Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Erstes Buch. Land, Leute und Technik. J. St. Mill, der unsere Wissenschaft im ganzen aus einem überall gleichen Erwerbs-triebe ableiten will, den seinem nationalökonomischen Grundprincipe ins Gesicht schlagenden Satz aus: es giebt keinen allgemein menschlichen Charakter, eine von Engländern abgeleitete Maxime kann nicht auf Franzosen angewandt werden; wir müssen allgemeine Gesetze über die Bildung des Charakters suchen und finden: "die Gesetze des nationalen Charakters sind die wichtigste Klasse von sociologischen Gesetzen". Je realistischer die Staatswissenschaften geworden sind, desto mehr machten sich Cooks Reisen 1762--1779 begannen die Aufmerksamkeit auf die sogenannten 59. Die verschiedenen Rassen und Völker und das Princip der Erſtes Buch. Land, Leute und Technik. J. St. Mill, der unſere Wiſſenſchaft im ganzen aus einem überall gleichen Erwerbs-triebe ableiten will, den ſeinem nationalökonomiſchen Grundprincipe ins Geſicht ſchlagenden Satz aus: es giebt keinen allgemein menſchlichen Charakter, eine von Engländern abgeleitete Maxime kann nicht auf Franzoſen angewandt werden; wir müſſen allgemeine Geſetze über die Bildung des Charakters ſuchen und finden: „die Geſetze des nationalen Charakters ſind die wichtigſte Klaſſe von ſociologiſchen Geſetzen“. Je realiſtiſcher die Staatswiſſenſchaften geworden ſind, deſto mehr machten ſich Cooks Reiſen 1762—1779 begannen die Aufmerkſamkeit auf die ſogenannten 59. Die verſchiedenen Raſſen und Völker und das Princip der <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0156" n="140"/><fw place="top" type="header">Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.</fw><lb/> J. St. Mill, der unſere Wiſſenſchaft im ganzen aus einem überall gleichen Erwerbs-<lb/> triebe ableiten will, den ſeinem nationalökonomiſchen Grundprincipe ins Geſicht ſchlagenden<lb/> Satz aus: es giebt keinen allgemein menſchlichen Charakter, eine von Engländern<lb/> abgeleitete Maxime kann nicht auf Franzoſen angewandt werden; wir müſſen allgemeine<lb/> Geſetze über die Bildung des Charakters ſuchen und finden: „die Geſetze des nationalen<lb/> Charakters ſind die wichtigſte Klaſſe von ſociologiſchen Geſetzen“.</p><lb/> <p>Je realiſtiſcher die Staatswiſſenſchaften geworden ſind, deſto mehr machten ſich<lb/> Verſuche geltend, welche dies anerkennen wollten. Ich erinnere z. B. an Vollgrafs un-<lb/> glücklichen Verſuch, aus einer naturphiloſophiſch konſtruierten Raſſenlehre ein wirt-<lb/> ſchaftlich-politiſches Entwickelungsgeſetz der Völker abzuleiten, und an Graf Gobineaus<lb/> Raſſentheorien; dieſer geiſtvolle Schriftſteller hat das Verdienſt, die hiſtoriſche Bedeutung<lb/> der Raſſenunterſchiede erkannt und mit Gelehrſamkeit belegt zu haben; aber indem er<lb/> allen Fortſchritt auf ariſches Blut, allen Rückſchritt auf die zu ſtarke Miſchung der<lb/> höheren mit den niederen Raſſen zurückführt, überhaupt ſeiner ariſtokratiſchen und<lb/> peſſimiſtiſchen Tendenz die Zügel ſchießen läßt, nehmen ſeine Ausführungen teilweiſe<lb/> doch mehr den Charakter intuitiver Spekulation und dichteriſcher Phantaſie an. Im<lb/> ganzen iſt mit ſolchen Verſuchen für Staatslehre und Volkswirtſchaft bisher nicht viel<lb/> erreicht worden; es fehlte ihnen die geſicherte empiriſche Grundlage. Die Wiſſenſchaften<lb/> der Anthropologie und Ethnographie ſind noch gar jung. Und erſt nachdem ſie und<lb/> die vergleichende Sprachwiſſenſchaft ausgebildet waren, konnte auch die Geſchichts- und<lb/> Staatswiſſenſchaft beginnen, ihre Blicke auf die Raſſenfrage zu werfen.</p><lb/> <p>Cooks Reiſen 1762—1779 begannen die Aufmerkſamkeit auf die ſogenannten<lb/> Naturvölker zu lenken. Herder verſuchte dann vom ſpekulativen, Blumenbach vom natur-<lb/> wiſſenſchaftlichen Standpunkte die Raſſen- und Völkerunterſchiede zu faſſen. Erſt in den<lb/> letzten zwei oder drei Menſchenaltern haben forſchende Reiſende ein halbwegs ausreichendes<lb/> deſkriptives Material geſammelt; die Biologen und Naturforſcher haben die körperlichen<lb/> Seiten desſelben, die Philoſophen, Geographen und Ethnologen die pſychologiſchen und<lb/> ſittengeſchichtlichen einer ſtrengeren Sichtung und Ordnung unterworfen. Urgeſchichte,<lb/> Sprachvergleichung, Völkerpſychologie und andere Wiſſenszweige kamen hinzu: die<lb/> Ethnographie oder Völkerkunde entſtand neben der etwas älteren, mehr naturwiſſenſchaft-<lb/> lichen Anthropologie. Und ſo iſt heute ein großes, teilweiſe ſchon bearbeitetes Material<lb/> aus dem Gebiete der Raſſen- und Völkerbeſchreibung und -Vergleichung vorhanden, das<lb/> der Verwertung für geſellſchaftswiſſenſchaftliche Reſultate harrt. Leicht wird ſie freilich<lb/> nicht ſein; Anthropologie und Ethnographie arbeiten noch weſentlich an den über-<lb/> wiegend naturwiſſenſchaftlichen Elementen ihrer Disciplin; die Grundprobleme ſind noch<lb/> beſtritten, teilweiſe unaufgeklärt; die Klaſſifizierung der Erſcheinungen und die daraus<lb/> ſich ergebenden Schlüſſe ſind noch wenig vollendet. Dennoch müſſen wir verſuchen,<lb/> einige der Grundfragen hier zu beſprechen, welche auf die wichtigſten volkswirtſchaft-<lb/> lichen und geſellſchaftswiſſenſchaftlichen Probleme einen beherrſchenden Einfluß haben;<lb/> daran ſchließen wir dann einen kurzen Überblick über die Reſultate der Völkerkunde,<lb/> um die anthropologiſchen und pſychologiſchen Ausgangspunkte für vergleichende Be-<lb/> trachtung der verſchiedenen Raſſen- und Völkertypen, für ihr verſchiedenes Handeln und<lb/> ihre verſchiedenen volkswirtſchaftlichen Einrichtungen zu gewinnen.</p><lb/> <p>59. <hi rendition="#g">Die verſchiedenen Raſſen und Völker und das Princip der<lb/> Vererbung</hi>. Wir ſehen heute eine kleine Zahl von Raſſen, d. h. Gruppen von ver-<lb/> ſchiedenen Stämmen und Völkern, welche aber doch ſeit Jahrtauſenden einen im ganzen<lb/> einheitlichen körperlichen und geiſtigen Typus darſtellen, welche wir in ſich als bluts-<lb/> verwandt betrachten, auf einheitliche Abſtammung zurückführen; und daneben eine große<lb/> Zahl Unterraſſen, Stämme und Völker, welche wir als Teile der Raſſen anſehen, welche<lb/> je als Spielarten der Raſſen in ſich einen trotz aller Miſchung doch homogeneren<lb/> körperlichen und geiſtigen Charakter als die Raſſen zeigen. Wir können nur annehmen,<lb/> daß die vorhandene Übereinſtimmung innerhalb der Raſſen und der Völker auf dem<lb/> Princip der Vererbung beruhe, d. h. daß wie die Pflanzen und Tiere, ſo auch die<lb/> Menſchen in der Hauptſache ihre Eigenſchaften und Merkmale auf die Nachkommen ver-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [140/0156]
Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
J. St. Mill, der unſere Wiſſenſchaft im ganzen aus einem überall gleichen Erwerbs-
triebe ableiten will, den ſeinem nationalökonomiſchen Grundprincipe ins Geſicht ſchlagenden
Satz aus: es giebt keinen allgemein menſchlichen Charakter, eine von Engländern
abgeleitete Maxime kann nicht auf Franzoſen angewandt werden; wir müſſen allgemeine
Geſetze über die Bildung des Charakters ſuchen und finden: „die Geſetze des nationalen
Charakters ſind die wichtigſte Klaſſe von ſociologiſchen Geſetzen“.
Je realiſtiſcher die Staatswiſſenſchaften geworden ſind, deſto mehr machten ſich
Verſuche geltend, welche dies anerkennen wollten. Ich erinnere z. B. an Vollgrafs un-
glücklichen Verſuch, aus einer naturphiloſophiſch konſtruierten Raſſenlehre ein wirt-
ſchaftlich-politiſches Entwickelungsgeſetz der Völker abzuleiten, und an Graf Gobineaus
Raſſentheorien; dieſer geiſtvolle Schriftſteller hat das Verdienſt, die hiſtoriſche Bedeutung
der Raſſenunterſchiede erkannt und mit Gelehrſamkeit belegt zu haben; aber indem er
allen Fortſchritt auf ariſches Blut, allen Rückſchritt auf die zu ſtarke Miſchung der
höheren mit den niederen Raſſen zurückführt, überhaupt ſeiner ariſtokratiſchen und
peſſimiſtiſchen Tendenz die Zügel ſchießen läßt, nehmen ſeine Ausführungen teilweiſe
doch mehr den Charakter intuitiver Spekulation und dichteriſcher Phantaſie an. Im
ganzen iſt mit ſolchen Verſuchen für Staatslehre und Volkswirtſchaft bisher nicht viel
erreicht worden; es fehlte ihnen die geſicherte empiriſche Grundlage. Die Wiſſenſchaften
der Anthropologie und Ethnographie ſind noch gar jung. Und erſt nachdem ſie und
die vergleichende Sprachwiſſenſchaft ausgebildet waren, konnte auch die Geſchichts- und
Staatswiſſenſchaft beginnen, ihre Blicke auf die Raſſenfrage zu werfen.
Cooks Reiſen 1762—1779 begannen die Aufmerkſamkeit auf die ſogenannten
Naturvölker zu lenken. Herder verſuchte dann vom ſpekulativen, Blumenbach vom natur-
wiſſenſchaftlichen Standpunkte die Raſſen- und Völkerunterſchiede zu faſſen. Erſt in den
letzten zwei oder drei Menſchenaltern haben forſchende Reiſende ein halbwegs ausreichendes
deſkriptives Material geſammelt; die Biologen und Naturforſcher haben die körperlichen
Seiten desſelben, die Philoſophen, Geographen und Ethnologen die pſychologiſchen und
ſittengeſchichtlichen einer ſtrengeren Sichtung und Ordnung unterworfen. Urgeſchichte,
Sprachvergleichung, Völkerpſychologie und andere Wiſſenszweige kamen hinzu: die
Ethnographie oder Völkerkunde entſtand neben der etwas älteren, mehr naturwiſſenſchaft-
lichen Anthropologie. Und ſo iſt heute ein großes, teilweiſe ſchon bearbeitetes Material
aus dem Gebiete der Raſſen- und Völkerbeſchreibung und -Vergleichung vorhanden, das
der Verwertung für geſellſchaftswiſſenſchaftliche Reſultate harrt. Leicht wird ſie freilich
nicht ſein; Anthropologie und Ethnographie arbeiten noch weſentlich an den über-
wiegend naturwiſſenſchaftlichen Elementen ihrer Disciplin; die Grundprobleme ſind noch
beſtritten, teilweiſe unaufgeklärt; die Klaſſifizierung der Erſcheinungen und die daraus
ſich ergebenden Schlüſſe ſind noch wenig vollendet. Dennoch müſſen wir verſuchen,
einige der Grundfragen hier zu beſprechen, welche auf die wichtigſten volkswirtſchaft-
lichen und geſellſchaftswiſſenſchaftlichen Probleme einen beherrſchenden Einfluß haben;
daran ſchließen wir dann einen kurzen Überblick über die Reſultate der Völkerkunde,
um die anthropologiſchen und pſychologiſchen Ausgangspunkte für vergleichende Be-
trachtung der verſchiedenen Raſſen- und Völkertypen, für ihr verſchiedenes Handeln und
ihre verſchiedenen volkswirtſchaftlichen Einrichtungen zu gewinnen.
59. Die verſchiedenen Raſſen und Völker und das Princip der
Vererbung. Wir ſehen heute eine kleine Zahl von Raſſen, d. h. Gruppen von ver-
ſchiedenen Stämmen und Völkern, welche aber doch ſeit Jahrtauſenden einen im ganzen
einheitlichen körperlichen und geiſtigen Typus darſtellen, welche wir in ſich als bluts-
verwandt betrachten, auf einheitliche Abſtammung zurückführen; und daneben eine große
Zahl Unterraſſen, Stämme und Völker, welche wir als Teile der Raſſen anſehen, welche
je als Spielarten der Raſſen in ſich einen trotz aller Miſchung doch homogeneren
körperlichen und geiſtigen Charakter als die Raſſen zeigen. Wir können nur annehmen,
daß die vorhandene Übereinſtimmung innerhalb der Raſſen und der Völker auf dem
Princip der Vererbung beruhe, d. h. daß wie die Pflanzen und Tiere, ſo auch die
Menſchen in der Hauptſache ihre Eigenſchaften und Merkmale auf die Nachkommen ver-
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