das Urtheil auffassen lassen. Jeder Gesammtzustand muß nun Einheit sein und jede Thatsache muß sich im Zusammenhange begreifen lassen. Es wird also darauf ankommen, wie weit man den Gesammtzustand wird auffassen können.
Was die Frage über die Entstehung der synoptischen Evan- gelien betrifft, so wird das Nächste sein, sich den Gesammtzu- stand, in den jene Thatsache gehört, gehörig vorzustellen. Allein da entsteht gleich wieder eine Unbestimmtheit in der Aufgabe, weil wir die Zeit nicht genau angeben können, worin die Evangelien entstanden sind. Wir wissen nur, daß sie sich zu einer bestimm- ten Zeit vorfinden und jeder in dem jezigen Zustande. Wie lange sie vorher da gewesen, wissen wir nicht. Bleiben wir bei den frühesten Dokumenten der Thatsache stehen, so finden wir die Evangelien nie einzeln erwähnt, auch kein einzelnes Vorkommen derselben, sondern alle vier immer zusammen. Anzunehmen, sie seien Theile eines Ganzen und zusammen gefertigt, ist unstatthaft. Sie sind also gewiß einzeln da gewesen. Da haben wir aber eine geschichtliche Lücke. Denn über ihr einzelnes Dasein wissen wir nichts. Die erste Aufgabe ist also die, eben so von dem ersten Anfange an einen Punkt zu finden in der Zeit, welcher der Entstehung der Schriften am nächsten liegt, und eben so, wie jener Punkt, wo sie zusammen vorkommen, dokumentirt ist. So haben wir die Unbestimmtheit in gewisse Grenzen eingeschlossen. Wir fangen mit dem Leben Christi an. Dabei ist das Schlimme, daß die Nachricht davon eben in diesen Büchern steht. Indessen ist das Dasein der Person Christi auch ohne das hinlänglich be- zeugt, nemlich durch die andern neutest. Bücher, welche doch ursprünglich unabhängig von jenen entstanden sind, man müßte denn annehmen, daß auch diese als Theile eines Ganzen gemacht wären, das ganze N. T. also ein Gemachtes und somit ein großer Betrug. Nun haben wir aber als bezeugt eine von unsrer Samm- lung abgesonderte, den Kanon des Marcion. Und wiewohl der- selbe ein etwas anderer ist, so liegt doch in ihm eine zur Be- gründung der historischen Erscheinung gewisse Thatsache. Wenn
das Urtheil auffaſſen laſſen. Jeder Geſammtzuſtand muß nun Einheit ſein und jede Thatſache muß ſich im Zuſammenhange begreifen laſſen. Es wird alſo darauf ankommen, wie weit man den Geſammtzuſtand wird auffaſſen koͤnnen.
Was die Frage uͤber die Entſtehung der ſynoptiſchen Evan- gelien betrifft, ſo wird das Naͤchſte ſein, ſich den Geſammtzu- ſtand, in den jene Thatſache gehoͤrt, gehoͤrig vorzuſtellen. Allein da entſteht gleich wieder eine Unbeſtimmtheit in der Aufgabe, weil wir die Zeit nicht genau angeben koͤnnen, worin die Evangelien entſtanden ſind. Wir wiſſen nur, daß ſie ſich zu einer beſtimm- ten Zeit vorfinden und jeder in dem jezigen Zuſtande. Wie lange ſie vorher da geweſen, wiſſen wir nicht. Bleiben wir bei den fruͤheſten Dokumenten der Thatſache ſtehen, ſo finden wir die Evangelien nie einzeln erwaͤhnt, auch kein einzelnes Vorkommen derſelben, ſondern alle vier immer zuſammen. Anzunehmen, ſie ſeien Theile eines Ganzen und zuſammen gefertigt, iſt unſtatthaft. Sie ſind alſo gewiß einzeln da geweſen. Da haben wir aber eine geſchichtliche Luͤcke. Denn uͤber ihr einzelnes Daſein wiſſen wir nichts. Die erſte Aufgabe iſt alſo die, eben ſo von dem erſten Anfange an einen Punkt zu finden in der Zeit, welcher der Entſtehung der Schriften am naͤchſten liegt, und eben ſo, wie jener Punkt, wo ſie zuſammen vorkommen, dokumentirt iſt. So haben wir die Unbeſtimmtheit in gewiſſe Grenzen eingeſchloſſen. Wir fangen mit dem Leben Chriſti an. Dabei iſt das Schlimme, daß die Nachricht davon eben in dieſen Buͤchern ſteht. Indeſſen iſt das Daſein der Perſon Chriſti auch ohne das hinlaͤnglich be- zeugt, nemlich durch die andern neuteſt. Buͤcher, welche doch urſpruͤnglich unabhaͤngig von jenen entſtanden ſind, man muͤßte denn annehmen, daß auch dieſe als Theile eines Ganzen gemacht waͤren, das ganze N. T. alſo ein Gemachtes und ſomit ein großer Betrug. Nun haben wir aber als bezeugt eine von unſrer Samm- lung abgeſonderte, den Kanon des Marcion. Und wiewohl der- ſelbe ein etwas anderer iſt, ſo liegt doch in ihm eine zur Be- gruͤndung der hiſtoriſchen Erſcheinung gewiſſe Thatſache. Wenn
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das Urtheil auffaſſen laſſen. Jeder Geſammtzuſtand muß nun
Einheit ſein und jede Thatſache muß ſich im Zuſammenhange
begreifen laſſen. Es wird alſo darauf ankommen, wie weit man
den Geſammtzuſtand wird auffaſſen koͤnnen.
Was die Frage uͤber die Entſtehung der ſynoptiſchen Evan-
gelien betrifft, ſo wird das Naͤchſte ſein, ſich den Geſammtzu-
ſtand, in den jene Thatſache gehoͤrt, gehoͤrig vorzuſtellen. Allein
da entſteht gleich wieder eine Unbeſtimmtheit in der Aufgabe, weil
wir die Zeit nicht genau angeben koͤnnen, worin die Evangelien
entſtanden ſind. Wir wiſſen nur, daß ſie ſich zu einer beſtimm-
ten Zeit vorfinden und jeder in dem jezigen Zuſtande. Wie lange
ſie vorher da geweſen, wiſſen wir nicht. Bleiben wir bei den
fruͤheſten Dokumenten der Thatſache ſtehen, ſo finden wir die
Evangelien nie einzeln erwaͤhnt, auch kein einzelnes Vorkommen
derſelben, ſondern alle vier immer zuſammen. Anzunehmen, ſie
ſeien Theile eines Ganzen und zuſammen gefertigt, iſt unſtatthaft.
Sie ſind alſo gewiß einzeln da geweſen. Da haben wir aber
eine geſchichtliche Luͤcke. Denn uͤber ihr einzelnes Daſein wiſſen
wir nichts. Die erſte Aufgabe iſt alſo die, eben ſo von dem
erſten Anfange an einen Punkt zu finden in der Zeit, welcher
der Entſtehung der Schriften am naͤchſten liegt, und eben ſo, wie
jener Punkt, wo ſie zuſammen vorkommen, dokumentirt iſt. So
haben wir die Unbeſtimmtheit in gewiſſe Grenzen eingeſchloſſen.
Wir fangen mit dem Leben Chriſti an. Dabei iſt das Schlimme,
daß die Nachricht davon eben in dieſen Buͤchern ſteht. Indeſſen
iſt das Daſein der Perſon Chriſti auch ohne das hinlaͤnglich be-
zeugt, nemlich durch die andern neuteſt. Buͤcher, welche doch
urſpruͤnglich unabhaͤngig von jenen entſtanden ſind, man muͤßte
denn annehmen, daß auch dieſe als Theile eines Ganzen gemacht
waͤren, das ganze N. T. alſo ein Gemachtes und ſomit ein großer
Betrug. Nun haben wir aber als bezeugt eine von unſrer Samm-
lung abgeſonderte, den Kanon des Marcion. Und wiewohl der-
ſelbe ein etwas anderer iſt, ſo liegt doch in ihm eine zur Be-
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 380. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/404>, abgerufen am 04.12.2024.
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