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Schleinitz, Alexandra von: Offener Brief einer Studirenden an die Gegner der „Studentinnen“ unter den Studenten. Zürich, 1872.

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den Höhlenbezirk der Wahrheit betreten und ganz gemüthlich
allhier herumspazieren zu können? - Nun, wenn Sie wirklich eine
derartige Meinung hegen sollten, dann denken wir anders und
höher von der Wahrheit. Uns ist sie ein heiliges, göttliches Licht,
ein die Seele erleuchtendes und läuterndes Feuer; der Urgrund
und das Wesen, das sine qua non alles Schönen und Grossen und
Guten; das letzte mit unwiderstehlicher magnetischer Kraft wirkende
Ziel, darnach alles menschliche Streben und Ringen, alles Sehnen
und Hoffen geht. Uns ist sie das Erste was des Kindes erwachendes
Bewusstsein, das Letzte was der brechende Blick des Sterbenden
sucht - und dieser Drang, dieser unbezwingliche Zug nach
Wahrheit ist uns des menschenwürdigste Eigenschaft. - Diesen
göttlichen Trieb, dieses Criterium des Menschenthums, sollten wir
Frauen, wir die Eine grosse Hälfte der Menschheit ersticken
müssen?

Ja, von der Wissenschaft wollen Sie uns ausschliessen, aber
wenn auch nicht das Gebiet des Erkennens, das Reich der Schön-
heit wollen Sie uns betreten lassen: die Kunst zu üben soll uns
erlaubt sein! - Allein bedenken Sie doch, in unserer reflectirenden,
nicht mehr naiv schaffenden Zeit, hat auch jede Kunst bereits ihre
Wissenschaft, kann keine derselben ausgeübt werden, ohne wissen-
schaftliche, gründliche Erkenntniss ihres Wesens, ihrer Bedingungen,
ihres Verhältnisses zu andern mit ihr zusammenhängenden, und
doch wieder von ihr abgegrenzten Gebieten. Wissenschaftlicher
Betrieb seines entsprechenden Faches, das ist die characteristische
Forderung unserer Zeit, die sie nicht nur an den eigentlichen Mann
der Wissenschaft, sondern an den Soldaten, den Beamten, den
Oekonomen, den Handwerker, und wahrlich auch an den Dichter,
den Künstler stellt. Ja gerade der Künstler, der Dichter, der
Schriftsteller soll auf der Höhe seiner Zeit stehen, sie ihrem vollen
Inhalt nach begreifen, in den Besitz ihrer geistigen Errungenschaften
sich setzen, und die Resultate der gesammten Forschung in das
Bereich seiner Anschauungen ziehen. - Schliessen Sie heut zu Tage
die Frau in der That und konsequent von der Wissenschaft aus,
so haben Sie ihr damit auch das Gebiet der Kunst entrissen.

Indessen neben künstlerischer Thätigkeit gestehen Sie - wenn
ich nicht irre - der Frau ja noch ein anderes, ein spezifisch
praktisches, direct ethischen Interessen dienendes Wirken zu:
z. B. Armenpflege, Krankenwartung, Kindererziehung. - Aber Sie

den Höhlenbezirk der Wahrheit betreten und ganz gemüthlich
allhier herumspazieren zu können? – Nun, wenn Sie wirklich eine
derartige Meinung hegen sollten, dann denken wir anders und
höher von der Wahrheit. Uns ist sie ein heiliges, göttliches Licht,
ein die Seele erleuchtendes und läuterndes Feuer; der Urgrund
und das Wesen, das sine qua non alles Schönen und Grossen und
Guten; das letzte mit unwiderstehlicher magnetischer Kraft wirkende
Ziel, darnach alles menschliche Streben und Ringen, alles Sehnen
und Hoffen geht. Uns ist sie das Erste was des Kindes erwachendes
Bewusstsein, das Letzte was der brechende Blick des Sterbenden
sucht – und dieser Drang, dieser unbezwingliche Zug nach
Wahrheit ist uns des menschenwürdigste Eigenschaft. – Diesen
göttlichen Trieb, dieses Criterium des Menschenthums, sollten wir
Frauen, wir die Eine grosse Hälfte der Menschheit ersticken
müssen?

Ja, von der Wissenschaft wollen Sie uns ausschliessen, aber
wenn auch nicht das Gebiet des Erkennens, das Reich der Schön-
heit wollen Sie uns betreten lassen: die Kunst zu üben soll uns
erlaubt sein! – Allein bedenken Sie doch, in unserer reflectirenden,
nicht mehr naiv schaffenden Zeit, hat auch jede Kunst bereits ihre
Wissenschaft, kann keine derselben ausgeübt werden, ohne wissen-
schaftliche, gründliche Erkenntniss ihres Wesens, ihrer Bedingungen,
ihres Verhältnisses zu andern mit ihr zusammenhängenden, und
doch wieder von ihr abgegrenzten Gebieten. Wissenschaftlicher
Betrieb seines entsprechenden Faches, das ist die characteristische
Forderung unserer Zeit, die sie nicht nur an den eigentlichen Mann
der Wissenschaft, sondern an den Soldaten, den Beamten, den
Oekonomen, den Handwerker, und wahrlich auch an den Dichter,
den Künstler stellt. Ja gerade der Künstler, der Dichter, der
Schriftsteller soll auf der Höhe seiner Zeit stehen, sie ihrem vollen
Inhalt nach begreifen, in den Besitz ihrer geistigen Errungenschaften
sich setzen, und die Resultate der gesammten Forschung in das
Bereich seiner Anschauungen ziehen. – Schliessen Sie heut zu Tage
die Frau in der That und konsequent von der Wissenschaft aus,
so haben Sie ihr damit auch das Gebiet der Kunst entrissen.

Indessen neben künstlerischer Thätigkeit gestehen Sie – wenn
ich nicht irre – der Frau ja noch ein anderes, ein spezifisch
praktisches, direct ethischen Interessen dienendes Wirken zu:
z. B. Armenpflege, Krankenwartung, Kindererziehung. – Aber Sie

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[7/0007] den Höhlenbezirk der Wahrheit betreten und ganz gemüthlich allhier herumspazieren zu können? – Nun, wenn Sie wirklich eine derartige Meinung hegen sollten, dann denken wir anders und höher von der Wahrheit. Uns ist sie ein heiliges, göttliches Licht, ein die Seele erleuchtendes und läuterndes Feuer; der Urgrund und das Wesen, das sine qua non alles Schönen und Grossen und Guten; das letzte mit unwiderstehlicher magnetischer Kraft wirkende Ziel, darnach alles menschliche Streben und Ringen, alles Sehnen und Hoffen geht. Uns ist sie das Erste was des Kindes erwachendes Bewusstsein, das Letzte was der brechende Blick des Sterbenden sucht – und dieser Drang, dieser unbezwingliche Zug nach Wahrheit ist uns des menschenwürdigste Eigenschaft. – Diesen göttlichen Trieb, dieses Criterium des Menschenthums, sollten wir Frauen, wir die Eine grosse Hälfte der Menschheit ersticken müssen? Ja, von der Wissenschaft wollen Sie uns ausschliessen, aber wenn auch nicht das Gebiet des Erkennens, das Reich der Schön- heit wollen Sie uns betreten lassen: die Kunst zu üben soll uns erlaubt sein! – Allein bedenken Sie doch, in unserer reflectirenden, nicht mehr naiv schaffenden Zeit, hat auch jede Kunst bereits ihre Wissenschaft, kann keine derselben ausgeübt werden, ohne wissen- schaftliche, gründliche Erkenntniss ihres Wesens, ihrer Bedingungen, ihres Verhältnisses zu andern mit ihr zusammenhängenden, und doch wieder von ihr abgegrenzten Gebieten. Wissenschaftlicher Betrieb seines entsprechenden Faches, das ist die characteristische Forderung unserer Zeit, die sie nicht nur an den eigentlichen Mann der Wissenschaft, sondern an den Soldaten, den Beamten, den Oekonomen, den Handwerker, und wahrlich auch an den Dichter, den Künstler stellt. Ja gerade der Künstler, der Dichter, der Schriftsteller soll auf der Höhe seiner Zeit stehen, sie ihrem vollen Inhalt nach begreifen, in den Besitz ihrer geistigen Errungenschaften sich setzen, und die Resultate der gesammten Forschung in das Bereich seiner Anschauungen ziehen. – Schliessen Sie heut zu Tage die Frau in der That und konsequent von der Wissenschaft aus, so haben Sie ihr damit auch das Gebiet der Kunst entrissen. Indessen neben künstlerischer Thätigkeit gestehen Sie – wenn ich nicht irre – der Frau ja noch ein anderes, ein spezifisch praktisches, direct ethischen Interessen dienendes Wirken zu: z. B. Armenpflege, Krankenwartung, Kindererziehung. – Aber Sie

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Frauenstudium, betreut von Andreas Neumann und Anna Pfundt, FSU Jena und JLU Gießen : Bereitstellung der Texttranskription. (2021-06-15T09:43:56Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Andreas Neumann, Juliane Nau: Bearbeitung der digitalen Edition. (2021-06-15T09:43:56Z)

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Zitationshilfe: Schleinitz, Alexandra von: Offener Brief einer Studirenden an die Gegner der „Studentinnen“ unter den Studenten. Zürich, 1872, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schleinitz_brief_1872/7>, abgerufen am 21.11.2024.