machen die Beurtheilung unmöglich, wie jene entstanden. So haben also jene Handschriften mit besondern grammatischen For- men besonderen Werth, und der kritische Apparat sollte sie immer mit anführen. Weiß man, zu der Zeit, aus der eine bestimmte Handschrift ist, haben solche Abnormitäten statt gefunden, und die Handschrift hat sie nicht, so entsteht der Verdacht, daß der Abschreiber, der in diesem Falle grammatisch verfahren ist, auch in andern willkührlich gehandelt, und so verschwindet die Hülfe, aus den Zeichen, ihrer Ähnlichkeit u. s. w. die mechanischen Irr- ungen zu erklären, ganz und gar.
Zu dem allen aber gehören, wenn die Aufgabe vollkommen gelöst werden soll, schwierige und zusammengesezte Operationen, paläographische Kenntnisse u. s. w. Es kann daher auch nicht die volle kritische Aufgabe als allgemeine Aufgabe für alle Theologen angesehen werden. Aber betrachten wir als die Aufgabe des Theo- logen das vollkommene hermeneutische Verständniß, so liegt doch schon darin, daß der Leser und Ausleger sich wenigstens nicht überall auf den Herausgeber verlassen darf. Dazu kommt, daß in der Kritik etwas Allgemeines liegt, und daß wir auf jedem Gebiete des Lesens und Hörens beständig in einer kritischen Ope- ration begriffen sind. Somit kann sich Niemand davon ganz entbinden wollen. Man muß nur die Aufgabe ihrem Nuzen und Zeitaufwande nach richtig behandeln.
Scheiden wir in der Aufgabe von einander, was jedem Theo- logen zugemuthet werden kann, und was eine besondere Virtuosi- tät erfordert, und bestimmen das Erste, so werden wir dabei von einem Minimum ausgehen müssen. Gehen wir von der Lösung der hermeneutischen Aufgabe aus. Darf sich der Theolog auf das Urtheil irgend einer kritischen Auctorität verlassen, wenn es darauf ankommt, den Zustand des Textes für die Auflösung der hermeneutischen Aufgabe zu untersuchen? Es giebt Fälle, welche gerade am meisten von kritischer Virtuosität abhängen. Da wer- den wir die Frage nicht verneinen dürfen. Aber schwerlich wird es viele Fälle geben, wo die kritischen Auctoritäten, die ich als
machen die Beurtheilung unmoͤglich, wie jene entſtanden. So haben alſo jene Handſchriften mit beſondern grammatiſchen For- men beſonderen Werth, und der kritiſche Apparat ſollte ſie immer mit anfuͤhren. Weiß man, zu der Zeit, aus der eine beſtimmte Handſchrift iſt, haben ſolche Abnormitaͤten ſtatt gefunden, und die Handſchrift hat ſie nicht, ſo entſteht der Verdacht, daß der Abſchreiber, der in dieſem Falle grammatiſch verfahren iſt, auch in andern willkuͤhrlich gehandelt, und ſo verſchwindet die Huͤlfe, aus den Zeichen, ihrer Ähnlichkeit u. ſ. w. die mechaniſchen Irr- ungen zu erklaͤren, ganz und gar.
Zu dem allen aber gehoͤren, wenn die Aufgabe vollkommen geloͤſt werden ſoll, ſchwierige und zuſammengeſezte Operationen, palaͤographiſche Kenntniſſe u. ſ. w. Es kann daher auch nicht die volle kritiſche Aufgabe als allgemeine Aufgabe fuͤr alle Theologen angeſehen werden. Aber betrachten wir als die Aufgabe des Theo- logen das vollkommene hermeneutiſche Verſtaͤndniß, ſo liegt doch ſchon darin, daß der Leſer und Ausleger ſich wenigſtens nicht uͤberall auf den Herausgeber verlaſſen darf. Dazu kommt, daß in der Kritik etwas Allgemeines liegt, und daß wir auf jedem Gebiete des Leſens und Hoͤrens beſtaͤndig in einer kritiſchen Ope- ration begriffen ſind. Somit kann ſich Niemand davon ganz entbinden wollen. Man muß nur die Aufgabe ihrem Nuzen und Zeitaufwande nach richtig behandeln.
Scheiden wir in der Aufgabe von einander, was jedem Theo- logen zugemuthet werden kann, und was eine beſondere Virtuoſi- taͤt erfordert, und beſtimmen das Erſte, ſo werden wir dabei von einem Minimum ausgehen muͤſſen. Gehen wir von der Loͤſung der hermeneutiſchen Aufgabe aus. Darf ſich der Theolog auf das Urtheil irgend einer kritiſchen Auctoritaͤt verlaſſen, wenn es darauf ankommt, den Zuſtand des Textes fuͤr die Aufloͤſung der hermeneutiſchen Aufgabe zu unterſuchen? Es giebt Faͤlle, welche gerade am meiſten von kritiſcher Virtuoſitaͤt abhaͤngen. Da wer- den wir die Frage nicht verneinen duͤrfen. Aber ſchwerlich wird es viele Faͤlle geben, wo die kritiſchen Auctoritaͤten, die ich als
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machen die Beurtheilung unmoͤglich, wie jene entſtanden. So
haben alſo jene Handſchriften mit beſondern grammatiſchen For-
men beſonderen Werth, und der kritiſche Apparat ſollte ſie immer
mit anfuͤhren. Weiß man, zu der Zeit, aus der eine beſtimmte
Handſchrift iſt, haben ſolche Abnormitaͤten ſtatt gefunden, und
die Handſchrift hat ſie nicht, ſo entſteht der Verdacht, daß der
Abſchreiber, der in dieſem Falle grammatiſch verfahren iſt, auch
in andern willkuͤhrlich gehandelt, und ſo verſchwindet die Huͤlfe,
aus den Zeichen, ihrer Ähnlichkeit u. ſ. w. die mechaniſchen Irr-
ungen zu erklaͤren, ganz und gar.
Zu dem allen aber gehoͤren, wenn die Aufgabe vollkommen
geloͤſt werden ſoll, ſchwierige und zuſammengeſezte Operationen,
palaͤographiſche Kenntniſſe u. ſ. w. Es kann daher auch nicht die
volle kritiſche Aufgabe als allgemeine Aufgabe fuͤr alle Theologen
angeſehen werden. Aber betrachten wir als die Aufgabe des Theo-
logen das vollkommene hermeneutiſche Verſtaͤndniß, ſo liegt doch
ſchon darin, daß der Leſer und Ausleger ſich wenigſtens nicht
uͤberall auf den Herausgeber verlaſſen darf. Dazu kommt, daß
in der Kritik etwas Allgemeines liegt, und daß wir auf jedem
Gebiete des Leſens und Hoͤrens beſtaͤndig in einer kritiſchen Ope-
ration begriffen ſind. Somit kann ſich Niemand davon ganz
entbinden wollen. Man muß nur die Aufgabe ihrem Nuzen und
Zeitaufwande nach richtig behandeln.
Scheiden wir in der Aufgabe von einander, was jedem Theo-
logen zugemuthet werden kann, und was eine beſondere Virtuoſi-
taͤt erfordert, und beſtimmen das Erſte, ſo werden wir dabei von
einem Minimum ausgehen muͤſſen. Gehen wir von der Loͤſung
der hermeneutiſchen Aufgabe aus. Darf ſich der Theolog auf
das Urtheil irgend einer kritiſchen Auctoritaͤt verlaſſen, wenn es
darauf ankommt, den Zuſtand des Textes fuͤr die Aufloͤſung der
hermeneutiſchen Aufgabe zu unterſuchen? Es giebt Faͤlle, welche
gerade am meiſten von kritiſcher Virtuoſitaͤt abhaͤngen. Da wer-
den wir die Frage nicht verneinen duͤrfen. Aber ſchwerlich wird
es viele Faͤlle geben, wo die kritiſchen Auctoritaͤten, die ich als
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 350. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/374>, abgerufen am 05.12.2024.
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