maaßregeln dagegen? Offenbar das erste nach dem Gesammtzu- stande der alten Kirche. Also diejenigen, welche jenes Verlangen hatten, werden weniger besondere Gründe nöthig gehabt haben, die Zweifelnden desto mehr. So lange nicht andere Entscheidungs- gründe sich zeigen, müssen wir sagen, daß die Zweifelnden bessere Gründe gehabt haben, als die Annehmenden. So war also die allgemeine Annahme solcher Schriften nur die Folge der vorherr- schenden Neigung. Dazu kommt der Gegensaz zwischen den Ortho- doxen und Katholischen auf der einen Seite, und den Häretikern auf der andern. Darin liegen in gewisser Beziehung Contrain- dikationen. Die Consolidirung der Kirche war in der katholischen Kirche die herrschende Richtung, und diese stand mit dem Ver- langen, ein Corpus von heiligen Schriften zu consolidiren, in Verbindung. Damit war das Bestreben verbunden, möglichst das Häretische zu vermeiden. Es giebt häretische Schriften, die in vielen Gemeinden gebraucht wurden und gleich den zweifelhaften Anspruch machten, in den Kanon aufgenommen zu werden. Aber man schied sie aus. So ist der spätere Gesammtzustand das Resultat von dem Verlangen einer jeden Gemeinde alles zu haben, was irgend in einer andern Gemeinde als heilig gegolten. Dieß Verlangen hat in allen Fällen gesiegt, wo in dem Zweifel- haften nichts Häretisches war; es hat nicht gesiegt, wo Häreti- sches war. So ist der Hergang der Sache. Aber man hat sie damals nicht aus den rechten Gründen betrachtet, sondern mehr eigentlich als einen Tausch. Damit die Einen fahren ließen, was von katholischer Seite als häretisch erschien, so nahmen die An- dern an, was zweifelhaft war, ohne häretisch zu sein. Nun kommt die Frage so zu stehen, daß sie aus inneren Gründen ent- schieden werden muß. Was hatten die Zweifelnden für Gründe, und was für welche die Annehmenden? Das Bezweifeln sezt eine kritische Richtung voraus, die Annahme nicht. Könnten wir Fakta beibringen, um auszumitteln, woher die zweifelhaften Schriften zuerst gekommen, und wie sie sich so verbreitet haben, so könnten wir den Beweis aus wirklich bezeugten Thatsachen
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maaßregeln dagegen? Offenbar das erſte nach dem Geſammtzu- ſtande der alten Kirche. Alſo diejenigen, welche jenes Verlangen hatten, werden weniger beſondere Gruͤnde noͤthig gehabt haben, die Zweifelnden deſto mehr. So lange nicht andere Entſcheidungs- gruͤnde ſich zeigen, muͤſſen wir ſagen, daß die Zweifelnden beſſere Gruͤnde gehabt haben, als die Annehmenden. So war alſo die allgemeine Annahme ſolcher Schriften nur die Folge der vorherr- ſchenden Neigung. Dazu kommt der Gegenſaz zwiſchen den Ortho- doxen und Katholiſchen auf der einen Seite, und den Haͤretikern auf der andern. Darin liegen in gewiſſer Beziehung Contrain- dikationen. Die Conſolidirung der Kirche war in der katholiſchen Kirche die herrſchende Richtung, und dieſe ſtand mit dem Ver- langen, ein Corpus von heiligen Schriften zu conſolidiren, in Verbindung. Damit war das Beſtreben verbunden, moͤglichſt das Haͤretiſche zu vermeiden. Es giebt haͤretiſche Schriften, die in vielen Gemeinden gebraucht wurden und gleich den zweifelhaften Anſpruch machten, in den Kanon aufgenommen zu werden. Aber man ſchied ſie aus. So iſt der ſpaͤtere Geſammtzuſtand das Reſultat von dem Verlangen einer jeden Gemeinde alles zu haben, was irgend in einer andern Gemeinde als heilig gegolten. Dieß Verlangen hat in allen Faͤllen geſiegt, wo in dem Zweifel- haften nichts Haͤretiſches war; es hat nicht geſiegt, wo Haͤreti- ſches war. So iſt der Hergang der Sache. Aber man hat ſie damals nicht aus den rechten Gruͤnden betrachtet, ſondern mehr eigentlich als einen Tauſch. Damit die Einen fahren ließen, was von katholiſcher Seite als haͤretiſch erſchien, ſo nahmen die An- dern an, was zweifelhaft war, ohne haͤretiſch zu ſein. Nun kommt die Frage ſo zu ſtehen, daß ſie aus inneren Gruͤnden ent- ſchieden werden muß. Was hatten die Zweifelnden fuͤr Gruͤnde, und was fuͤr welche die Annehmenden? Das Bezweifeln ſezt eine kritiſche Richtung voraus, die Annahme nicht. Koͤnnten wir Fakta beibringen, um auszumitteln, woher die zweifelhaften Schriften zuerſt gekommen, und wie ſie ſich ſo verbreitet haben, ſo koͤnnten wir den Beweis aus wirklich bezeugten Thatſachen
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maaßregeln dagegen? Offenbar das erſte nach dem Geſammtzu-
ſtande der alten Kirche. Alſo diejenigen, welche jenes Verlangen
hatten, werden weniger beſondere Gruͤnde noͤthig gehabt haben,
die Zweifelnden deſto mehr. So lange nicht andere Entſcheidungs-
gruͤnde ſich zeigen, muͤſſen wir ſagen, daß die Zweifelnden beſſere
Gruͤnde gehabt haben, als die Annehmenden. So war alſo die
allgemeine Annahme ſolcher Schriften nur die Folge der vorherr-
ſchenden Neigung. Dazu kommt der Gegenſaz zwiſchen den Ortho-
doxen und Katholiſchen auf der einen Seite, und den Haͤretikern
auf der andern. Darin liegen in gewiſſer Beziehung Contrain-
dikationen. Die Conſolidirung der Kirche war in der katholiſchen
Kirche die herrſchende Richtung, und dieſe ſtand mit dem Ver-
langen, ein Corpus von heiligen Schriften zu conſolidiren, in
Verbindung. Damit war das Beſtreben verbunden, moͤglichſt das
Haͤretiſche zu vermeiden. Es giebt haͤretiſche Schriften, die in
vielen Gemeinden gebraucht wurden und gleich den zweifelhaften
Anſpruch machten, in den Kanon aufgenommen zu werden.
Aber man ſchied ſie aus. So iſt der ſpaͤtere Geſammtzuſtand
das Reſultat von dem Verlangen einer jeden Gemeinde alles zu
haben, was irgend in einer andern Gemeinde als heilig gegolten.
Dieß Verlangen hat in allen Faͤllen geſiegt, wo in dem Zweifel-
haften nichts Haͤretiſches war; es hat nicht geſiegt, wo Haͤreti-
ſches war. So iſt der Hergang der Sache. Aber man hat ſie
damals nicht aus den rechten Gruͤnden betrachtet, ſondern mehr
eigentlich als einen Tauſch. Damit die Einen fahren ließen, was
von katholiſcher Seite als haͤretiſch erſchien, ſo nahmen die An-
dern an, was zweifelhaft war, ohne haͤretiſch zu ſein. Nun
kommt die Frage ſo zu ſtehen, daß ſie aus inneren Gruͤnden ent-
ſchieden werden muß. Was hatten die Zweifelnden fuͤr Gruͤnde,
und was fuͤr welche die Annehmenden? Das Bezweifeln ſezt
eine kritiſche Richtung voraus, die Annahme nicht. Koͤnnten
wir Fakta beibringen, um auszumitteln, woher die zweifelhaften
Schriften zuerſt gekommen, und wie ſie ſich ſo verbreitet haben,
ſo koͤnnten wir den Beweis aus wirklich bezeugten Thatſachen
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 387. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/411>, abgerufen am 04.12.2024.
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