sammtzustand zu construiren, worin man feste Punkte hat, nach denen man das Zweifelhafte beurtheilen kann, sofern es sich mit dem Ganzen in Einheit denken läßt oder nicht.
Gewöhnlich nun glaubte man bisher und auch wol noch jezt genug gethan zu haben, wenn man eine einzelne Möglichkeit nachgewiesen. Allein das Einzelne schwebt ohne Construction des Gesammtzusammenhanges in der Luft. So ist es in dem Streit über die Ächtheit des ersten Briefes an den Timotheus gegangen. Während ich dabei davon ausging, den Gesammtzustand, der ge- wesen sein müßte, wenn der Brief von Paulus geschrieben sein sollte, darzulegen und darnach die einzelnen Umstände zu beurthei- len, stellte der jüngere Planck dem Einzelnen andere Einzelheiten entgegen, ohne sie in einen Gesammtzustand zu bringen. So stehn einander entgegen das Verfahren, welches von der Vorstel- lung reiner Zufälligkeit ausgeht, und die einzig richtige Maxime, das Einzelne aus einem Gesammtzustande zu erklären und es auf einen eben so haltbaren Gesammtzustand zurückzuführen.
Betrachten wir nun das Verhältniß der synoptischen Evan- gelien, so fragt sich, in welchem Gesammtzustande hat ein sol- ches entstehen können? Sezen wir die Hypothese, daß das älteste Evangelium des Matthäus Markus, und beide Lukas benuzt habe, so ist die Frage, welcher Gesammtzustand zu denken sei, worin das habe ge- schehen können. Wie müssen die Zustände der Christenheit gewesen sein, wenn, nachdem Matthäus geschrieben war, hinreichender Grund und Bedürfniß gewesen sein soll, das Evangelium des Markus zu schreiben? Wie ist die Differenz zwischen beiden zu fassen? War sie von der Art und so der Mühe werth, um ein solches Buch zu schreiben? Wie verhalten sich beide Verfasser in Bezie- hung auf ihre Lokalität zu einander? Konnte das Evangelium des Matthäus nicht dahin kommen, wo Markus schrieb, und schrieb dieser eben deswegen das seine? Nimmt man nun dazu, daß zwischen den drei ersten Evangelien nur ein sehr geringer Zeitraum angenommen wird, so fragen wir, wie der Zustand der Kirche gewesen sein müsse, daß die drei Evangelien so kurz
ſammtzuſtand zu conſtruiren, worin man feſte Punkte hat, nach denen man das Zweifelhafte beurtheilen kann, ſofern es ſich mit dem Ganzen in Einheit denken laͤßt oder nicht.
Gewoͤhnlich nun glaubte man bisher und auch wol noch jezt genug gethan zu haben, wenn man eine einzelne Moͤglichkeit nachgewieſen. Allein das Einzelne ſchwebt ohne Conſtruction des Geſammtzuſammenhanges in der Luft. So iſt es in dem Streit uͤber die Ächtheit des erſten Briefes an den Timotheus gegangen. Waͤhrend ich dabei davon ausging, den Geſammtzuſtand, der ge- weſen ſein muͤßte, wenn der Brief von Paulus geſchrieben ſein ſollte, darzulegen und darnach die einzelnen Umſtaͤnde zu beurthei- len, ſtellte der juͤngere Planck dem Einzelnen andere Einzelheiten entgegen, ohne ſie in einen Geſammtzuſtand zu bringen. So ſtehn einander entgegen das Verfahren, welches von der Vorſtel- lung reiner Zufaͤlligkeit ausgeht, und die einzig richtige Maxime, das Einzelne aus einem Geſammtzuſtande zu erklaͤren und es auf einen eben ſo haltbaren Geſammtzuſtand zuruͤckzufuͤhren.
Betrachten wir nun das Verhaͤltniß der ſynoptiſchen Evan- gelien, ſo fragt ſich, in welchem Geſammtzuſtande hat ein ſol- ches entſtehen koͤnnen? Sezen wir die Hypotheſe, daß das aͤlteſte Evangelium des Matthaͤus Markus, und beide Lukas benuzt habe, ſo iſt die Frage, welcher Geſammtzuſtand zu denken ſei, worin das habe ge- ſchehen koͤnnen. Wie muͤſſen die Zuſtaͤnde der Chriſtenheit geweſen ſein, wenn, nachdem Matthaͤus geſchrieben war, hinreichender Grund und Beduͤrfniß geweſen ſein ſoll, das Evangelium des Markus zu ſchreiben? Wie iſt die Differenz zwiſchen beiden zu faſſen? War ſie von der Art und ſo der Muͤhe werth, um ein ſolches Buch zu ſchreiben? Wie verhalten ſich beide Verfaſſer in Bezie- hung auf ihre Lokalitaͤt zu einander? Konnte das Evangelium des Matthaͤus nicht dahin kommen, wo Markus ſchrieb, und ſchrieb dieſer eben deswegen das ſeine? Nimmt man nun dazu, daß zwiſchen den drei erſten Evangelien nur ein ſehr geringer Zeitraum angenommen wird, ſo fragen wir, wie der Zuſtand der Kirche geweſen ſein muͤſſe, daß die drei Evangelien ſo kurz
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ſammtzuſtand zu conſtruiren, worin man feſte Punkte hat, nach
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dem Ganzen in Einheit denken laͤßt oder nicht.
Gewoͤhnlich nun glaubte man bisher und auch wol noch
jezt genug gethan zu haben, wenn man eine einzelne Moͤglichkeit
nachgewieſen. Allein das Einzelne ſchwebt ohne Conſtruction des
Geſammtzuſammenhanges in der Luft. So iſt es in dem Streit
uͤber die Ächtheit des erſten Briefes an den Timotheus gegangen.
Waͤhrend ich dabei davon ausging, den Geſammtzuſtand, der ge-
weſen ſein muͤßte, wenn der Brief von Paulus geſchrieben ſein
ſollte, darzulegen und darnach die einzelnen Umſtaͤnde zu beurthei-
len, ſtellte der juͤngere Planck dem Einzelnen andere Einzelheiten
entgegen, ohne ſie in einen Geſammtzuſtand zu bringen. So
ſtehn einander entgegen das Verfahren, welches von der Vorſtel-
lung reiner Zufaͤlligkeit ausgeht, und die einzig richtige Maxime,
das Einzelne aus einem Geſammtzuſtande zu erklaͤren und es
auf einen eben ſo haltbaren Geſammtzuſtand zuruͤckzufuͤhren.
Betrachten wir nun das Verhaͤltniß der ſynoptiſchen Evan-
gelien, ſo fragt ſich, in welchem Geſammtzuſtande hat ein ſol-
ches entſtehen koͤnnen? Sezen wir die Hypotheſe, daß das aͤlteſte
Evangelium des Matthaͤus Markus, und beide Lukas benuzt habe, ſo iſt
die Frage, welcher Geſammtzuſtand zu denken ſei, worin das habe ge-
ſchehen koͤnnen. Wie muͤſſen die Zuſtaͤnde der Chriſtenheit geweſen
ſein, wenn, nachdem Matthaͤus geſchrieben war, hinreichender Grund
und Beduͤrfniß geweſen ſein ſoll, das Evangelium des Markus
zu ſchreiben? Wie iſt die Differenz zwiſchen beiden zu faſſen?
War ſie von der Art und ſo der Muͤhe werth, um ein ſolches
Buch zu ſchreiben? Wie verhalten ſich beide Verfaſſer in Bezie-
hung auf ihre Lokalitaͤt zu einander? Konnte das Evangelium
des Matthaͤus nicht dahin kommen, wo Markus ſchrieb, und
ſchrieb dieſer eben deswegen das ſeine? Nimmt man nun dazu,
daß zwiſchen den drei erſten Evangelien nur ein ſehr geringer
Zeitraum angenommen wird, ſo fragen wir, wie der Zuſtand
der Kirche geweſen ſein muͤſſe, daß die drei Evangelien ſo kurz
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 383. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/407>, abgerufen am 04.12.2024.
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