliche Hand des Schrift&#x017F;tellers &#x017F;elb&#x017F;t zuru&#x0364;ckzugehen.</p><lb/>
            <p>Überhaupt ko&#x0364;nnen wir nicht berechtigt &#x017F;ein, im N. T. die divi-<lb/>
natori&#x017F;che Kritik vorwalten zu la&#x017F;&#x017F;en um eines allgemeinen In-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[313/0337] iſt ein Ganzes, bei allen Differenzen durch das Hervortreten des Hebraismus doch ſo ſehr ein abgeſchloſſenes Ganzes, daß wir mit philologiſchem Intereſſe bei jeder Stelle auch auf den Werth derſelben fuͤr den Sprachgebrauch des ganzen N. T. und ſpeciell des beſondern Schriftſtellers zu ſehen haben. Um nun in dieſer Beziehung von allem Einzelnen den vollſtaͤndigſten Gebrauch zu machen, ſind wir da berechtigt, uͤber das Urkundliche hinauszugehen, und divinatoriſch zu verfahren? Es kann eine Stelle logiſch und grammatiſch einen guten Sinn haben, auch einen chriſtlichen, der Ausdruck kann auf dem Gebiete der neuteſtam. Sprache uͤberhaupt liegen, aber es kann etwas darin ſein, was dem beſondern Sprach- gebrauch des beſtimmten Schriftſtellers widerſpricht. Entſteht dar- aus nun ſchon unmittelbar die Berechtigung zu einem divinatori- ſchen Verfahren? Nein. Ein ſolches Verfahren waͤre ziemlich lax. Denn woher iſt die Analogie, die man ſich gebildet? Wenn doch aus eben den Texten, worin es noch Differenzen, Willkuͤhr- lichkeiten giebt, worin die Taͤuſchungen fuͤr das Auge noch nicht gaͤnzlich vermieden ſind, ſo muß man ſagen, daß eine ſolche Ana- logie keine Sicherheit hat, das Urſpruͤngliche des Schriftſtellers zu enthalten. Man wird auch fragen muͤſſen, ob denn der Stel- len fuͤr jene Analogie ſo viel ſind, daß uns darin die conſtante Weiſe des Schriftſtellers gegeben iſt? Haben wir alles, was er geſchrieben hat? Kurz wir haben nicht Huͤlfsmittel genug, um berechtigende Analogien zu bilden aus dem, wogegen ſich im Allgemeinen nichts einwenden laͤßt. Die Verſuche ſpezieller Sprachcharakteriſtik ſind gut, nur muß man nicht zu viel Werth darauf legen und glauben, es ſei etwas feſtes. Wenn Jemand ſagt, der eine Schriftſteller ſage Ἰησοῦς Χϱιστὸς, der andere Χϱιστὸς Ἰησοῦς u. ſ. w., ſo ſind das alles Dinge, die in den Handſchriften ſehr variiren, wie ſie dann auch ſo ſehr in der Hand der Abſchreiber lagen, daß unmoͤglich iſt, auf die ur- ſpruͤngliche Hand des Schriftſtellers ſelbſt zuruͤckzugehen. Überhaupt koͤnnen wir nicht berechtigt ſein, im N. T. die divi- natoriſche Kritik vorwalten zu laſſen um eines allgemeinen In-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/337
Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 313. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/337>, abgerufen am 05.12.2024.