Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838.behrlich werde, oder vielmehr daß ihr Resultat in der ersten Den Vortrag vom Jahre 1832. über §. 14-23. faßt Schleier- Vor dem Anfange des hermeneutischen Verfahrens muß man Der Kanon gewinnt nun diese Gestalt: Um das erste genau 1) In der Vorlesung wird dieß dadurch deutlicher, daß man sieht, wie die
hermeneutische Aufgabe von der mündlichen Rede, dem Gespräch, -- als dem ursprünglichen Orte des Verstehens -- zum Verstehen der Schrift hinübergeführt wird. behrlich werde, oder vielmehr daß ihr Reſultat in der erſten Den Vortrag vom Jahre 1832. uͤber §. 14-23. faßt Schleier- Vor dem Anfange des hermeneutiſchen Verfahrens muß man Der Kanon gewinnt nun dieſe Geſtalt: Um das erſte genau 1) In der Vorleſung wird dieß dadurch deutlicher, daß man ſieht, wie die
hermeneutiſche Aufgabe von der muͤndlichen Rede, dem Geſpraͤch, — als dem urſpruͤnglichen Orte des Verſtehens — zum Verſtehen der Schrift hinuͤbergefuͤhrt wird. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0062" n="38"/> behrlich werde, oder vielmehr daß ihr Reſultat in der erſten<lb/> mit erſcheine. Die grammatiſche Interpretation geht voran.</p><lb/> <p>Den Vortrag vom Jahre 1832. uͤber §. 14-23. faßt Schleier-<lb/> macher ſelbſt in der Kuͤrze ſo zuſammen:</p><lb/> <p>Vor dem Anfange des hermeneutiſchen Verfahrens muß man<lb/> wiſſen, in welchem Verhaͤltniß man beide Seiten anzuwenden<lb/> hat (ſ. §. 12.) Dann muß man zwiſchen ſich und dem Autor<lb/> daſſelbe Verhaͤltniß herſtellen wie zwiſchen ihm und ſeiner ur-<lb/> ſpruͤnglichen Addreſſe. Alſo Kenntniß des ganzen Lebenskreiſes<lb/> und des Verhaͤltniſſes beider Theile dazu. Iſt dieß nicht voll-<lb/> ſtaͤndig geſchehen, ſo entſtehen Schwierigkeiten die wir vermeiden<lb/> wollen. Commentare ſagen dieſes voraus und wollen ſie loͤſen.<lb/> Wer ſie gebraucht ergiebt ſich einer Auctoritaͤt und erhaͤlt ſich das<lb/> ſelbſtaͤndige Verſtehen nur wenn er dieſe Auctoritaͤt wieder ſeinem<lb/> eigenen Urtheile unterwirft. — Iſt die Rede an mich unmittel-<lb/> bar gerichtet, ſo muß auch vorausgeſetzt werden, daß der Redende<lb/> mich ſo denkt, wie ich mir bewußt bin zu ſein. Da aber ſchon<lb/> das gemeine Geſpraͤch oft zeigt, daß ſich dieß nicht ſo verhaͤlt, ſo<lb/> muͤſſen wir ſkeptiſch verfahren. Der Kanon iſt: Die Beſtaͤtigung<lb/> des Verſtaͤndniſſes, welches ſich am Anfange ergiebt, iſt vom fol-<lb/> genden zu erwarten. Daraus folgt, daß man den Anfang nicht<lb/> eher verſteht als am Ende, alſo auch, daß man den Anfang noch<lb/> haben muß am Ende, und dieß heißt bei jedem uͤber das gewoͤhn-<lb/> liche Maaß des Gedaͤchtniſſes hinausgehenden Complexus, daß<lb/> die Rede muß Schrift werden <note place="foot" n="1)">In der Vorleſung wird dieß dadurch deutlicher, daß man ſieht, wie die<lb/> hermeneutiſche Aufgabe von der muͤndlichen Rede, dem Geſpraͤch, — als<lb/> dem urſpruͤnglichen Orte des Verſtehens — zum Verſtehen der Schrift<lb/> hinuͤbergefuͤhrt wird.</note>.</p><lb/> <p>Der Kanon gewinnt nun dieſe Geſtalt: Um das erſte genau<lb/> zu verſtehen muß man ſchon das Ganze aufgenommen haben.<lb/> Natuͤrlich nicht in ſofern es der Geſammtheit der Einzelheiten<lb/> gleich iſt, ſondern als Skelett, Grundriß, wie man es faſſen<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [38/0062]
behrlich werde, oder vielmehr daß ihr Reſultat in der erſten
mit erſcheine. Die grammatiſche Interpretation geht voran.
Den Vortrag vom Jahre 1832. uͤber §. 14-23. faßt Schleier-
macher ſelbſt in der Kuͤrze ſo zuſammen:
Vor dem Anfange des hermeneutiſchen Verfahrens muß man
wiſſen, in welchem Verhaͤltniß man beide Seiten anzuwenden
hat (ſ. §. 12.) Dann muß man zwiſchen ſich und dem Autor
daſſelbe Verhaͤltniß herſtellen wie zwiſchen ihm und ſeiner ur-
ſpruͤnglichen Addreſſe. Alſo Kenntniß des ganzen Lebenskreiſes
und des Verhaͤltniſſes beider Theile dazu. Iſt dieß nicht voll-
ſtaͤndig geſchehen, ſo entſtehen Schwierigkeiten die wir vermeiden
wollen. Commentare ſagen dieſes voraus und wollen ſie loͤſen.
Wer ſie gebraucht ergiebt ſich einer Auctoritaͤt und erhaͤlt ſich das
ſelbſtaͤndige Verſtehen nur wenn er dieſe Auctoritaͤt wieder ſeinem
eigenen Urtheile unterwirft. — Iſt die Rede an mich unmittel-
bar gerichtet, ſo muß auch vorausgeſetzt werden, daß der Redende
mich ſo denkt, wie ich mir bewußt bin zu ſein. Da aber ſchon
das gemeine Geſpraͤch oft zeigt, daß ſich dieß nicht ſo verhaͤlt, ſo
muͤſſen wir ſkeptiſch verfahren. Der Kanon iſt: Die Beſtaͤtigung
des Verſtaͤndniſſes, welches ſich am Anfange ergiebt, iſt vom fol-
genden zu erwarten. Daraus folgt, daß man den Anfang nicht
eher verſteht als am Ende, alſo auch, daß man den Anfang noch
haben muß am Ende, und dieß heißt bei jedem uͤber das gewoͤhn-
liche Maaß des Gedaͤchtniſſes hinausgehenden Complexus, daß
die Rede muß Schrift werden 1).
Der Kanon gewinnt nun dieſe Geſtalt: Um das erſte genau
zu verſtehen muß man ſchon das Ganze aufgenommen haben.
Natuͤrlich nicht in ſofern es der Geſammtheit der Einzelheiten
gleich iſt, ſondern als Skelett, Grundriß, wie man es faſſen
1) In der Vorleſung wird dieß dadurch deutlicher, daß man ſieht, wie die
hermeneutiſche Aufgabe von der muͤndlichen Rede, dem Geſpraͤch, — als
dem urſpruͤnglichen Orte des Verſtehens — zum Verſtehen der Schrift
hinuͤbergefuͤhrt wird.
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