Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

22. Wenn die nöthigen Geschichtskenntnisse nur aus
Prolegomenen genommen werden, so kann keine selbständige
Auslegung entstehen.

1. Solche Prolegomena sind nebst den kritischen Hülfen
die Pflicht eines jeden Herausgebers, der eine Mittelsperson
sein will. Sie können aber selbst nur ruhen auf einer Kennt-
niß des ganzen einer Schrift angehörigen Litteraturkreises, und
alles dessen was in späteren Gebieten über den Verfasser einer
Schrift vorkommt. Also sind sie selbst von der Auslegung ab-
hängig. Sie werden zugleich für den berechnet, dem die ur-
spüngliche Erwerbung in keinem Verhältniß stände zu seinem
Zwecke. Der genaue Ausleger muß aber allmählig alles aus
den Quellen selbst schöpfen, und eben darum kann sein Ge-
schäft nur vom leichteren zum schwereren in dieser Hinsicht
fortschreiten. Am schädlichsten aber wird die Abhängigkeit wenn
man in die Prolegomenen solche Notizen hineinbringt die nur
aus dem auszulegenden Werke selbst können geschöpft werden.

2. In Bezug auf das N. Testam. hat man aus diesen
Vorkenntnissen eine eigene Disciplin gemacht, die Einleitung.
Diese ist kein eigentlicher organischer Bestandtheil der theolo-
gischen Wissenschaft, aber praktisch ist es zweckmäßig, theils für
den Anfänger, theils für den Meister, weil es nun leichter ist
alle hieher gehörigen Untersuchungen auf einen Punkt zusam-
menzubringen. Aber der Ausleger muß immer auch wieder bei-
tragen, um diese Masse von Resultaten zu vermehren und zu
berichtigen.

Zusaz. Aus der verschiedenen Art diese Vorkenntnisse frag-
mentarisch anzulegen und zu benuzen bilden sich verschiedene
aber auch einseitige Schulen der Interpretation, die leicht als
Manier tadelhaft werden.

23. Auch innerhalb einer einzelnen Schrift kann das
Einzelne nur aus dem Ganzen verstanden werden, und es

22. Wenn die noͤthigen Geſchichtskenntniſſe nur aus
Prolegomenen genommen werden, ſo kann keine ſelbſtaͤndige
Auslegung entſtehen.

1. Solche Prolegomena ſind nebſt den kritiſchen Huͤlfen
die Pflicht eines jeden Herausgebers, der eine Mittelsperſon
ſein will. Sie koͤnnen aber ſelbſt nur ruhen auf einer Kennt-
niß des ganzen einer Schrift angehoͤrigen Litteraturkreiſes, und
alles deſſen was in ſpaͤteren Gebieten uͤber den Verfaſſer einer
Schrift vorkommt. Alſo ſind ſie ſelbſt von der Auslegung ab-
haͤngig. Sie werden zugleich fuͤr den berechnet, dem die ur-
ſpuͤngliche Erwerbung in keinem Verhaͤltniß ſtaͤnde zu ſeinem
Zwecke. Der genaue Ausleger muß aber allmaͤhlig alles aus
den Quellen ſelbſt ſchoͤpfen, und eben darum kann ſein Ge-
ſchaͤft nur vom leichteren zum ſchwereren in dieſer Hinſicht
fortſchreiten. Am ſchaͤdlichſten aber wird die Abhaͤngigkeit wenn
man in die Prolegomenen ſolche Notizen hineinbringt die nur
aus dem auszulegenden Werke ſelbſt koͤnnen geſchoͤpft werden.

2. In Bezug auf das N. Teſtam. hat man aus dieſen
Vorkenntniſſen eine eigene Disciplin gemacht, die Einleitung.
Dieſe iſt kein eigentlicher organiſcher Beſtandtheil der theolo-
giſchen Wiſſenſchaft, aber praktiſch iſt es zweckmaͤßig, theils fuͤr
den Anfaͤnger, theils fuͤr den Meiſter, weil es nun leichter iſt
alle hieher gehoͤrigen Unterſuchungen auf einen Punkt zuſam-
menzubringen. Aber der Ausleger muß immer auch wieder bei-
tragen, um dieſe Maſſe von Reſultaten zu vermehren und zu
berichtigen.

Zuſaz. Aus der verſchiedenen Art dieſe Vorkenntniſſe frag-
mentariſch anzulegen und zu benuzen bilden ſich verſchiedene
aber auch einſeitige Schulen der Interpretation, die leicht als
Manier tadelhaft werden.

23. Auch innerhalb einer einzelnen Schrift kann das
Einzelne nur aus dem Ganzen verſtanden werden, und es

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0060" n="36"/>
            <p>22. Wenn die no&#x0364;thigen Ge&#x017F;chichtskenntni&#x017F;&#x017F;e nur aus<lb/>
Prolegomenen genommen werden, &#x017F;o kann keine &#x017F;elb&#x017F;ta&#x0364;ndige<lb/>
Auslegung ent&#x017F;tehen.</p><lb/>
            <p>1. Solche Prolegomena &#x017F;ind neb&#x017F;t den kriti&#x017F;chen Hu&#x0364;lfen<lb/>
die Pflicht eines jeden Herausgebers, der eine Mittelsper&#x017F;on<lb/>
&#x017F;ein will. Sie ko&#x0364;nnen aber &#x017F;elb&#x017F;t nur ruhen auf einer Kennt-<lb/>
niß des ganzen einer Schrift angeho&#x0364;rigen Litteraturkrei&#x017F;es, und<lb/>
alles de&#x017F;&#x017F;en was in &#x017F;pa&#x0364;teren Gebieten u&#x0364;ber den Verfa&#x017F;&#x017F;er einer<lb/>
Schrift vorkommt. Al&#x017F;o &#x017F;ind &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t von der Auslegung ab-<lb/>
ha&#x0364;ngig. Sie werden zugleich fu&#x0364;r den berechnet, dem die ur-<lb/>
&#x017F;pu&#x0364;ngliche Erwerbung in keinem Verha&#x0364;ltniß &#x017F;ta&#x0364;nde zu &#x017F;einem<lb/>
Zwecke. Der genaue Ausleger muß aber allma&#x0364;hlig alles aus<lb/>
den Quellen &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;cho&#x0364;pfen, und eben darum kann &#x017F;ein Ge-<lb/>
&#x017F;cha&#x0364;ft nur vom leichteren zum &#x017F;chwereren in die&#x017F;er Hin&#x017F;icht<lb/>
fort&#x017F;chreiten. Am &#x017F;cha&#x0364;dlich&#x017F;ten aber wird die Abha&#x0364;ngigkeit wenn<lb/>
man in die Prolegomenen &#x017F;olche Notizen hineinbringt die nur<lb/>
aus dem auszulegenden Werke &#x017F;elb&#x017F;t ko&#x0364;nnen ge&#x017F;cho&#x0364;pft werden.</p><lb/>
            <p>2. In Bezug auf das N. Te&#x017F;tam. hat man aus die&#x017F;en<lb/>
Vorkenntni&#x017F;&#x017F;en eine eigene Disciplin gemacht, die Einleitung.<lb/>
Die&#x017F;e i&#x017F;t kein eigentlicher organi&#x017F;cher Be&#x017F;tandtheil der theolo-<lb/>
gi&#x017F;chen Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft, aber prakti&#x017F;ch i&#x017F;t es zweckma&#x0364;ßig, theils fu&#x0364;r<lb/>
den Anfa&#x0364;nger, theils fu&#x0364;r den Mei&#x017F;ter, weil es nun leichter i&#x017F;t<lb/>
alle hieher geho&#x0364;rigen Unter&#x017F;uchungen auf <hi rendition="#g">einen</hi> Punkt zu&#x017F;am-<lb/>
menzubringen. Aber der Ausleger muß immer auch wieder bei-<lb/>
tragen, um die&#x017F;e Ma&#x017F;&#x017F;e von Re&#x017F;ultaten zu vermehren und zu<lb/>
berichtigen.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Zu&#x017F;az</hi>. Aus der ver&#x017F;chiedenen Art die&#x017F;e Vorkenntni&#x017F;&#x017F;e frag-<lb/>
mentari&#x017F;ch anzulegen und zu benuzen bilden &#x017F;ich ver&#x017F;chiedene<lb/>
aber auch ein&#x017F;eitige Schulen der Interpretation, die leicht als<lb/>
Manier tadelhaft werden.</p><lb/>
            <p>23. Auch innerhalb einer einzelnen Schrift kann das<lb/>
Einzelne nur aus dem Ganzen ver&#x017F;tanden werden, und es<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[36/0060] 22. Wenn die noͤthigen Geſchichtskenntniſſe nur aus Prolegomenen genommen werden, ſo kann keine ſelbſtaͤndige Auslegung entſtehen. 1. Solche Prolegomena ſind nebſt den kritiſchen Huͤlfen die Pflicht eines jeden Herausgebers, der eine Mittelsperſon ſein will. Sie koͤnnen aber ſelbſt nur ruhen auf einer Kennt- niß des ganzen einer Schrift angehoͤrigen Litteraturkreiſes, und alles deſſen was in ſpaͤteren Gebieten uͤber den Verfaſſer einer Schrift vorkommt. Alſo ſind ſie ſelbſt von der Auslegung ab- haͤngig. Sie werden zugleich fuͤr den berechnet, dem die ur- ſpuͤngliche Erwerbung in keinem Verhaͤltniß ſtaͤnde zu ſeinem Zwecke. Der genaue Ausleger muß aber allmaͤhlig alles aus den Quellen ſelbſt ſchoͤpfen, und eben darum kann ſein Ge- ſchaͤft nur vom leichteren zum ſchwereren in dieſer Hinſicht fortſchreiten. Am ſchaͤdlichſten aber wird die Abhaͤngigkeit wenn man in die Prolegomenen ſolche Notizen hineinbringt die nur aus dem auszulegenden Werke ſelbſt koͤnnen geſchoͤpft werden. 2. In Bezug auf das N. Teſtam. hat man aus dieſen Vorkenntniſſen eine eigene Disciplin gemacht, die Einleitung. Dieſe iſt kein eigentlicher organiſcher Beſtandtheil der theolo- giſchen Wiſſenſchaft, aber praktiſch iſt es zweckmaͤßig, theils fuͤr den Anfaͤnger, theils fuͤr den Meiſter, weil es nun leichter iſt alle hieher gehoͤrigen Unterſuchungen auf einen Punkt zuſam- menzubringen. Aber der Ausleger muß immer auch wieder bei- tragen, um dieſe Maſſe von Reſultaten zu vermehren und zu berichtigen. Zuſaz. Aus der verſchiedenen Art dieſe Vorkenntniſſe frag- mentariſch anzulegen und zu benuzen bilden ſich verſchiedene aber auch einſeitige Schulen der Interpretation, die leicht als Manier tadelhaft werden. 23. Auch innerhalb einer einzelnen Schrift kann das Einzelne nur aus dem Ganzen verſtanden werden, und es

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/60
Zitationshilfe: Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/60>, abgerufen am 04.12.2024.