geschrieben sein, das war nicht der Wirkungskreis des Paulus, allein er stand doch mit jenen Gegenden sehr in Zusammenhang, so daß, wenn es nicht absichtlich verborgen gehalten wurde, er Notiz davon haben mußte. Das aber ist nicht denkbar, daß es für Christen geschrieben, um die Thatsachen des Evangeliums zu fixiren, in Jerusalem verborgen und dem eigentlich allein littera- rischen Apostel unbekannt geblieben sein sollte. Wie ist aber nun der andere Fall, daß Paulus Notiz davon gehabt, in seinen Brie- fen aber nur nicht erwähnt haben könne? Um dieß zu entschei- den, müßte man sich wieder Punkte angeben, aus denen ein Ge- sammtzustand zusammengesezt wäre, worin die Entscheidungsmo- mente lägen. Wäre die Kirche damals voller Evangelien gewesen, so wäre es auch für Paulus nicht nothwendig gewesen, davon zu reden. Allein man soll nach jener Hypothese sich das Evan- gelium des Matthäus als das früheste und eine Zeitlang einzige denken. Aber vielleicht hatte er eben in seiner Art zu wirken nicht nöthig auf das Buch Rücksicht zu nehmen? Das kann man wol nicht sagen, denn wenn es das einzige Evangelium war und Paulus stand an der Spize eines großen Kreises von Gemein- den, deren Zusammenhang mit Palästina er zu vermitteln hatte, so war seine Pflicht, es zu verbreiten. Ferner hatte er in seinen Briefen, vornehmlich den notorisch späteren, da wo er von dem gemeinsamen Leben der Christen redet, namentlich auch von ihren Versammlungen, Pflicht und Gelegenheit genug, das Buch an- zuführen. So wäre die Ewähnung des Buches ein Theil seiner Pflichterfüllung gewesen. Wenn er von der Auferstehung Christi redet, sich darauf als eine Thatsache beruft, hätte er sich da nicht auf eine Schrift berufen sollen, die seine Pflicht war bekannt zu machen? In dem Maaße also, in welchem wir einen solchen Gesammtzustand mit jener Hypothese nicht zusammenzudenken ver- mögen, muß dieselbe fallen, da über des Apostels Verhältniß und Wirkungskreis kein Zweifel sein kann.
Das ganze Verfahren der Kritik in diesem Stücke muß immer darauf beruhen, in Beziehung auf eine streitige Frage einen Ge-
geſchrieben ſein, das war nicht der Wirkungskreis des Paulus, allein er ſtand doch mit jenen Gegenden ſehr in Zuſammenhang, ſo daß, wenn es nicht abſichtlich verborgen gehalten wurde, er Notiz davon haben mußte. Das aber iſt nicht denkbar, daß es fuͤr Chriſten geſchrieben, um die Thatſachen des Evangeliums zu fixiren, in Jeruſalem verborgen und dem eigentlich allein littera- riſchen Apoſtel unbekannt geblieben ſein ſollte. Wie iſt aber nun der andere Fall, daß Paulus Notiz davon gehabt, in ſeinen Brie- fen aber nur nicht erwaͤhnt haben koͤnne? Um dieß zu entſchei- den, muͤßte man ſich wieder Punkte angeben, aus denen ein Ge- ſammtzuſtand zuſammengeſezt waͤre, worin die Entſcheidungsmo- mente laͤgen. Waͤre die Kirche damals voller Evangelien geweſen, ſo waͤre es auch fuͤr Paulus nicht nothwendig geweſen, davon zu reden. Allein man ſoll nach jener Hypotheſe ſich das Evan- gelium des Matthaͤus als das fruͤheſte und eine Zeitlang einzige denken. Aber vielleicht hatte er eben in ſeiner Art zu wirken nicht noͤthig auf das Buch Ruͤckſicht zu nehmen? Das kann man wol nicht ſagen, denn wenn es das einzige Evangelium war und Paulus ſtand an der Spize eines großen Kreiſes von Gemein- den, deren Zuſammenhang mit Palaͤſtina er zu vermitteln hatte, ſo war ſeine Pflicht, es zu verbreiten. Ferner hatte er in ſeinen Briefen, vornehmlich den notoriſch ſpaͤteren, da wo er von dem gemeinſamen Leben der Chriſten redet, namentlich auch von ihren Verſammlungen, Pflicht und Gelegenheit genug, das Buch an- zufuͤhren. So waͤre die Ewaͤhnung des Buches ein Theil ſeiner Pflichterfuͤllung geweſen. Wenn er von der Auferſtehung Chriſti redet, ſich darauf als eine Thatſache beruft, haͤtte er ſich da nicht auf eine Schrift berufen ſollen, die ſeine Pflicht war bekannt zu machen? In dem Maaße alſo, in welchem wir einen ſolchen Geſammtzuſtand mit jener Hypotheſe nicht zuſammenzudenken ver- moͤgen, muß dieſelbe fallen, da uͤber des Apoſtels Verhaͤltniß und Wirkungskreis kein Zweifel ſein kann.
Das ganze Verfahren der Kritik in dieſem Stuͤcke muß immer darauf beruhen, in Beziehung auf eine ſtreitige Frage einen Ge-
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geſchrieben ſein, das war nicht der Wirkungskreis des Paulus,
allein er ſtand doch mit jenen Gegenden ſehr in Zuſammenhang,
ſo daß, wenn es nicht abſichtlich verborgen gehalten wurde, er
Notiz davon haben mußte. Das aber iſt nicht denkbar, daß es
fuͤr Chriſten geſchrieben, um die Thatſachen des Evangeliums zu
fixiren, in Jeruſalem verborgen und dem eigentlich allein littera-
riſchen Apoſtel unbekannt geblieben ſein ſollte. Wie iſt aber nun
der andere Fall, daß Paulus Notiz davon gehabt, in ſeinen Brie-
fen aber nur nicht erwaͤhnt haben koͤnne? Um dieß zu entſchei-
den, muͤßte man ſich wieder Punkte angeben, aus denen ein Ge-
ſammtzuſtand zuſammengeſezt waͤre, worin die Entſcheidungsmo-
mente laͤgen. Waͤre die Kirche damals voller Evangelien geweſen,
ſo waͤre es auch fuͤr Paulus nicht nothwendig geweſen, davon
zu reden. Allein man ſoll nach jener Hypotheſe ſich das Evan-
gelium des Matthaͤus als das fruͤheſte und eine Zeitlang einzige
denken. Aber vielleicht hatte er eben in ſeiner Art zu wirken nicht
noͤthig auf das Buch Ruͤckſicht zu nehmen? Das kann man
wol nicht ſagen, denn wenn es das einzige Evangelium war und
Paulus ſtand an der Spize eines großen Kreiſes von Gemein-
den, deren Zuſammenhang mit Palaͤſtina er zu vermitteln hatte,
ſo war ſeine Pflicht, es zu verbreiten. Ferner hatte er in ſeinen
Briefen, vornehmlich den notoriſch ſpaͤteren, da wo er von dem
gemeinſamen Leben der Chriſten redet, namentlich auch von ihren
Verſammlungen, Pflicht und Gelegenheit genug, das Buch an-
zufuͤhren. So waͤre die Ewaͤhnung des Buches ein Theil ſeiner
Pflichterfuͤllung geweſen. Wenn er von der Auferſtehung Chriſti
redet, ſich darauf als eine Thatſache beruft, haͤtte er ſich da nicht
auf eine Schrift berufen ſollen, die ſeine Pflicht war bekannt zu
machen? In dem Maaße alſo, in welchem wir einen ſolchen
Geſammtzuſtand mit jener Hypotheſe nicht zuſammenzudenken ver-
moͤgen, muß dieſelbe fallen, da uͤber des Apoſtels Verhaͤltniß und
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/406>, abgerufen am 04.12.2024.
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