nehmen könnten, fehle, denn es stehe doch irgendwo und gebe einen guten Sinn, -- was soll man dazu sagen? Also irgend- wo macht man keinen Text! Es kommt ja weder bei der einfa- chen hermeneutischen Aufgabe, noch auf dem allgemeinen philolo- gischen Standpunkte darauf an, ob ein guter Sinn da ist, sondern den ursprünglichen Text herzustellen. Daher können Regeln, wie die aus Griesbach erwähnten, nicht eher in das Urtheil eintreten, als bis das Verhältniß der vorhandenen ver- schiedenen Lesearten diplomatisch bestimmt, und ausgemacht ist, daß zwischen den verschiedenen Lesearten nicht aus dem Gesichts- punkt der mechanischen Irrungen entschieden werden kann.
Griesbach stellt auch den Kanon auf, daß überall die schwieri- gere und dunklere der leichteren und klareren Leseart vorzuziehen sei, eben so das Ungewöhnliche dem Gewöhnlichen, das Härtere dem Wei- chen. Dieser Kanon sezt ebenfalls wieder absichtliche Änderung voraus. Unter dieser Voraussezung ist's ganz richtig, der dunklern Leseart den Vorzug zu geben. Aber was das Ungewöhnliche betrifft, so kann dieß gerade das Falsche sein, weil es durch mechanische Ir- rung entstanden sein kann. Erst wenn es mit dieser Erklärung nicht mehr gehen will, darf ich eine absichtliche Änderung vermuthen.
Ferner sagt Griesbach, die kürzere Leseart sei der längeren vorzuziehen, wenn es, wie er hinzusezt, jener nicht an allen Zeug- nissen fehle. Diese Regel sezt wieder absichtliche Änderungen vor- aus. Vergleichen wir aber damit einen andern Kanon, wonach die Abweichung, oder bestimmter die kürzere Leseart, welche durch Irrung des Auges bei Ähnlichkeit einiger Sylben entstanden, zu verwerfen ist, so entsteht ein Conflict zwischen den beiden Regeln. Während also der Eine sagt, die kürzere Leseart ist vorzuziehen, sagt der Andere, sie ist verwerflich, weil sie durch mechanische Irrung entstanden ist. Wie ist der Conflict zu lösen? Weil die Erklä- rung aus einer mechanischen Irrung im Allgemeinen den Vorzug verdient, so ist die kürzere Leseart verwerflich, wenn es der län- geren nicht an allen guten Zeugnissen fehlt. Ich kann mir aber dieselbe Regel noch mit einer andern in Conflict denken. Ich
nehmen koͤnnten, fehle, denn es ſtehe doch irgendwo und gebe einen guten Sinn, — was ſoll man dazu ſagen? Alſo irgend- wo macht man keinen Text! Es kommt ja weder bei der einfa- chen hermeneutiſchen Aufgabe, noch auf dem allgemeinen philolo- giſchen Standpunkte darauf an, ob ein guter Sinn da iſt, ſondern den urſpruͤnglichen Text herzuſtellen. Daher koͤnnen Regeln, wie die aus Griesbach erwaͤhnten, nicht eher in das Urtheil eintreten, als bis das Verhaͤltniß der vorhandenen ver- ſchiedenen Leſearten diplomatiſch beſtimmt, und ausgemacht iſt, daß zwiſchen den verſchiedenen Leſearten nicht aus dem Geſichts- punkt der mechaniſchen Irrungen entſchieden werden kann.
Griesbach ſtellt auch den Kanon auf, daß uͤberall die ſchwieri- gere und dunklere der leichteren und klareren Leſeart vorzuziehen ſei, eben ſo das Ungewoͤhnliche dem Gewoͤhnlichen, das Haͤrtere dem Wei- chen. Dieſer Kanon ſezt ebenfalls wieder abſichtliche Änderung voraus. Unter dieſer Vorausſezung iſt's ganz richtig, der dunklern Leſeart den Vorzug zu geben. Aber was das Ungewoͤhnliche betrifft, ſo kann dieß gerade das Falſche ſein, weil es durch mechaniſche Ir- rung entſtanden ſein kann. Erſt wenn es mit dieſer Erklaͤrung nicht mehr gehen will, darf ich eine abſichtliche Änderung vermuthen.
Ferner ſagt Griesbach, die kuͤrzere Leſeart ſei der laͤngeren vorzuziehen, wenn es, wie er hinzuſezt, jener nicht an allen Zeug- niſſen fehle. Dieſe Regel ſezt wieder abſichtliche Änderungen vor- aus. Vergleichen wir aber damit einen andern Kanon, wonach die Abweichung, oder beſtimmter die kuͤrzere Leſeart, welche durch Irrung des Auges bei Ähnlichkeit einiger Sylben entſtanden, zu verwerfen iſt, ſo entſteht ein Conflict zwiſchen den beiden Regeln. Waͤhrend alſo der Eine ſagt, die kuͤrzere Leſeart iſt vorzuziehen, ſagt der Andere, ſie iſt verwerflich, weil ſie durch mechaniſche Irrung entſtanden iſt. Wie iſt der Conflict zu loͤſen? Weil die Erklaͤ- rung aus einer mechaniſchen Irrung im Allgemeinen den Vorzug verdient, ſo iſt die kuͤrzere Leſeart verwerflich, wenn es der laͤn- geren nicht an allen guten Zeugniſſen fehlt. Ich kann mir aber dieſelbe Regel noch mit einer andern in Conflict denken. Ich
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nehmen koͤnnten, fehle, denn es ſtehe doch irgendwo und gebe
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wo macht man keinen Text! Es kommt ja weder bei der einfa-
chen hermeneutiſchen Aufgabe, noch auf dem allgemeinen philolo-
giſchen Standpunkte darauf an, ob ein guter Sinn da iſt,
ſondern den urſpruͤnglichen Text herzuſtellen. Daher koͤnnen
Regeln, wie die aus Griesbach erwaͤhnten, nicht eher in das
Urtheil eintreten, als bis das Verhaͤltniß der vorhandenen ver-
ſchiedenen Leſearten diplomatiſch beſtimmt, und ausgemacht iſt,
daß zwiſchen den verſchiedenen Leſearten nicht aus dem Geſichts-
punkt der mechaniſchen Irrungen entſchieden werden kann.
Griesbach ſtellt auch den Kanon auf, daß uͤberall die ſchwieri-
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chen. Dieſer Kanon ſezt ebenfalls wieder abſichtliche Änderung voraus.
Unter dieſer Vorausſezung iſt's ganz richtig, der dunklern Leſeart
den Vorzug zu geben. Aber was das Ungewoͤhnliche betrifft, ſo
kann dieß gerade das Falſche ſein, weil es durch mechaniſche Ir-
rung entſtanden ſein kann. Erſt wenn es mit dieſer Erklaͤrung
nicht mehr gehen will, darf ich eine abſichtliche Änderung vermuthen.
Ferner ſagt Griesbach, die kuͤrzere Leſeart ſei der laͤngeren
vorzuziehen, wenn es, wie er hinzuſezt, jener nicht an allen Zeug-
niſſen fehle. Dieſe Regel ſezt wieder abſichtliche Änderungen vor-
aus. Vergleichen wir aber damit einen andern Kanon, wonach
die Abweichung, oder beſtimmter die kuͤrzere Leſeart, welche durch
Irrung des Auges bei Ähnlichkeit einiger Sylben entſtanden, zu
verwerfen iſt, ſo entſteht ein Conflict zwiſchen den beiden Regeln.
Waͤhrend alſo der Eine ſagt, die kuͤrzere Leſeart iſt vorzuziehen, ſagt
der Andere, ſie iſt verwerflich, weil ſie durch mechaniſche Irrung
entſtanden iſt. Wie iſt der Conflict zu loͤſen? Weil die Erklaͤ-
rung aus einer mechaniſchen Irrung im Allgemeinen den Vorzug
verdient, ſo iſt die kuͤrzere Leſeart verwerflich, wenn es der laͤn-
geren nicht an allen guten Zeugniſſen fehlt. Ich kann mir aber
dieſelbe Regel noch mit einer andern in Conflict denken. Ich
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 332. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/356>, abgerufen am 05.12.2024.
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