hergestellt. Wer so ändert, kann es gut mit dem Leser meinen, um diesen vor Irrthum zu bewahren.
Ferner, es kann Jemand einen Schriftsteller zur Auctorität für seine Ansicht machen wollen. Der Schriftsteller ist damit nicht gerade im Widerspruch, aber er hat sie nicht gerade aus- gesprochen. Durch eine kleine Änderung macht man, daß der Autor sie auszusprechen scheint. Dieß ist zwar keine gute Absicht, denn es wird dem Verfasser untergeschoben, was sein Wissen und Willen nicht war. Es ist ein Unrecht gegen den Verfasser, allein die Absicht ist auch nicht bös gegen ihn, sondern gut für die Sache.
Zulezt läßt sich denken, daß Jemand eine Veränderung macht, um auf den Schriftsteller zu bringen, was er nicht gethan, ihn eines Irrthums zu zeihen, den er nicht begangen. Unter welchen Bedingungen läßt sich dieß sagen? Die Indicationen müssen sehr klar sein. Nur unter der Voraussezung eines persönlichen Partheiverhältnisses und unter der Bedingung, daß der Verfasser nicht mehr reclamiren kann, aber doch noch nicht so fern ist, daß die Änderung in seiner Schrift nicht Einfluß haben könnte. Solche Fälle kommen aber sehr selten vor. Wir wollen einen fingiren. Tertullian z. B. hat gegen den Marcion geschrieben. Seine Schrift ist eine Partheischrift. Wenn er nun oft Stellen von Marcion anführt, und wir wissen, daß er denselben wirklich oft falsch aufgefaßt hat, so war, da Marcion einen Kezernamen hatte, nicht mehr reclamiren konnte, auch die Sache in lebhafter Anregung war, leicht möglich, daß Tertullian des Mannes Worte verdrehete und ihm unterschob, woran dieser gar nicht gedacht hatte. Nur unter solchen Umständen kann so etwas vorkommen. --
Dagegen kann die pia fraus der Verfälschung aus guter Absicht bei gewissen Classen von Schriften sehr leicht vorkommen. Man hat dabei das Interesse, eine Schrift, einen Schriftsteller als Auctorität oder Zeugen aufzustellen.
Sind nun die, welche die Schriften im Alterthum verviel- fältigten, in dem Falle, daß man dergleichen absichtliche Verfäl- schungen von ihnen vermuthen kann?
hergeſtellt. Wer ſo aͤndert, kann es gut mit dem Leſer meinen, um dieſen vor Irrthum zu bewahren.
Ferner, es kann Jemand einen Schriftſteller zur Auctoritaͤt fuͤr ſeine Anſicht machen wollen. Der Schriftſteller iſt damit nicht gerade im Widerſpruch, aber er hat ſie nicht gerade aus- geſprochen. Durch eine kleine Änderung macht man, daß der Autor ſie auszuſprechen ſcheint. Dieß iſt zwar keine gute Abſicht, denn es wird dem Verfaſſer untergeſchoben, was ſein Wiſſen und Willen nicht war. Es iſt ein Unrecht gegen den Verfaſſer, allein die Abſicht iſt auch nicht boͤs gegen ihn, ſondern gut fuͤr die Sache.
Zulezt laͤßt ſich denken, daß Jemand eine Veraͤnderung macht, um auf den Schriftſteller zu bringen, was er nicht gethan, ihn eines Irrthums zu zeihen, den er nicht begangen. Unter welchen Bedingungen laͤßt ſich dieß ſagen? Die Indicationen muͤſſen ſehr klar ſein. Nur unter der Vorausſezung eines perſoͤnlichen Partheiverhaͤltniſſes und unter der Bedingung, daß der Verfaſſer nicht mehr reclamiren kann, aber doch noch nicht ſo fern iſt, daß die Änderung in ſeiner Schrift nicht Einfluß haben koͤnnte. Solche Faͤlle kommen aber ſehr ſelten vor. Wir wollen einen fingiren. Tertullian z. B. hat gegen den Marcion geſchrieben. Seine Schrift iſt eine Partheiſchrift. Wenn er nun oft Stellen von Marcion anfuͤhrt, und wir wiſſen, daß er denſelben wirklich oft falſch aufgefaßt hat, ſo war, da Marcion einen Kezernamen hatte, nicht mehr reclamiren konnte, auch die Sache in lebhafter Anregung war, leicht moͤglich, daß Tertullian des Mannes Worte verdrehete und ihm unterſchob, woran dieſer gar nicht gedacht hatte. Nur unter ſolchen Umſtaͤnden kann ſo etwas vorkommen. —
Dagegen kann die pia fraus der Verfaͤlſchung aus guter Abſicht bei gewiſſen Claſſen von Schriften ſehr leicht vorkommen. Man hat dabei das Intereſſe, eine Schrift, einen Schriftſteller als Auctoritaͤt oder Zeugen aufzuſtellen.
Sind nun die, welche die Schriften im Alterthum verviel- faͤltigten, in dem Falle, daß man dergleichen abſichtliche Verfaͤl- ſchungen von ihnen vermuthen kann?
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hergeſtellt. Wer ſo aͤndert, kann es gut mit dem Leſer meinen,
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Ferner, es kann Jemand einen Schriftſteller zur Auctoritaͤt
fuͤr ſeine Anſicht machen wollen. Der Schriftſteller iſt damit
nicht gerade im Widerſpruch, aber er hat ſie nicht gerade aus-
geſprochen. Durch eine kleine Änderung macht man, daß der
Autor ſie auszuſprechen ſcheint. Dieß iſt zwar keine gute Abſicht,
denn es wird dem Verfaſſer untergeſchoben, was ſein Wiſſen und
Willen nicht war. Es iſt ein Unrecht gegen den Verfaſſer, allein die
Abſicht iſt auch nicht boͤs gegen ihn, ſondern gut fuͤr die Sache.
Zulezt laͤßt ſich denken, daß Jemand eine Veraͤnderung macht,
um auf den Schriftſteller zu bringen, was er nicht gethan, ihn
eines Irrthums zu zeihen, den er nicht begangen. Unter welchen
Bedingungen laͤßt ſich dieß ſagen? Die Indicationen muͤſſen
ſehr klar ſein. Nur unter der Vorausſezung eines perſoͤnlichen
Partheiverhaͤltniſſes und unter der Bedingung, daß der Verfaſſer
nicht mehr reclamiren kann, aber doch noch nicht ſo fern iſt,
daß die Änderung in ſeiner Schrift nicht Einfluß haben koͤnnte.
Solche Faͤlle kommen aber ſehr ſelten vor. Wir wollen einen
fingiren. Tertullian z. B. hat gegen den Marcion geſchrieben.
Seine Schrift iſt eine Partheiſchrift. Wenn er nun oft Stellen
von Marcion anfuͤhrt, und wir wiſſen, daß er denſelben wirklich
oft falſch aufgefaßt hat, ſo war, da Marcion einen Kezernamen
hatte, nicht mehr reclamiren konnte, auch die Sache in lebhafter
Anregung war, leicht moͤglich, daß Tertullian des Mannes Worte
verdrehete und ihm unterſchob, woran dieſer gar nicht gedacht
hatte. Nur unter ſolchen Umſtaͤnden kann ſo etwas vorkommen. —
Dagegen kann die pia fraus der Verfaͤlſchung aus guter
Abſicht bei gewiſſen Claſſen von Schriften ſehr leicht vorkommen.
Man hat dabei das Intereſſe, eine Schrift, einen Schriftſteller
als Auctoritaͤt oder Zeugen aufzuſtellen.
Sind nun die, welche die Schriften im Alterthum verviel-
faͤltigten, in dem Falle, daß man dergleichen abſichtliche Verfaͤl-
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 328. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/352>, abgerufen am 05.12.2024.
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