wir, wenn es auch der zweite wäre, eine Petrinische Briefsamm- lung. Aber die Sammlung bestände eben nur aus diesen beiden, und da der zweite streitig ist, so können wir keine ursprüngliche Sammlung annehmen, und müssen den ersten Brief selbstständig behandeln, weil nur was aus ihm herrührt, nicht was aus der Sammlung herrühren kann, für den zweiten entscheidet.
Anders bei den Paulinischen Briefen. Da ist der Zweifel nicht alt. Man wußte wol, daß die Pastoralbriefe nicht im Ka- non des Marcion standen, aber man bezweifelte sie nicht und sagte, Marcion habe sie aus häretischem Interesse ausgelassen. Aber die Frage nach der Ächtheit dieser Briefe hat ein bedeuten- des persönliches Interesse. Ihr Inhalt hängt mit den Thatsachen im Leben des Apostels zusammen; es entstehen Räthsel darin, wenn man sie ihm zuschreibt, und fallen weg, wenn man sie ihm nicht zuschreibt.
Was die Evangelien betrifft, so könnte man, was das Jo- hanneische betrifft, sagen, es sei gleichgültig, ob sein Verfasser Johannes geheißen oder nicht. Aber es handelt sich hier nicht von der Persönlichkeit allein, sondern auch über die Zeit und Ver- hältnisse des Verfassers zu den Begebenheiten. Nach Bretschnei- ders Probabilien wäre das Evangelium an einem den Begeben- heiten ganz fremden Orte und in späterer Zeit entstanden. Die entgegengesezte Ansicht behauptet, daß die Relation von einem Augenzeugen herrühre. Hier ist also ein historisches Interesse in Beziehung auf die Art, wie die Begebenheiten bezeugt sind. Dieß Interesse wird noch erhöhet durch das Verhältniß des Evan- geliums zu den drei ersten, daß es anderes erzählt, als diese, und vieles ausläßt, was diese haben.
Markus und Lukas sind uns unbekannte Personen. Wir wissen nur, daß sie zu dem unmittelbaren und nächsten Zeugen- kreise des Lebens Jesu nicht gehören. Da ist's denn auch gleich- gültig, ob sie die im N. T. erwähnten Personen des Namens sind oder andere desselben Namens. Selbst die Frage nach der Zeit der Entstehung ist hier nicht so bedeutend. Anders ist es, wenn man
wir, wenn es auch der zweite waͤre, eine Petriniſche Briefſamm- lung. Aber die Sammlung beſtaͤnde eben nur aus dieſen beiden, und da der zweite ſtreitig iſt, ſo koͤnnen wir keine urſpruͤngliche Sammlung annehmen, und muͤſſen den erſten Brief ſelbſtſtaͤndig behandeln, weil nur was aus ihm herruͤhrt, nicht was aus der Sammlung herruͤhren kann, fuͤr den zweiten entſcheidet.
Anders bei den Pauliniſchen Briefen. Da iſt der Zweifel nicht alt. Man wußte wol, daß die Paſtoralbriefe nicht im Ka- non des Marcion ſtanden, aber man bezweifelte ſie nicht und ſagte, Marcion habe ſie aus haͤretiſchem Intereſſe ausgelaſſen. Aber die Frage nach der Ächtheit dieſer Briefe hat ein bedeuten- des perſoͤnliches Intereſſe. Ihr Inhalt haͤngt mit den Thatſachen im Leben des Apoſtels zuſammen; es entſtehen Raͤthſel darin, wenn man ſie ihm zuſchreibt, und fallen weg, wenn man ſie ihm nicht zuſchreibt.
Was die Evangelien betrifft, ſo koͤnnte man, was das Jo- hanneiſche betrifft, ſagen, es ſei gleichguͤltig, ob ſein Verfaſſer Johannes geheißen oder nicht. Aber es handelt ſich hier nicht von der Perſoͤnlichkeit allein, ſondern auch uͤber die Zeit und Ver- haͤltniſſe des Verfaſſers zu den Begebenheiten. Nach Bretſchnei- ders Probabilien waͤre das Evangelium an einem den Begeben- heiten ganz fremden Orte und in ſpaͤterer Zeit entſtanden. Die entgegengeſezte Anſicht behauptet, daß die Relation von einem Augenzeugen herruͤhre. Hier iſt alſo ein hiſtoriſches Intereſſe in Beziehung auf die Art, wie die Begebenheiten bezeugt ſind. Dieß Intereſſe wird noch erhoͤhet durch das Verhaͤltniß des Evan- geliums zu den drei erſten, daß es anderes erzaͤhlt, als dieſe, und vieles auslaͤßt, was dieſe haben.
Markus und Lukas ſind uns unbekannte Perſonen. Wir wiſſen nur, daß ſie zu dem unmittelbaren und naͤchſten Zeugen- kreiſe des Lebens Jeſu nicht gehoͤren. Da iſt's denn auch gleich- guͤltig, ob ſie die im N. T. erwaͤhnten Perſonen des Namens ſind oder andere deſſelben Namens. Selbſt die Frage nach der Zeit der Entſtehung iſt hier nicht ſo bedeutend. Anders iſt es, wenn man
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wir, wenn es auch der zweite waͤre, eine Petriniſche Briefſamm-
lung. Aber die Sammlung beſtaͤnde eben nur aus dieſen beiden,
und da der zweite ſtreitig iſt, ſo koͤnnen wir keine urſpruͤngliche
Sammlung annehmen, und muͤſſen den erſten Brief ſelbſtſtaͤndig
behandeln, weil nur was aus ihm herruͤhrt, nicht was aus der
Sammlung herruͤhren kann, fuͤr den zweiten entſcheidet.
Anders bei den Pauliniſchen Briefen. Da iſt der Zweifel
nicht alt. Man wußte wol, daß die Paſtoralbriefe nicht im Ka-
non des Marcion ſtanden, aber man bezweifelte ſie nicht und
ſagte, Marcion habe ſie aus haͤretiſchem Intereſſe ausgelaſſen.
Aber die Frage nach der Ächtheit dieſer Briefe hat ein bedeuten-
des perſoͤnliches Intereſſe. Ihr Inhalt haͤngt mit den Thatſachen
im Leben des Apoſtels zuſammen; es entſtehen Raͤthſel darin,
wenn man ſie ihm zuſchreibt, und fallen weg, wenn man ſie
ihm nicht zuſchreibt.
Was die Evangelien betrifft, ſo koͤnnte man, was das Jo-
hanneiſche betrifft, ſagen, es ſei gleichguͤltig, ob ſein Verfaſſer
Johannes geheißen oder nicht. Aber es handelt ſich hier nicht
von der Perſoͤnlichkeit allein, ſondern auch uͤber die Zeit und Ver-
haͤltniſſe des Verfaſſers zu den Begebenheiten. Nach Bretſchnei-
ders Probabilien waͤre das Evangelium an einem den Begeben-
heiten ganz fremden Orte und in ſpaͤterer Zeit entſtanden. Die
entgegengeſezte Anſicht behauptet, daß die Relation von einem
Augenzeugen herruͤhre. Hier iſt alſo ein hiſtoriſches Intereſſe in
Beziehung auf die Art, wie die Begebenheiten bezeugt ſind.
Dieß Intereſſe wird noch erhoͤhet durch das Verhaͤltniß des Evan-
geliums zu den drei erſten, daß es anderes erzaͤhlt, als dieſe, und
vieles auslaͤßt, was dieſe haben.
Markus und Lukas ſind uns unbekannte Perſonen. Wir
wiſſen nur, daß ſie zu dem unmittelbaren und naͤchſten Zeugen-
kreiſe des Lebens Jeſu nicht gehoͤren. Da iſt's denn auch gleich-
guͤltig, ob ſie die im N. T. erwaͤhnten Perſonen des Namens
ſind oder andere deſſelben Namens. Selbſt die Frage nach der Zeit
der Entſtehung iſt hier nicht ſo bedeutend. Anders iſt es, wenn man
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 372. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/396>, abgerufen am 05.12.2024.
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