Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Erstes Buch. Land, Leute und Technik. Abweichung erfährt oder erfahren kann. Diese Abweichung ist unter Umständen einebloß individuelle, nicht sich weiter vererbende; sie kann aber, zumal wenn beide Eltern unter denselben Nebenursachen stehen, wenn diese sich durch Generationen fortsetzen, wenn die Modifikation sich mit dem vorherrschenden Typus gut verträgt und deshalb mit ihm verschmilzt, zu einer erblichen werden. Und dies wird in dem Maße leichter und stärker geschehen, als diese Nebenursachen ihre modifizierende Wirkung auf eine größere und in sich geschlossene Zahl von Menschen, die unter sich geschlechtlichen Verkehr haben, lange Zeiträume hindurch ausüben. Die Variation befestigt sich dadurch, wird zu einem neuen, besonderen Typus, der nun, sei es für immer, sei es für sehr lange Zeiten, sich gleichmäßig erhält. Damit haben wir die Möglichkeit, die einheitliche Entstehung der verschiedenen Bei der Kompliziertheit des Entwickelungsprozesses der Rassen und Völker, bei Daß die verschiedenen Rassen ausschließlich oder ganz überwiegend durch den natür- Erſtes Buch. Land, Leute und Technik. Abweichung erfährt oder erfahren kann. Dieſe Abweichung iſt unter Umſtänden einebloß individuelle, nicht ſich weiter vererbende; ſie kann aber, zumal wenn beide Eltern unter denſelben Nebenurſachen ſtehen, wenn dieſe ſich durch Generationen fortſetzen, wenn die Modifikation ſich mit dem vorherrſchenden Typus gut verträgt und deshalb mit ihm verſchmilzt, zu einer erblichen werden. Und dies wird in dem Maße leichter und ſtärker geſchehen, als dieſe Nebenurſachen ihre modifizierende Wirkung auf eine größere und in ſich geſchloſſene Zahl von Menſchen, die unter ſich geſchlechtlichen Verkehr haben, lange Zeiträume hindurch ausüben. Die Variation befeſtigt ſich dadurch, wird zu einem neuen, beſonderen Typus, der nun, ſei es für immer, ſei es für ſehr lange Zeiten, ſich gleichmäßig erhält. Damit haben wir die Möglichkeit, die einheitliche Entſtehung der verſchiedenen Bei der Kompliziertheit des Entwickelungsprozeſſes der Raſſen und Völker, bei Daß die verſchiedenen Raſſen ausſchließlich oder ganz überwiegend durch den natür- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0158" n="142"/><fw place="top" type="header">Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.</fw><lb/> Abweichung erfährt oder erfahren kann. Dieſe Abweichung iſt unter Umſtänden eine<lb/> bloß individuelle, nicht ſich weiter vererbende; ſie kann aber, zumal wenn beide Eltern<lb/> unter denſelben Nebenurſachen ſtehen, wenn dieſe ſich durch Generationen fortſetzen, wenn<lb/> die Modifikation ſich mit dem vorherrſchenden Typus gut verträgt und deshalb mit<lb/> ihm verſchmilzt, zu einer erblichen werden. 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Ebenſo die Thatſache, daß faſt alle Raſſen ſich gegenſeitig mit Erfolg begatten,<lb/> daß die Entwickelung der Sprache, der Gebräuche und Neigungen, der Werkzeuge und<lb/> Waffen, der ſittlichen Vorſtellungen und Geſellſchaftseinrichtungen doch bei allen eine<lb/> ähnliche iſt, daß alle Raſſen in eine gewiſſe Wechſelwirkung treten. Wenn daneben die<lb/> Natur- und die Kulturvölker, die paſſiven und die aktiven Raſſen außerordentlich große<lb/> Unterſchiede zeigen, wenn die plötzliche Übertragung der Einrichtungen und Sitten der<lb/> höheren auf die niederen letztere oft vernichtet, ſo beweiſt das nicht ſowohl gegen die<lb/> Einheit als für die große Verſchiedenheit und die unendlich langen Epochen der Ent-<lb/> wickelung, für den durch die Variabilität erzeugten Fortſchritt der höheren Raſſen. Die<lb/> niederen ſieht man heute allgemein als den Typus der älteſten Menſchenart an, welchen<lb/> wahrſcheinlich manche noch niedriger ſtehende ausgeſtorbene vorangingen.</p><lb/> <p>Bei der Kompliziertheit des Entwickelungsprozeſſes der Raſſen und Völker, bei<lb/> dem großen Einfluß der unten noch zu beſprechenden Raſſenmiſchung iſt es naheliegend,<lb/> daß alle Verſuche, Klarheit über ihr Verhältnis zu ſchaffen durch eine Einteilung je<lb/> nach einem einzigen Merkmal, wie Hautfarbe, Schädelform und -Größe, Haarart und<lb/> -Farbe, Heimatland und Sprache ſcheitern mußten. Wir haben uns hier auch nicht<lb/> mit der Frage aufzuhalten, wie viele Haupt- und Nebenraſſen es gebe: die abend-<lb/> ländiſche, weiße (kaukaſiſche) und die mongoliſche, gelbe mit je etwa 550 Millionen, die<lb/> ſchwarze der Neger mit etwa 200 Millionen Menſchen ſind jedenfalls die wichtigſten.</p><lb/> <p>Daß die verſchiedenen Raſſen ausſchließlich oder ganz überwiegend durch den natür-<lb/> lichen Daſeinskampf der Individuen und Gruppen und die geſchlechtliche Zuchtwahl,<lb/> durch welche jeweilig die höchſtſtehenden Männer und Weiber ſich begatteten und eine<lb/> höher ſtehende, ſich den Lebensbedingungen beſſer anpaſſende Nachkommenſchaft erzielten,<lb/> entſtanden ſeien, wie Darwin will, wird heute nicht mehr zuzugeben ſein. Darwin<lb/> ſelbſt hat ſeine Gedanken hierüber nicht näher ausgeführt. Der brutale Daſeinskampf<lb/> hat ſicher viele ſchwächere Stämme vernichtet; innerhalb derſelben hat er zumal früher<lb/> keine große Rolle geſpielt, wie wir ſchon ſahen; die geſchlechtliche Zuchtwahl hat inner-<lb/> halb der Völker wohl einzelne Familien und Klaſſen emporgehoben, die aber keineswegs<lb/> dann immer die kinderreichſten waren; ſie kann einzelne Raſſen verändert haben; wie<lb/> ſie die Raſſen- und Völke<hi rendition="#g">rſcheidung</hi> beherrſcht oder beeinflußt habe, iſt nicht recht<lb/> erſichtlich. Anſprechender ſcheint daher die Migrationstheorie von Moritz Wagner,<lb/> welche die Darwinſche nicht negiert, ſondern als Beſtandteil, aber von geringerer Be-<lb/> deutung, einſchließt. Dieſer große Reiſende und Naturforſcher verlegt mit vielen anderen<lb/> die Entſtehung des eigentlichen Menſchen in das Ende der Tertiärzeit, alſo in eine<lb/> Epoche der größten Veränderungen der Erdoberfläche und der Lebensbedingungen für<lb/> alle organiſchen Weſen. Er knüpft hieran und an die Wanderungen aller Lebeweſen und<lb/> ſpeciell der Menſchen an; er läßt die Menſchenraſſen, wie die Tier- und Pflanzenarten<lb/> durch Wanderung von Individuenpaaren oder kleinen Gruppen nach verſchiedenen Welt-<lb/> teilen mit verſchiedenem Klima, verſchiedenen Lebensbedingungen in eben dieſer Zeit<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [142/0158]
Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
Abweichung erfährt oder erfahren kann. Dieſe Abweichung iſt unter Umſtänden eine
bloß individuelle, nicht ſich weiter vererbende; ſie kann aber, zumal wenn beide Eltern
unter denſelben Nebenurſachen ſtehen, wenn dieſe ſich durch Generationen fortſetzen, wenn
die Modifikation ſich mit dem vorherrſchenden Typus gut verträgt und deshalb mit
ihm verſchmilzt, zu einer erblichen werden. Und dies wird in dem Maße leichter und
ſtärker geſchehen, als dieſe Nebenurſachen ihre modifizierende Wirkung auf eine größere
und in ſich geſchloſſene Zahl von Menſchen, die unter ſich geſchlechtlichen Verkehr haben,
lange Zeiträume hindurch ausüben. Die Variation befeſtigt ſich dadurch, wird zu einem
neuen, beſonderen Typus, der nun, ſei es für immer, ſei es für ſehr lange Zeiten, ſich
gleichmäßig erhält.
Damit haben wir die Möglichkeit, die einheitliche Entſtehung der verſchiedenen
Raſſen und Völker zu verſtehen. Der Streit darüber, ob die heute lebenden 1500
Millionen Menſchen einheitlichen oder mehrfachen Urſprunges ſeien, iſt freilich noch nicht
geſchlichtet; manche Naturforſcher leugnen die Einheit, Darwin bejaht ſie. Die Wahr-
ſcheinlichkeit, daß die amerikaniſchen Ureinwohner mongoliſcher Abkunft ſeien, ſpricht für
ſie. Ebenſo die Thatſache, daß faſt alle Raſſen ſich gegenſeitig mit Erfolg begatten,
daß die Entwickelung der Sprache, der Gebräuche und Neigungen, der Werkzeuge und
Waffen, der ſittlichen Vorſtellungen und Geſellſchaftseinrichtungen doch bei allen eine
ähnliche iſt, daß alle Raſſen in eine gewiſſe Wechſelwirkung treten. Wenn daneben die
Natur- und die Kulturvölker, die paſſiven und die aktiven Raſſen außerordentlich große
Unterſchiede zeigen, wenn die plötzliche Übertragung der Einrichtungen und Sitten der
höheren auf die niederen letztere oft vernichtet, ſo beweiſt das nicht ſowohl gegen die
Einheit als für die große Verſchiedenheit und die unendlich langen Epochen der Ent-
wickelung, für den durch die Variabilität erzeugten Fortſchritt der höheren Raſſen. Die
niederen ſieht man heute allgemein als den Typus der älteſten Menſchenart an, welchen
wahrſcheinlich manche noch niedriger ſtehende ausgeſtorbene vorangingen.
Bei der Kompliziertheit des Entwickelungsprozeſſes der Raſſen und Völker, bei
dem großen Einfluß der unten noch zu beſprechenden Raſſenmiſchung iſt es naheliegend,
daß alle Verſuche, Klarheit über ihr Verhältnis zu ſchaffen durch eine Einteilung je
nach einem einzigen Merkmal, wie Hautfarbe, Schädelform und -Größe, Haarart und
-Farbe, Heimatland und Sprache ſcheitern mußten. Wir haben uns hier auch nicht
mit der Frage aufzuhalten, wie viele Haupt- und Nebenraſſen es gebe: die abend-
ländiſche, weiße (kaukaſiſche) und die mongoliſche, gelbe mit je etwa 550 Millionen, die
ſchwarze der Neger mit etwa 200 Millionen Menſchen ſind jedenfalls die wichtigſten.
Daß die verſchiedenen Raſſen ausſchließlich oder ganz überwiegend durch den natür-
lichen Daſeinskampf der Individuen und Gruppen und die geſchlechtliche Zuchtwahl,
durch welche jeweilig die höchſtſtehenden Männer und Weiber ſich begatteten und eine
höher ſtehende, ſich den Lebensbedingungen beſſer anpaſſende Nachkommenſchaft erzielten,
entſtanden ſeien, wie Darwin will, wird heute nicht mehr zuzugeben ſein. Darwin
ſelbſt hat ſeine Gedanken hierüber nicht näher ausgeführt. Der brutale Daſeinskampf
hat ſicher viele ſchwächere Stämme vernichtet; innerhalb derſelben hat er zumal früher
keine große Rolle geſpielt, wie wir ſchon ſahen; die geſchlechtliche Zuchtwahl hat inner-
halb der Völker wohl einzelne Familien und Klaſſen emporgehoben, die aber keineswegs
dann immer die kinderreichſten waren; ſie kann einzelne Raſſen verändert haben; wie
ſie die Raſſen- und Völkerſcheidung beherrſcht oder beeinflußt habe, iſt nicht recht
erſichtlich. Anſprechender ſcheint daher die Migrationstheorie von Moritz Wagner,
welche die Darwinſche nicht negiert, ſondern als Beſtandteil, aber von geringerer Be-
deutung, einſchließt. Dieſer große Reiſende und Naturforſcher verlegt mit vielen anderen
die Entſtehung des eigentlichen Menſchen in das Ende der Tertiärzeit, alſo in eine
Epoche der größten Veränderungen der Erdoberfläche und der Lebensbedingungen für
alle organiſchen Weſen. Er knüpft hieran und an die Wanderungen aller Lebeweſen und
ſpeciell der Menſchen an; er läßt die Menſchenraſſen, wie die Tier- und Pflanzenarten
durch Wanderung von Individuenpaaren oder kleinen Gruppen nach verſchiedenen Welt-
teilen mit verſchiedenem Klima, verſchiedenen Lebensbedingungen in eben dieſer Zeit
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