von der Identität des Verfassers der Apostelgeschichte und des Evangeliums des Lukas redet, aber die bezweifelt Niemand, un- geachtet der merkwürdigen Trennung beider Bücher im N. T.
Von ganz anderem Interesse ist die Frage über den Mat- thäus, aber die Frage ist genau genommen auch erst neu. Fragt man, ist das Evangelium von dem Apostel des Namens, so kommt dabei auf die bloße Persönlichkeit wenig an, obwohl auch der Punkt nicht ganz leer ist, weil von ihm bestimmte Thatsachen erzählt werden. Aber die Hauptsache ist, ob Matthäus der Apo- stel ist. Wenn dieß ist, dann ist das Verhältniß des Matthäus und Johannes zu den Begebenheiten wesentlich dasselbe. Dieß ist von bedeutendem Einfluß auf die Art, wie die Differenzen beider behandelt werden. Hält Jemand das Evangelium des Matthäus für das Werk des Apostels, das Johanneische aber nicht, so ist Matthäus Norm für den Johannes, und alles was dieser mit jenem Widersprechendes hat, kommt auf Rechnung der Unächtheit des Johanneischen Evangeliums. Sagt man umge- kehrt, so entsteht auch das umgekehrte Verhältniß. Werden beide als Werke von Aposteln angesehen, so sind ihre Differenzen un- ausgleichbar. So ist also hier die kritische Frage von großem Interesse in Beziehung auf die Ausmittlung der Thatsachen aus den verschiedenen Relationen. Auf die Weise finden wir im N. T. alle verschiedenen Grade von kritischem Interesse, und die verschie- denen kritischen Fragen nach dem Verfasser beisammen, und jede muß nach ihrer Art und Bedeutung entschieden werden.
Fragen wir nun, sind diese kritischen Fragen im N. T. auf dieselbe Weise zu lösen, wie wir oben im Allgemeinen festgestellt haben, oder giebt es für die neutest. Schriften in dieser Hinsicht besondere Regeln?
Wir fanden früher schon auf dem Gebiete der Hermeneutik eine ähnliche Frage, aber als eine alte Streitfrage, nicht als eine solche, welche für uns auf dem natürlichen Wege der Untersu- chung entstand. Für die consequente Theorie der katholischen Kirche existirt die kritische Frage gar nicht. Für uns in der evan-
von der Identitaͤt des Verfaſſers der Apoſtelgeſchichte und des Evangeliums des Lukas redet, aber die bezweifelt Niemand, un- geachtet der merkwuͤrdigen Trennung beider Buͤcher im N. T.
Von ganz anderem Intereſſe iſt die Frage uͤber den Mat- thaͤus, aber die Frage iſt genau genommen auch erſt neu. Fragt man, iſt das Evangelium von dem Apoſtel des Namens, ſo kommt dabei auf die bloße Perſoͤnlichkeit wenig an, obwohl auch der Punkt nicht ganz leer iſt, weil von ihm beſtimmte Thatſachen erzaͤhlt werden. Aber die Hauptſache iſt, ob Matthaͤus der Apo- ſtel iſt. Wenn dieß iſt, dann iſt das Verhaͤltniß des Matthaͤus und Johannes zu den Begebenheiten weſentlich daſſelbe. Dieß iſt von bedeutendem Einfluß auf die Art, wie die Differenzen beider behandelt werden. Haͤlt Jemand das Evangelium des Matthaͤus fuͤr das Werk des Apoſtels, das Johanneiſche aber nicht, ſo iſt Matthaͤus Norm fuͤr den Johannes, und alles was dieſer mit jenem Widerſprechendes hat, kommt auf Rechnung der Unaͤchtheit des Johanneiſchen Evangeliums. Sagt man umge- kehrt, ſo entſteht auch das umgekehrte Verhaͤltniß. Werden beide als Werke von Apoſteln angeſehen, ſo ſind ihre Differenzen un- ausgleichbar. So iſt alſo hier die kritiſche Frage von großem Intereſſe in Beziehung auf die Ausmittlung der Thatſachen aus den verſchiedenen Relationen. Auf die Weiſe finden wir im N. T. alle verſchiedenen Grade von kritiſchem Intereſſe, und die verſchie- denen kritiſchen Fragen nach dem Verfaſſer beiſammen, und jede muß nach ihrer Art und Bedeutung entſchieden werden.
Fragen wir nun, ſind dieſe kritiſchen Fragen im N. T. auf dieſelbe Weiſe zu loͤſen, wie wir oben im Allgemeinen feſtgeſtellt haben, oder giebt es fuͤr die neuteſt. Schriften in dieſer Hinſicht beſondere Regeln?
Wir fanden fruͤher ſchon auf dem Gebiete der Hermeneutik eine aͤhnliche Frage, aber als eine alte Streitfrage, nicht als eine ſolche, welche fuͤr uns auf dem natuͤrlichen Wege der Unterſu- chung entſtand. Fuͤr die conſequente Theorie der katholiſchen Kirche exiſtirt die kritiſche Frage gar nicht. Fuͤr uns in der evan-
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von der Identitaͤt des Verfaſſers der Apoſtelgeſchichte und des
Evangeliums des Lukas redet, aber die bezweifelt Niemand, un-
geachtet der merkwuͤrdigen Trennung beider Buͤcher im N. T.
Von ganz anderem Intereſſe iſt die Frage uͤber den Mat-
thaͤus, aber die Frage iſt genau genommen auch erſt neu. Fragt
man, iſt das Evangelium von dem Apoſtel des Namens, ſo
kommt dabei auf die bloße Perſoͤnlichkeit wenig an, obwohl auch
der Punkt nicht ganz leer iſt, weil von ihm beſtimmte Thatſachen
erzaͤhlt werden. Aber die Hauptſache iſt, ob Matthaͤus der Apo-
ſtel iſt. Wenn dieß iſt, dann iſt das Verhaͤltniß des Matthaͤus
und Johannes zu den Begebenheiten weſentlich daſſelbe. Dieß
iſt von bedeutendem Einfluß auf die Art, wie die Differenzen
beider behandelt werden. Haͤlt Jemand das Evangelium des
Matthaͤus fuͤr das Werk des Apoſtels, das Johanneiſche aber
nicht, ſo iſt Matthaͤus Norm fuͤr den Johannes, und alles was
dieſer mit jenem Widerſprechendes hat, kommt auf Rechnung der
Unaͤchtheit des Johanneiſchen Evangeliums. Sagt man umge-
kehrt, ſo entſteht auch das umgekehrte Verhaͤltniß. Werden beide
als Werke von Apoſteln angeſehen, ſo ſind ihre Differenzen un-
ausgleichbar. So iſt alſo hier die kritiſche Frage von großem
Intereſſe in Beziehung auf die Ausmittlung der Thatſachen aus
den verſchiedenen Relationen. Auf die Weiſe finden wir im N. T.
alle verſchiedenen Grade von kritiſchem Intereſſe, und die verſchie-
denen kritiſchen Fragen nach dem Verfaſſer beiſammen, und jede
muß nach ihrer Art und Bedeutung entſchieden werden.
Fragen wir nun, ſind dieſe kritiſchen Fragen im N. T. auf
dieſelbe Weiſe zu loͤſen, wie wir oben im Allgemeinen feſtgeſtellt
haben, oder giebt es fuͤr die neuteſt. Schriften in dieſer Hinſicht
beſondere Regeln?
Wir fanden fruͤher ſchon auf dem Gebiete der Hermeneutik
eine aͤhnliche Frage, aber als eine alte Streitfrage, nicht als eine
ſolche, welche fuͤr uns auf dem natuͤrlichen Wege der Unterſu-
chung entſtand. Fuͤr die conſequente Theorie der katholiſchen
Kirche exiſtirt die kritiſche Frage gar nicht. Fuͤr uns in der evan-
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 373. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/397>, abgerufen am 05.12.2024.
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