Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Erstes Buch. Land, Leute und Technik. unterscheidet man hauptsächlich: Handelskolonien, Ackerbaukolonien und Pflanzungs-kolonien, wobei je der in der Kolonie vorangestellte wirtschaftliche Zweck den Namen bestimmt; die Handelskolonien sind oft sehr klein, bestehen nur aus Faktoreien; die Ackerbaukolonien der Europäer müssen gemäßigtes Klima und Raum für Siedlungen haben; die Pflanzungs-(Kultivations-)Kolonien liegen im heißen Klima, suchen mit eingeborenen Arbeitskräften die Produkte des Südens zu erzeugen, dem Kapital und den führenden Kräften des Mutterlandes Beschäftigung und Gewinn zu verschaffen. Rechtlich pflegt man zu unterscheiden: bloße Stationen (Marine-, Militär-); eigentliche, staatsrechtlich ganz abhängige Kolonien, wie die englischen, die deutsch-afrikanischen; konföderierte Kolonien mit politischer Selbständigkeit nach innen, wie Kanada und Australien; sogenannte Nationaldomänen, wie Indien für England, Java für Holland, welche ohne Selbstregierung vom Mutterlande abhängig, doch eine eigene Regierung haben; Protektoratsländer oder Schutzländer, wie Tunis gegenüber Frankreich; endlich Interessen- und Machtsphären, d. h. Gebiete, in welchen auf Grund wirtschaftlicher und politischer Einflüsse der interessierte Staat den Einfluß anderer Mächte glaubt aus- schließen zu dürfen. Die Ursachen des Gedeihens oder Nichtgedeihens der neuen europäischen Kolonien, Die Herrschaft der Europäer hat in vielen Kolonien die kleinen Stämme der So lange die Europäer nur als Regenten, Feudalherren, Priester und Krieger, Erſtes Buch. Land, Leute und Technik. unterſcheidet man hauptſächlich: Handelskolonien, Ackerbaukolonien und Pflanzungs-kolonien, wobei je der in der Kolonie vorangeſtellte wirtſchaftliche Zweck den Namen beſtimmt; die Handelskolonien ſind oft ſehr klein, beſtehen nur aus Faktoreien; die Ackerbaukolonien der Europäer müſſen gemäßigtes Klima und Raum für Siedlungen haben; die Pflanzungs-(Kultivations-)Kolonien liegen im heißen Klima, ſuchen mit eingeborenen Arbeitskräften die Produkte des Südens zu erzeugen, dem Kapital und den führenden Kräften des Mutterlandes Beſchäftigung und Gewinn zu verſchaffen. Rechtlich pflegt man zu unterſcheiden: bloße Stationen (Marine-, Militär-); eigentliche, ſtaatsrechtlich ganz abhängige Kolonien, wie die engliſchen, die deutſch-afrikaniſchen; konföderierte Kolonien mit politiſcher Selbſtändigkeit nach innen, wie Kanada und Auſtralien; ſogenannte Nationaldomänen, wie Indien für England, Java für Holland, welche ohne Selbſtregierung vom Mutterlande abhängig, doch eine eigene Regierung haben; Protektoratsländer oder Schutzländer, wie Tunis gegenüber Frankreich; endlich Intereſſen- und Machtſphären, d. h. Gebiete, in welchen auf Grund wirtſchaftlicher und politiſcher Einflüſſe der intereſſierte Staat den Einfluß anderer Mächte glaubt aus- ſchließen zu dürfen. Die Urſachen des Gedeihens oder Nichtgedeihens der neuen europäiſchen Kolonien, Die Herrſchaft der Europäer hat in vielen Kolonien die kleinen Stämme der So lange die Europäer nur als Regenten, Feudalherren, Prieſter und Krieger, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0196" n="180"/><fw place="top" type="header">Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.</fw><lb/> unterſcheidet man hauptſächlich: Handelskolonien, Ackerbaukolonien und Pflanzungs-<lb/> kolonien, wobei je der in der Kolonie vorangeſtellte wirtſchaftliche Zweck den Namen<lb/> beſtimmt; die Handelskolonien ſind oft ſehr klein, beſtehen nur aus Faktoreien; die<lb/> Ackerbaukolonien der Europäer müſſen gemäßigtes Klima und Raum für Siedlungen<lb/> haben; die Pflanzungs-(Kultivations-)Kolonien liegen im heißen Klima, ſuchen mit<lb/> eingeborenen Arbeitskräften die Produkte des Südens zu erzeugen, dem Kapital und<lb/> den führenden Kräften des Mutterlandes Beſchäftigung und Gewinn zu verſchaffen.<lb/> Rechtlich pflegt man zu unterſcheiden: bloße Stationen (Marine-, Militär-); eigentliche,<lb/> ſtaatsrechtlich ganz abhängige Kolonien, wie die engliſchen, die deutſch-afrikaniſchen;<lb/> konföderierte Kolonien mit politiſcher Selbſtändigkeit nach innen, wie Kanada und<lb/> Auſtralien; ſogenannte Nationaldomänen, wie Indien für England, Java für Holland,<lb/> welche ohne Selbſtregierung vom Mutterlande abhängig, doch eine eigene Regierung<lb/> haben; Protektoratsländer oder Schutzländer, wie Tunis gegenüber Frankreich; endlich<lb/> Intereſſen- und Machtſphären, d. h. 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Es handelt ſich dabei um zwei Reihen<lb/> von Erſcheinungen: um die Wirkung auf die einheimiſche Bevölkerung der Kolonien<lb/> und die auf die europäiſchen Mutterländer.</p><lb/> <p>Die Herrſchaft der Europäer hat in vielen Kolonien die kleinen Stämme der<lb/> Jäger, Hirten und primitiven Ackerbauer durch falſche Behandlung, verkehrte oder zu<lb/> raſche Octroyierung europäiſcher Kulturformen, durch Einführung europäiſcher Genüſſe und<lb/> Laſter, durch Beſchränkung auf zu enge Gebiete und teilweiſe durch direkten Kampf,<lb/> Verdrängung und Tötung beſeitigt. Zu oft nur wurde der falſche Satz proklamiert, wer<lb/> nicht (d. h. nicht ſofort) zur höheren Kultur taugt, mag zu Grunde gehen. Die euro-<lb/> päiſche Herrſchaft hat aber daneben auch in weit größeren Gebieten, hauptſächlich Aſiens,<lb/> durch Herſtellung eines geordneten Friedenszuſtandes und einer leidlichen Verwaltung,<lb/> durch Erziehung zur Arbeit und zu verbeſſerter Produktion die eingeborenen Bevölkerungen<lb/> erhalten und vermehrt. Es gelang da, wo die Eingeborenen ſchon etwas höher ſtanden,<lb/> und wo die Verwaltung die überkommenen Inſtitutionen ſchonte, dem europäiſchen<lb/> Unternehmungsgeiſte Schranken ſetzte. Das engliſche Indien hat wahrſcheinlich nie eine<lb/> ſo große Bevölkerung geſehen wie heute. Die größte Muſterleiſtung der Kultivation<lb/> oder Erziehung zur Arbeit durch europäiſche Herrſchaft und Produktionsteilung, die<lb/> niederländiſche in Java und Madura hat 1816—86 aus 4,6 Mill. 22 Mill. Menſchen<lb/> gemacht. Auch in Afrika ſteht Ähnliches bevor: Ägypten hat wieder die Menſchenzahl<lb/> ſeiner alten Blüte erreicht. Nordafrika wird bald ein ähnliches Reſultat zeigen, und<lb/> Süd-, ja ſelbſt Centralafrika läßt Analoges hoffen.</p><lb/> <p>So lange die Europäer nur als Regenten, Feudalherren, Prieſter und Krieger,<lb/> als Händler, Beamte der Compagnien, Vorſteher von Handelsſtationen nach den neuen<lb/> Weltteilen kamen, mußte ihre Zahl ſo gering bleiben, daß die Bevölkerung Europas<lb/> davon nichts ſpürte; im 17. Jahrhundert begannen die Ackerbaukolonien hauptſächlich<lb/> in Nordamerika; die Auswanderung blieb aber immer noch mäßig, überſtieg z. B. aus<lb/> Deutſchland im 18. Jahrhundert kaum 100000 Seelen. Immer lebten 1800 ſchon etwa<lb/> 9 Mill. Menſchen europäiſcher Raſſe in den außereuropäiſchen Gebieten. Im 19. Jahr-<lb/> hundert ſtieg die europäiſche Auswanderung ſucceſſive; ſie erreichte allein nach den Ver-<lb/> einigten Staaten 1841—50 ſchon 1,7, 1881—90 5,1 Mill. Seelen; im ganzen betrug<lb/> die europäiſche Auswanderung bis 1891 ca. 26 Mill., wovon 11 aus Großbritannien,<lb/> 6 aus Deutſchland, 1 aus Skandinavien ſtammen. In den Vereinigten Staaten waren<lb/> 1840 1 Mill., heute faſt 3 Mill. in Deutſchland geborene Einwohner, faſt 7 Mill.,<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [180/0196]
Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
unterſcheidet man hauptſächlich: Handelskolonien, Ackerbaukolonien und Pflanzungs-
kolonien, wobei je der in der Kolonie vorangeſtellte wirtſchaftliche Zweck den Namen
beſtimmt; die Handelskolonien ſind oft ſehr klein, beſtehen nur aus Faktoreien; die
Ackerbaukolonien der Europäer müſſen gemäßigtes Klima und Raum für Siedlungen
haben; die Pflanzungs-(Kultivations-)Kolonien liegen im heißen Klima, ſuchen mit
eingeborenen Arbeitskräften die Produkte des Südens zu erzeugen, dem Kapital und
den führenden Kräften des Mutterlandes Beſchäftigung und Gewinn zu verſchaffen.
Rechtlich pflegt man zu unterſcheiden: bloße Stationen (Marine-, Militär-); eigentliche,
ſtaatsrechtlich ganz abhängige Kolonien, wie die engliſchen, die deutſch-afrikaniſchen;
konföderierte Kolonien mit politiſcher Selbſtändigkeit nach innen, wie Kanada und
Auſtralien; ſogenannte Nationaldomänen, wie Indien für England, Java für Holland,
welche ohne Selbſtregierung vom Mutterlande abhängig, doch eine eigene Regierung
haben; Protektoratsländer oder Schutzländer, wie Tunis gegenüber Frankreich; endlich
Intereſſen- und Machtſphären, d. h. Gebiete, in welchen auf Grund wirtſchaftlicher und
politiſcher Einflüſſe der intereſſierte Staat den Einfluß anderer Mächte glaubt aus-
ſchließen zu dürfen.
Die Urſachen des Gedeihens oder Nichtgedeihens der neuen europäiſchen Kolonien,
die bedeutſame Rückwirkung derſelben auf die Macht- und Wirtſchaftsverhältniſſe der
Mutterlande, die Koſten derſelben und ihre Rentabilität, die politiſchen Verfaſſungs-
verhältniſſe und die wirtſchaftlichen und Handelseinrichtungen derſelben können wir hier
nicht verfolgen. Wir haben nur die Wirkung der neueren Koloniſation auf die Be-
völkerungsverhältniſſe hier ins Auge zu faſſen. Es handelt ſich dabei um zwei Reihen
von Erſcheinungen: um die Wirkung auf die einheimiſche Bevölkerung der Kolonien
und die auf die europäiſchen Mutterländer.
Die Herrſchaft der Europäer hat in vielen Kolonien die kleinen Stämme der
Jäger, Hirten und primitiven Ackerbauer durch falſche Behandlung, verkehrte oder zu
raſche Octroyierung europäiſcher Kulturformen, durch Einführung europäiſcher Genüſſe und
Laſter, durch Beſchränkung auf zu enge Gebiete und teilweiſe durch direkten Kampf,
Verdrängung und Tötung beſeitigt. Zu oft nur wurde der falſche Satz proklamiert, wer
nicht (d. h. nicht ſofort) zur höheren Kultur taugt, mag zu Grunde gehen. Die euro-
päiſche Herrſchaft hat aber daneben auch in weit größeren Gebieten, hauptſächlich Aſiens,
durch Herſtellung eines geordneten Friedenszuſtandes und einer leidlichen Verwaltung,
durch Erziehung zur Arbeit und zu verbeſſerter Produktion die eingeborenen Bevölkerungen
erhalten und vermehrt. Es gelang da, wo die Eingeborenen ſchon etwas höher ſtanden,
und wo die Verwaltung die überkommenen Inſtitutionen ſchonte, dem europäiſchen
Unternehmungsgeiſte Schranken ſetzte. Das engliſche Indien hat wahrſcheinlich nie eine
ſo große Bevölkerung geſehen wie heute. Die größte Muſterleiſtung der Kultivation
oder Erziehung zur Arbeit durch europäiſche Herrſchaft und Produktionsteilung, die
niederländiſche in Java und Madura hat 1816—86 aus 4,6 Mill. 22 Mill. Menſchen
gemacht. Auch in Afrika ſteht Ähnliches bevor: Ägypten hat wieder die Menſchenzahl
ſeiner alten Blüte erreicht. Nordafrika wird bald ein ähnliches Reſultat zeigen, und
Süd-, ja ſelbſt Centralafrika läßt Analoges hoffen.
So lange die Europäer nur als Regenten, Feudalherren, Prieſter und Krieger,
als Händler, Beamte der Compagnien, Vorſteher von Handelsſtationen nach den neuen
Weltteilen kamen, mußte ihre Zahl ſo gering bleiben, daß die Bevölkerung Europas
davon nichts ſpürte; im 17. Jahrhundert begannen die Ackerbaukolonien hauptſächlich
in Nordamerika; die Auswanderung blieb aber immer noch mäßig, überſtieg z. B. aus
Deutſchland im 18. Jahrhundert kaum 100000 Seelen. Immer lebten 1800 ſchon etwa
9 Mill. Menſchen europäiſcher Raſſe in den außereuropäiſchen Gebieten. Im 19. Jahr-
hundert ſtieg die europäiſche Auswanderung ſucceſſive; ſie erreichte allein nach den Ver-
einigten Staaten 1841—50 ſchon 1,7, 1881—90 5,1 Mill. Seelen; im ganzen betrug
die europäiſche Auswanderung bis 1891 ca. 26 Mill., wovon 11 aus Großbritannien,
6 aus Deutſchland, 1 aus Skandinavien ſtammen. In den Vereinigten Staaten waren
1840 1 Mill., heute faſt 3 Mill. in Deutſchland geborene Einwohner, faſt 7 Mill.,
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