Es entsteht die Frage, in wiefern in der Geschichte der Sprache ein wesentliches Moment für die Hermeneutik liegt?
Sagen wir, wir haben große Zeiträume vor uns, in denen eine Sprache gelebt hat und können von jedem Punkte aus rück- wärts gehen, nur nicht bis zu den Anfängen, -- denn die sind uns nirgends in der Zeit gegeben, -- und vergleichen wir die Ge- brauchsweisen eines Wortes bei den frühesten und spätesten, -- haben jene nun mit lebendigem Bewußtsein das Wort gebrau- chend alle Bedeutungen, die wir im späteren Gebrauch finden, mit gedacht? Dieß möchte wohl niemand weder bejahen noch beweisen können. Sondern in einer Sprache, die viele Gene- rationen dominirt, müssen nothwendig Kenntnisse erwachsen, die den frühesten gar nicht im Bewußtsein sein konnten. Diese wir- ken unvermeidlich auf die Sprache. Da aber ganz neue Elemente in der bereits vorhandenen Sprache nicht entstehen können, so entstehen neue Gebrauchsweisen, die in dem Bewußtsein der frühe- ren nicht gewesen. So das Wort basil03B5;us bei den Griechen. -- Wollen wir nun genau verstehen, so müssen wir wissen, mit wel- chem Grade von Lebendigkeit der Redende seine Ausdrücke her- vorgebracht und was sie in dieser Innerlichkeit betrachtet für ihn wirklich beschlossen halten. Denn nur auf die Weise finden wir den Proceß seines Denkens. Obwohl nun dieß auf die psycho- logische Seite zu gehören scheint, so muß es doch hierher gezo- gen werden, da es vor allem darauf ankommt zu wissen, welcher Sprachgehalt dem gegenwärtig gewesen ist, der das Wort ge- braucht, ob ein neuer oder alter Gebrauch. Beides ist verschieden. Denn ein Ausdruck dessen ich mir als eines neuen bewußt bin, der hat einen Accent, eine Emphasis, einen Farbeton ganz anderer Art, als dessen ich mich als eines abgegriffenen Zeichens bediene. Dazu ge- hört die Kenntniß der ganzen Sprache und ihrer Geschichte und das Verhältniß des Schriftstellers zu derselben. Aber wer ver- möchte diese Aufgabe ganz zu lösen wagen! Indeß man muß auch in einem gegebenen Moment die Aufgabe nie ganz lösen wollen, sondern in den meisten Fällen immer nur etwas. Aber
Es entſteht die Frage, in wiefern in der Geſchichte der Sprache ein weſentliches Moment fuͤr die Hermeneutik liegt?
Sagen wir, wir haben große Zeitraͤume vor uns, in denen eine Sprache gelebt hat und koͤnnen von jedem Punkte aus ruͤck- waͤrts gehen, nur nicht bis zu den Anfaͤngen, — denn die ſind uns nirgends in der Zeit gegeben, — und vergleichen wir die Ge- brauchsweiſen eines Wortes bei den fruͤheſten und ſpaͤteſten, — haben jene nun mit lebendigem Bewußtſein das Wort gebrau- chend alle Bedeutungen, die wir im ſpaͤteren Gebrauch finden, mit gedacht? Dieß moͤchte wohl niemand weder bejahen noch beweiſen koͤnnen. Sondern in einer Sprache, die viele Gene- rationen dominirt, muͤſſen nothwendig Kenntniſſe erwachſen, die den fruͤheſten gar nicht im Bewußtſein ſein konnten. Dieſe wir- ken unvermeidlich auf die Sprache. Da aber ganz neue Elemente in der bereits vorhandenen Sprache nicht entſtehen koͤnnen, ſo entſtehen neue Gebrauchsweiſen, die in dem Bewußtſein der fruͤhe- ren nicht geweſen. So das Wort βασιλ03B5;ὺς bei den Griechen. — Wollen wir nun genau verſtehen, ſo muͤſſen wir wiſſen, mit wel- chem Grade von Lebendigkeit der Redende ſeine Ausdruͤcke her- vorgebracht und was ſie in dieſer Innerlichkeit betrachtet fuͤr ihn wirklich beſchloſſen halten. Denn nur auf die Weiſe finden wir den Proceß ſeines Denkens. Obwohl nun dieß auf die pſycho- logiſche Seite zu gehoͤren ſcheint, ſo muß es doch hierher gezo- gen werden, da es vor allem darauf ankommt zu wiſſen, welcher Sprachgehalt dem gegenwaͤrtig geweſen iſt, der das Wort ge- braucht, ob ein neuer oder alter Gebrauch. Beides iſt verſchieden. Denn ein Ausdruck deſſen ich mir als eines neuen bewußt bin, der hat einen Accent, eine Emphaſis, einen Farbeton ganz anderer Art, als deſſen ich mich als eines abgegriffenen Zeichens bediene. Dazu ge- hoͤrt die Kenntniß der ganzen Sprache und ihrer Geſchichte und das Verhaͤltniß des Schriftſtellers zu derſelben. Aber wer ver- moͤchte dieſe Aufgabe ganz zu loͤſen wagen! Indeß man muß auch in einem gegebenen Moment die Aufgabe nie ganz loͤſen wollen, ſondern in den meiſten Faͤllen immer nur etwas. Aber
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Es entſteht die Frage, in wiefern in der Geſchichte der
Sprache ein weſentliches Moment fuͤr die Hermeneutik liegt?
Sagen wir, wir haben große Zeitraͤume vor uns, in denen
eine Sprache gelebt hat und koͤnnen von jedem Punkte aus ruͤck-
waͤrts gehen, nur nicht bis zu den Anfaͤngen, — denn die ſind
uns nirgends in der Zeit gegeben, — und vergleichen wir die Ge-
brauchsweiſen eines Wortes bei den fruͤheſten und ſpaͤteſten, —
haben jene nun mit lebendigem Bewußtſein das Wort gebrau-
chend alle Bedeutungen, die wir im ſpaͤteren Gebrauch finden,
mit gedacht? Dieß moͤchte wohl niemand weder bejahen noch
beweiſen koͤnnen. Sondern in einer Sprache, die viele Gene-
rationen dominirt, muͤſſen nothwendig Kenntniſſe erwachſen, die
den fruͤheſten gar nicht im Bewußtſein ſein konnten. Dieſe wir-
ken unvermeidlich auf die Sprache. Da aber ganz neue Elemente
in der bereits vorhandenen Sprache nicht entſtehen koͤnnen, ſo
entſtehen neue Gebrauchsweiſen, die in dem Bewußtſein der fruͤhe-
ren nicht geweſen. So das Wort βασιλ03B5;ὺς bei den Griechen. —
Wollen wir nun genau verſtehen, ſo muͤſſen wir wiſſen, mit wel-
chem Grade von Lebendigkeit der Redende ſeine Ausdruͤcke her-
vorgebracht und was ſie in dieſer Innerlichkeit betrachtet fuͤr ihn
wirklich beſchloſſen halten. Denn nur auf die Weiſe finden wir
den Proceß ſeines Denkens. Obwohl nun dieß auf die pſycho-
logiſche Seite zu gehoͤren ſcheint, ſo muß es doch hierher gezo-
gen werden, da es vor allem darauf ankommt zu wiſſen, welcher
Sprachgehalt dem gegenwaͤrtig geweſen iſt, der das Wort ge-
braucht, ob ein neuer oder alter Gebrauch. Beides iſt verſchieden.
Denn ein Ausdruck deſſen ich mir als eines neuen bewußt bin, der hat
einen Accent, eine Emphaſis, einen Farbeton ganz anderer Art, als
deſſen ich mich als eines abgegriffenen Zeichens bediene. Dazu ge-
hoͤrt die Kenntniß der ganzen Sprache und ihrer Geſchichte und
das Verhaͤltniß des Schriftſtellers zu derſelben. Aber wer ver-
moͤchte dieſe Aufgabe ganz zu loͤſen wagen! Indeß man muß
auch in einem gegebenen Moment die Aufgabe nie ganz loͤſen
wollen, ſondern in den meiſten Faͤllen immer nur etwas. Aber
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Schleiermacher, Friedrich: Hermeneutik und Kritik. Berlin, 1838, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleiermacher_hermeneutik_1838/76>, abgerufen am 04.12.2024.
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