ausgeber des N. T. Deren sind aber zu viele, als daß jeder Theolog auf sie zurückgehen könnte. Es entsteht also die Frage, welche sich von diesen am meisten als Kritiker geltend gemacht haben? Dieß wird sich vorzüglich dadurch manifestiren, wie die Commentatoren sie gebrauchen. Bengel, Wetstein und Griesbach sind die drei Hauptkritiker, die auch immer am meisten angeführt werden. Von dem Verfahren derselben muß jeder eine gewisse eigene Anschauung haben. Wetstein und Griesbach haben eine gewisse Verwandtschaft mit einander, so daß der leztere auf dem ersteren eigentlich beruht. Beide haben den gemeinschaftlichen Feh- ler, daß sie den vulgären Text zum Grunde gelegt haben. Wet- stein hat denselben unverändert, und nur durch Zeichen unter dem Text die andern Lesearten mit ihren Auctoritäten angeführt. So ist bei ihm das Auge für die recepta bestochen und man muß daher um so mehr auf die Abweichungen und deren Auctoritäten unter dem Text zurücksehen. Aber es ist um so mehr zu wün- schen, daß sich jeder mit dem Werke genauer bekannt mache, da es außerdem reich ist an Observationen von Analogien aus den griechischen und jüdischen Schriftstellern, die lezteren beque- mer als bei Lightfoot und Schöttgen.
Bengel hat die recepta verlassen, und einen eigenen Text constituirt. So hat er die Bestechung des Auges durch jene ver- mieden, aber nie Bürgschaft gegeben, woher er das hat, was man im Text liest. Aber wer jezt bei der Constitution des Textes auf die recepta keine Rücksicht nehmen will, der hat mehr Hülfs- mittel, die Leser von seinem Verfahren zu unterrichten, als Ben- gel zu seiner Zeit. Bengel hat von seinem Verfahren Rechen- schaft gegeben in seinem apparatus criticus, auch in seinem Gno- mon. Es ist wünschenswerth, daß sich jeder damit bekannt macht, wenn auch nur für einzelne Abschnitte. Von Griesbach ist schon öfter die Rede gewesen. Jeder wird bei genauerer Bekannt- schaft finden, wie oft er Lesearten, welche die vorzüglichsten Aucto- ritäten für sich haben, in die unterste Stelle herabsezt und die recepta überschäzt.
ausgeber des N. T. Deren ſind aber zu viele, als daß jeder Theolog auf ſie zuruͤckgehen koͤnnte. Es entſteht alſo die Frage, welche ſich von dieſen am meiſten als Kritiker geltend gemacht haben? Dieß wird ſich vorzuͤglich dadurch manifeſtiren, wie die Commentatoren ſie gebrauchen. Bengel, Wetſtein und Griesbach ſind die drei Hauptkritiker, die auch immer am meiſten angefuͤhrt werden. Von dem Verfahren derſelben muß jeder eine gewiſſe eigene Anſchauung haben. Wetſtein und Griesbach haben eine gewiſſe Verwandtſchaft mit einander, ſo daß der leztere auf dem erſteren eigentlich beruht. Beide haben den gemeinſchaftlichen Feh- ler, daß ſie den vulgaͤren Text zum Grunde gelegt haben. Wet- ſtein hat denſelben unveraͤndert, und nur durch Zeichen unter dem Text die andern Leſearten mit ihren Auctoritaͤten angefuͤhrt. So iſt bei ihm das Auge fuͤr die recepta beſtochen und man muß daher um ſo mehr auf die Abweichungen und deren Auctoritaͤten unter dem Text zuruͤckſehen. Aber es iſt um ſo mehr zu wuͤn- ſchen, daß ſich jeder mit dem Werke genauer bekannt mache, da es außerdem reich iſt an Obſervationen von Analogien aus den griechiſchen und juͤdiſchen Schriftſtellern, die lezteren beque- mer als bei Lightfoot und Schoͤttgen.
Bengel hat die recepta verlaſſen, und einen eigenen Text conſtituirt. So hat er die Beſtechung des Auges durch jene ver- mieden, aber nie Buͤrgſchaft gegeben, woher er das hat, was man im Text lieſt. Aber wer jezt bei der Conſtitution des Textes auf die recepta keine Ruͤckſicht nehmen will, der hat mehr Huͤlfs- mittel, die Leſer von ſeinem Verfahren zu unterrichten, als Ben- gel zu ſeiner Zeit. Bengel hat von ſeinem Verfahren Rechen- ſchaft gegeben in ſeinem apparatus criticus, auch in ſeinem Gno- mon. Es iſt wuͤnſchenswerth, daß ſich jeder damit bekannt macht, wenn auch nur fuͤr einzelne Abſchnitte. Von Griesbach iſt ſchon oͤfter die Rede geweſen. Jeder wird bei genauerer Bekannt- ſchaft finden, wie oft er Leſearten, welche die vorzuͤglichſten Aucto- ritaͤten fuͤr ſich haben, in die unterſte Stelle herabſezt und die recepta uͤberſchaͤzt.
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[252[352]/0376]
ausgeber des N. T. Deren ſind aber zu viele, als daß jeder
Theolog auf ſie zuruͤckgehen koͤnnte. Es entſteht alſo die Frage,
welche ſich von dieſen am meiſten als Kritiker geltend gemacht
haben? Dieß wird ſich vorzuͤglich dadurch manifeſtiren, wie die
Commentatoren ſie gebrauchen. Bengel, Wetſtein und Griesbach
ſind die drei Hauptkritiker, die auch immer am meiſten angefuͤhrt
werden. Von dem Verfahren derſelben muß jeder eine gewiſſe
eigene Anſchauung haben. Wetſtein und Griesbach haben eine
gewiſſe Verwandtſchaft mit einander, ſo daß der leztere auf dem
erſteren eigentlich beruht. Beide haben den gemeinſchaftlichen Feh-
ler, daß ſie den vulgaͤren Text zum Grunde gelegt haben. Wet-
ſtein hat denſelben unveraͤndert, und nur durch Zeichen unter dem
Text die andern Leſearten mit ihren Auctoritaͤten angefuͤhrt. So
iſt bei ihm das Auge fuͤr die recepta beſtochen und man muß
daher um ſo mehr auf die Abweichungen und deren Auctoritaͤten
unter dem Text zuruͤckſehen. Aber es iſt um ſo mehr zu wuͤn-
ſchen, daß ſich jeder mit dem Werke genauer bekannt mache,
da es außerdem reich iſt an Obſervationen von Analogien aus
den griechiſchen und juͤdiſchen Schriftſtellern, die lezteren beque-
mer als bei Lightfoot und Schoͤttgen.
Bengel hat die recepta verlaſſen, und einen eigenen Text
conſtituirt. So hat er die Beſtechung des Auges durch jene ver-
mieden, aber nie Buͤrgſchaft gegeben, woher er das hat, was man
im Text lieſt. Aber wer jezt bei der Conſtitution des Textes auf
die recepta keine Ruͤckſicht nehmen will, der hat mehr Huͤlfs-
mittel, die Leſer von ſeinem Verfahren zu unterrichten, als Ben-
gel zu ſeiner Zeit. Bengel hat von ſeinem Verfahren Rechen-
ſchaft gegeben in ſeinem apparatus criticus, auch in ſeinem Gno-
mon. Es iſt wuͤnſchenswerth, daß ſich jeder damit bekannt macht,
wenn auch nur fuͤr einzelne Abſchnitte. Von Griesbach iſt ſchon
oͤfter die Rede geweſen. Jeder wird bei genauerer Bekannt-
ſchaft finden, wie oft er Leſearten, welche die vorzuͤglichſten Aucto-
ritaͤten fuͤr ſich haben, in die unterſte Stelle herabſezt und die
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 252[352]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/376>, abgerufen am 05.12.2024.
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