Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Erstes Buch. Land, Leute und Technik. Auffassung über die Pflicht des Staates, sich darum zu kümmern, auch bei uns ein-getreten. Aber diese bessere Einsicht ist noch nicht über die Kinderjahre hinaus. Über die zahlenmäßige Bedeutung der Auswanderung hat man sich oft deshalb Der große Wanderprozeß hat es in unseren Tagen dahin gebracht, daß 1890 75. Das Bevölkerungsproblem und die Wege seiner Lösung: Bleiben wir aber zunächst bei einer Prüfung der Statistik. Die Dichtigkeit der Erſtes Buch. Land, Leute und Technik. Auffaſſung über die Pflicht des Staates, ſich darum zu kümmern, auch bei uns ein-getreten. Aber dieſe beſſere Einſicht iſt noch nicht über die Kinderjahre hinaus. Über die zahlenmäßige Bedeutung der Auswanderung hat man ſich oft deshalb Der große Wanderprozeß hat es in unſeren Tagen dahin gebracht, daß 1890 75. Das Bevölkerungsproblem und die Wege ſeiner Löſung: Bleiben wir aber zunächſt bei einer Prüfung der Statiſtik. Die Dichtigkeit der <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0198" n="182"/><fw place="top" type="header">Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.</fw><lb/> Auffaſſung über die Pflicht des Staates, ſich darum zu kümmern, auch bei uns ein-<lb/> getreten. Aber dieſe beſſere Einſicht iſt noch nicht über die Kinderjahre hinaus.</p><lb/> <p>Über die zahlenmäßige Bedeutung der Auswanderung hat man ſich oft deshalb<lb/> getäuſcht, weil man ſah, daß ſie für gewöhnlich nur die natürliche Zunahme von<lb/> 8—14 ‰ auf 4—8 ‰ ermäßige; man hat dann auch betont, ſie habe nach ihren<lb/> Höhepunkten 1850—55 (100—162000 im Jahre) und 1880—90 (100—203000) raſch<lb/> wieder abgenommen; man hat auch geſagt, ſie entlaſte die heimiſche Bevölkerung nur,<lb/> wenn ſie vorübergehend in größtem Maßſtabe gelänge; wo ſie dauernd platzgreife,<lb/> erzeuge ſie eher eine weitere Zunahme der Bevölkerung. Das ſind lauter partielle Wahr-<lb/> heiten, die aber den Kern der Sache nicht treffen. Das Weſentliche liegt doch im folgenden.</p><lb/> <p>Der große Wanderprozeß hat es in unſeren Tagen dahin gebracht, daß 1890<lb/> nicht 9, ſondern 90 Mill. Menſchen europäiſcher Raſſe außerhalb Europas leben; 1990<lb/> werden es mindeſtens 4—500 Mill. ſein. Die Nationen mit Auswanderung ſind die<lb/> kräftigen und geſunden, die aufwärts ſteigenden. Hübbe-Schleiden prophezeit, daß 1980<lb/> gegen 900 Mill. Angloſachſen (Engländer und Amerikaner), gegen 300 Mill. Ruſſen<lb/> und gegen 150 Mill. Deutſche die Erde bewohnen werden. Leroy-Beaulieu meint, in<lb/> einigen hundert Jahren würden Chineſen, Ruſſen und Angelſachſen je 3—500, die<lb/> Deutſchen 200 Mill. Menſchen ausmachen, alle anderen, mehr ſtillſtehenden, nicht<lb/> wandernden Völker zur Bedeutungsloſigkeit herabgedrückt ſein. Die Zukunft der Völker,<lb/> ihre Macht und ihr Wohlſtand hängt ſo nicht allein, aber mit von ihrer Wander-,<lb/> Koloniſations- und Kultivationsfähigkeit ab.</p><lb/> <p>75. <hi rendition="#g">Das Bevölkerungsproblem und die Wege ſeiner Löſung</hi>:<lb/><hi rendition="#aq">c)</hi> <hi rendition="#g">die Verdichtung. Schluß</hi>. Die Hemmungen und die Wanderungen greifen<lb/> bedeutungsvoll in die Bevölkerungszunahme und Bewegung ein. Aber die wichtigſte<lb/> Frage für ein raſch wachſendes Volk bleibt ſtets doch, ob und in wie weit, unter welchen<lb/> Bedingungen es im eigenen Gebiete wachſen könne. Die Verdichtung der Bevölkerung<lb/> iſt das natürliche Ergebnis geſunder Zuſtände, wie es die Vorausſetzung der höheren<lb/> Kultur iſt. Aber darin liegt nun eben die Eigentümlichkeit des Bevölkerungsproblems,<lb/> man möchte ſagen ſeine Tragik, daß einerſeits die ſtärkſten menſchlichen Triebe, das<lb/> Elternglück, die Staats-, Wirtſchafts- und Machtintereſſen, auf dieſe Verdichtung immer<lb/> hindrängen, und andererſeits die Erreichung des Zieles dasſelbe wieder bedroht, d. h.<lb/> die erheblich verdichtete Bevölkerung unter den hergebrachten Lebensbedingungen nicht<lb/> mehr exiſtieren kann, ohne zu Not, Mangel und Elend zu führen. Jedes Maß der<lb/> Dichtigkeit ſetzt eine beſtimmte Technik und Organiſation des Wirtſchaftslebens, beſtimmte<lb/> Sitten und Moralregeln, beſtimmte Geſellſchaftseinrichtungen voraus, welche für die<lb/> doppelt ſo große Bevölkerung unzureichend, unmöglich, ja tödlich ſind.</p><lb/> <p>Bleiben wir aber zunächſt bei einer Prüfung der Statiſtik. Die Dichtigkeit der<lb/> Bevölkerung wird am beſten in der Weiſe gemeſſen, daß man die gezählte Volksmenge<lb/> mit der Fläche vergleicht, berechnet, wie viel Menſchen auf die Geviertmeile oder den<lb/> Geviertkilometer im Durchſchnitt eines Gebietes kommen. Die erſtere Berechnung war<lb/> früher allgemein üblich, die letztere iſt heute bei uns im Brauch und hier von uns<lb/> gemeint, wenn wir nichts beifügen; 1000 Seelen auf die Geviertmeile ſind gleich 17,7<lb/> auf den Geviertkilometer. Man muß zur Vergleichung analoge Gebietsabſchnitte von<lb/> einiger Größe auswählen: ganze Staaten, Provinzen, Bezirke, höchſtens Kreiſe; je kleiner<lb/> die gewählten Gebiete, deſto zufälliger iſt der Durchſchnitt. Alle Bevölkerung muß ſchon<lb/> durch Stadt und Land ſehr ungleich verteilt ſein; dieſen Unterſchied der Verteilung<lb/> beſprechen wir unten bei der Siedlung; die gewöhnliche Erörterung der Dichtigkeit ſieht<lb/> davon ab; es intereſſiert ſie nicht, daß im Centrum Berlins 32000—54000, in Branden-<lb/> burg ohne Berlin 64 Seelen auf den Geviertkilometer kommen; für ſie hat die ganze<lb/> Provinz heute durchſchnittlich 103 Seelen. Man muß ſich nur bewußt bleiben, daß auch<lb/> abgeſehen vom Gegenſatz von Stadt und Land die Dichtigkeit in jedem Lande nach natür-<lb/> lichen und kulturell-hiſtoriſchen Verhältniſſen ſehr verſchieden iſt, daß, je größere Gebiete<lb/> man zur Darſtellung wählt, deſto verſchiedenere Zuſtände im Durchſchnitt auf einen<lb/> mittleren Zahlenausdruck gebracht ſind, der vielleicht in Wahrheit nirgends oder nur an<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [182/0198]
Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
Auffaſſung über die Pflicht des Staates, ſich darum zu kümmern, auch bei uns ein-
getreten. Aber dieſe beſſere Einſicht iſt noch nicht über die Kinderjahre hinaus.
Über die zahlenmäßige Bedeutung der Auswanderung hat man ſich oft deshalb
getäuſcht, weil man ſah, daß ſie für gewöhnlich nur die natürliche Zunahme von
8—14 ‰ auf 4—8 ‰ ermäßige; man hat dann auch betont, ſie habe nach ihren
Höhepunkten 1850—55 (100—162000 im Jahre) und 1880—90 (100—203000) raſch
wieder abgenommen; man hat auch geſagt, ſie entlaſte die heimiſche Bevölkerung nur,
wenn ſie vorübergehend in größtem Maßſtabe gelänge; wo ſie dauernd platzgreife,
erzeuge ſie eher eine weitere Zunahme der Bevölkerung. Das ſind lauter partielle Wahr-
heiten, die aber den Kern der Sache nicht treffen. Das Weſentliche liegt doch im folgenden.
Der große Wanderprozeß hat es in unſeren Tagen dahin gebracht, daß 1890
nicht 9, ſondern 90 Mill. Menſchen europäiſcher Raſſe außerhalb Europas leben; 1990
werden es mindeſtens 4—500 Mill. ſein. Die Nationen mit Auswanderung ſind die
kräftigen und geſunden, die aufwärts ſteigenden. Hübbe-Schleiden prophezeit, daß 1980
gegen 900 Mill. Angloſachſen (Engländer und Amerikaner), gegen 300 Mill. Ruſſen
und gegen 150 Mill. Deutſche die Erde bewohnen werden. Leroy-Beaulieu meint, in
einigen hundert Jahren würden Chineſen, Ruſſen und Angelſachſen je 3—500, die
Deutſchen 200 Mill. Menſchen ausmachen, alle anderen, mehr ſtillſtehenden, nicht
wandernden Völker zur Bedeutungsloſigkeit herabgedrückt ſein. Die Zukunft der Völker,
ihre Macht und ihr Wohlſtand hängt ſo nicht allein, aber mit von ihrer Wander-,
Koloniſations- und Kultivationsfähigkeit ab.
75. Das Bevölkerungsproblem und die Wege ſeiner Löſung:
c) die Verdichtung. Schluß. Die Hemmungen und die Wanderungen greifen
bedeutungsvoll in die Bevölkerungszunahme und Bewegung ein. Aber die wichtigſte
Frage für ein raſch wachſendes Volk bleibt ſtets doch, ob und in wie weit, unter welchen
Bedingungen es im eigenen Gebiete wachſen könne. Die Verdichtung der Bevölkerung
iſt das natürliche Ergebnis geſunder Zuſtände, wie es die Vorausſetzung der höheren
Kultur iſt. Aber darin liegt nun eben die Eigentümlichkeit des Bevölkerungsproblems,
man möchte ſagen ſeine Tragik, daß einerſeits die ſtärkſten menſchlichen Triebe, das
Elternglück, die Staats-, Wirtſchafts- und Machtintereſſen, auf dieſe Verdichtung immer
hindrängen, und andererſeits die Erreichung des Zieles dasſelbe wieder bedroht, d. h.
die erheblich verdichtete Bevölkerung unter den hergebrachten Lebensbedingungen nicht
mehr exiſtieren kann, ohne zu Not, Mangel und Elend zu führen. Jedes Maß der
Dichtigkeit ſetzt eine beſtimmte Technik und Organiſation des Wirtſchaftslebens, beſtimmte
Sitten und Moralregeln, beſtimmte Geſellſchaftseinrichtungen voraus, welche für die
doppelt ſo große Bevölkerung unzureichend, unmöglich, ja tödlich ſind.
Bleiben wir aber zunächſt bei einer Prüfung der Statiſtik. Die Dichtigkeit der
Bevölkerung wird am beſten in der Weiſe gemeſſen, daß man die gezählte Volksmenge
mit der Fläche vergleicht, berechnet, wie viel Menſchen auf die Geviertmeile oder den
Geviertkilometer im Durchſchnitt eines Gebietes kommen. Die erſtere Berechnung war
früher allgemein üblich, die letztere iſt heute bei uns im Brauch und hier von uns
gemeint, wenn wir nichts beifügen; 1000 Seelen auf die Geviertmeile ſind gleich 17,7
auf den Geviertkilometer. Man muß zur Vergleichung analoge Gebietsabſchnitte von
einiger Größe auswählen: ganze Staaten, Provinzen, Bezirke, höchſtens Kreiſe; je kleiner
die gewählten Gebiete, deſto zufälliger iſt der Durchſchnitt. Alle Bevölkerung muß ſchon
durch Stadt und Land ſehr ungleich verteilt ſein; dieſen Unterſchied der Verteilung
beſprechen wir unten bei der Siedlung; die gewöhnliche Erörterung der Dichtigkeit ſieht
davon ab; es intereſſiert ſie nicht, daß im Centrum Berlins 32000—54000, in Branden-
burg ohne Berlin 64 Seelen auf den Geviertkilometer kommen; für ſie hat die ganze
Provinz heute durchſchnittlich 103 Seelen. Man muß ſich nur bewußt bleiben, daß auch
abgeſehen vom Gegenſatz von Stadt und Land die Dichtigkeit in jedem Lande nach natür-
lichen und kulturell-hiſtoriſchen Verhältniſſen ſehr verſchieden iſt, daß, je größere Gebiete
man zur Darſtellung wählt, deſto verſchiedenere Zuſtände im Durchſchnitt auf einen
mittleren Zahlenausdruck gebracht ſind, der vielleicht in Wahrheit nirgends oder nur an
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