hintereinander entstehen konnten? Entweder ungeheure Mangel- haftigkeit an Communication oder ungeheure Lust zum Schrei- ben müßte man annehmen. Beides aber stimmt nicht mit dem, was wir sonst von der damaligen Zeit wissen. Der Mangel an Zusammenhang unter den Gemeinden war nicht mehr so groß, und das Schreiben hat erst später zugenommen. So können wir uns also jene Hypothese nicht denken ohne die Einheit des Bildes von der Zeit zu zerstören und offenkundige Elemente abzuleugnen. Wir müssen sie also streichen und eine bessere suchen.
Alles Bisherige ist nur Maxime der Beurtheilung, nicht der Erfindung. Wäre es nicht besser, daß solche unhaltbare Hypo- thesen gar nicht entstanden wären? Ganz gewiß. Wie kann man aber auf das Richtige kommen? Nur dadurch, daß man von Oben heruntersteigt, und von dem ersten Anfange ab in genauer Entwicklung der christlichen Zustände bleibt. Was ist uns nun in Betreff des synoptischen Problems gegeben, was wir bezeugt wissen? Wir können nur annehmen, daß einzelne mündliche und schriftliche Relationen aus dem Leben Christi vor der Zeit unsrer Evangelien vorhanden gewesen und unsere Evangelien Produckte davon sind, daß keins auf das andere unmittelbar Beziehung ge- habt, endlich, daß ihre Abfassung herunter zu rücken sei in eine Zeit, wo ein solches Zusammenschreiben in den christlichen Zu- ständen selbst begründet erscheint.
Fassen wir noch einmal kurz zusammen, worin die einzig richtige Methode der historischen Kritik besteht. Kommt es auf Ausmittlung einer Thatsache an, von der allemal mehrere einzelne Momente gegeben sein müssen, so ist eine Entscheidung nur mög- lich, wenn man einen festen Punkt hat, von dem man ausge- hen kann, und auf der andern Seite einen, der aus dem Zu- sammenhange mit dem, was zu erklären ist, hervorgegangen ist. Zwischen diesen beiden bekannten Endpunkten liegt die streitige Thatsache. Es muß einen gehörig bezeugten Gesammtzustand geben, gleichsam als Ort der Thatsache, einen frühern und einen späteren, diesseits und jenseits der Thatsache. Lassen sich ver-
hintereinander entſtehen konnten? Entweder ungeheure Mangel- haftigkeit an Communication oder ungeheure Luſt zum Schrei- ben muͤßte man annehmen. Beides aber ſtimmt nicht mit dem, was wir ſonſt von der damaligen Zeit wiſſen. Der Mangel an Zuſammenhang unter den Gemeinden war nicht mehr ſo groß, und das Schreiben hat erſt ſpaͤter zugenommen. So koͤnnen wir uns alſo jene Hypotheſe nicht denken ohne die Einheit des Bildes von der Zeit zu zerſtoͤren und offenkundige Elemente abzuleugnen. Wir muͤſſen ſie alſo ſtreichen und eine beſſere ſuchen.
Alles Bisherige iſt nur Maxime der Beurtheilung, nicht der Erfindung. Waͤre es nicht beſſer, daß ſolche unhaltbare Hypo- theſen gar nicht entſtanden waͤren? Ganz gewiß. Wie kann man aber auf das Richtige kommen? Nur dadurch, daß man von Oben herunterſteigt, und von dem erſten Anfange ab in genauer Entwicklung der chriſtlichen Zuſtaͤnde bleibt. Was iſt uns nun in Betreff des ſynoptiſchen Problems gegeben, was wir bezeugt wiſſen? Wir koͤnnen nur annehmen, daß einzelne muͤndliche und ſchriftliche Relationen aus dem Leben Chriſti vor der Zeit unſrer Evangelien vorhanden geweſen und unſere Evangelien Produckte davon ſind, daß keins auf das andere unmittelbar Beziehung ge- habt, endlich, daß ihre Abfaſſung herunter zu ruͤcken ſei in eine Zeit, wo ein ſolches Zuſammenſchreiben in den chriſtlichen Zu- ſtaͤnden ſelbſt begruͤndet erſcheint.
Faſſen wir noch einmal kurz zuſammen, worin die einzig richtige Methode der hiſtoriſchen Kritik beſteht. Kommt es auf Ausmittlung einer Thatſache an, von der allemal mehrere einzelne Momente gegeben ſein muͤſſen, ſo iſt eine Entſcheidung nur moͤg- lich, wenn man einen feſten Punkt hat, von dem man ausge- hen kann, und auf der andern Seite einen, der aus dem Zu- ſammenhange mit dem, was zu erklaͤren iſt, hervorgegangen iſt. Zwiſchen dieſen beiden bekannten Endpunkten liegt die ſtreitige Thatſache. Es muß einen gehoͤrig bezeugten Geſammtzuſtand geben, gleichſam als Ort der Thatſache, einen fruͤhern und einen ſpaͤteren, dieſſeits und jenſeits der Thatſache. Laſſen ſich ver-
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hintereinander entſtehen konnten? Entweder ungeheure Mangel-
haftigkeit an Communication oder ungeheure Luſt zum Schrei-
ben muͤßte man annehmen. Beides aber ſtimmt nicht mit dem,
was wir ſonſt von der damaligen Zeit wiſſen. Der Mangel an
Zuſammenhang unter den Gemeinden war nicht mehr ſo groß,
und das Schreiben hat erſt ſpaͤter zugenommen. So koͤnnen wir
uns alſo jene Hypotheſe nicht denken ohne die Einheit des Bildes
von der Zeit zu zerſtoͤren und offenkundige Elemente abzuleugnen.
Wir muͤſſen ſie alſo ſtreichen und eine beſſere ſuchen.
Alles Bisherige iſt nur Maxime der Beurtheilung, nicht der
Erfindung. Waͤre es nicht beſſer, daß ſolche unhaltbare Hypo-
theſen gar nicht entſtanden waͤren? Ganz gewiß. Wie kann
man aber auf das Richtige kommen? Nur dadurch, daß man von
Oben herunterſteigt, und von dem erſten Anfange ab in genauer
Entwicklung der chriſtlichen Zuſtaͤnde bleibt. Was iſt uns nun
in Betreff des ſynoptiſchen Problems gegeben, was wir bezeugt
wiſſen? Wir koͤnnen nur annehmen, daß einzelne muͤndliche und
ſchriftliche Relationen aus dem Leben Chriſti vor der Zeit unſrer
Evangelien vorhanden geweſen und unſere Evangelien Produckte
davon ſind, daß keins auf das andere unmittelbar Beziehung ge-
habt, endlich, daß ihre Abfaſſung herunter zu ruͤcken ſei in eine
Zeit, wo ein ſolches Zuſammenſchreiben in den chriſtlichen Zu-
ſtaͤnden ſelbſt begruͤndet erſcheint.
Faſſen wir noch einmal kurz zuſammen, worin die einzig
richtige Methode der hiſtoriſchen Kritik beſteht. Kommt es auf
Ausmittlung einer Thatſache an, von der allemal mehrere einzelne
Momente gegeben ſein muͤſſen, ſo iſt eine Entſcheidung nur moͤg-
lich, wenn man einen feſten Punkt hat, von dem man ausge-
hen kann, und auf der andern Seite einen, der aus dem Zu-
ſammenhange mit dem, was zu erklaͤren iſt, hervorgegangen iſt.
Zwiſchen dieſen beiden bekannten Endpunkten liegt die ſtreitige
Thatſache. Es muß einen gehoͤrig bezeugten Geſammtzuſtand
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 384. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/408>, abgerufen am 04.12.2024.
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