Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.Erstes Buch. Land, Leute und Technik. erschöpfende, schädliche Handarbeit in Bergwerken und Hausindustrien, auf Schiffen undauf dem Ackerfelde; eine ausbeutende, gesundheitsschädliche, verkümmernde Handarbeit von Sklaven, Leibeigenen und Freien ist fast in allen älteren Kulturländern früher vorhanden gewesen, wo nicht eine besonders gute sociale Ordnung die Handarbeiter dichtbevölkerter Gebiete vor socialem Drucke schützte. Und ihnen eröffnete die Kraft- und Arbeits- maschine wenigstens die Möglichkeit einer Abnahme der übermäßigen Muskelanstrengung. Ob sie praktisch gelang, hing freilich davon ab, ob die Maschine nicht gleich mit einer unnatürlichen Verlängerung des Arbeitstages, schlechten Räumen, ungesunder Luft und mit unvollkommenen socialen Institutionen überhaupt sich verband. Daran fehlte es. Und deshalb sind auch die sekundären Folgen der Überarbeit, der schlechten Ernährung und Wohnung, wie proletarische Vermehrung, Trunkenheit, Schlaffheit, die längst bei vielen Handarbeitern vorhanden waren, nicht sofort mit der Maschine verschwunden, sondern teilweise noch sehr gewachsen. Aber diese Begleitumstände, mehr als die moderne Maschine, erzeugten 1770 bis Daß manche Maschinen und maschinellen Arbeitsprozesse mit ihrer Zerlegung in Fassen wir unser Urteil über das Maschinenzeitalter zusammen: Die einseitigen Erſtes Buch. Land, Leute und Technik. erſchöpfende, ſchädliche Handarbeit in Bergwerken und Hausinduſtrien, auf Schiffen undauf dem Ackerfelde; eine ausbeutende, geſundheitsſchädliche, verkümmernde Handarbeit von Sklaven, Leibeigenen und Freien iſt faſt in allen älteren Kulturländern früher vorhanden geweſen, wo nicht eine beſonders gute ſociale Ordnung die Handarbeiter dichtbevölkerter Gebiete vor ſocialem Drucke ſchützte. Und ihnen eröffnete die Kraft- und Arbeits- maſchine wenigſtens die Möglichkeit einer Abnahme der übermäßigen Muskelanſtrengung. Ob ſie praktiſch gelang, hing freilich davon ab, ob die Maſchine nicht gleich mit einer unnatürlichen Verlängerung des Arbeitstages, ſchlechten Räumen, ungeſunder Luft und mit unvollkommenen ſocialen Inſtitutionen überhaupt ſich verband. Daran fehlte es. Und deshalb ſind auch die ſekundären Folgen der Überarbeit, der ſchlechten Ernährung und Wohnung, wie proletariſche Vermehrung, Trunkenheit, Schlaffheit, die längſt bei vielen Handarbeitern vorhanden waren, nicht ſofort mit der Maſchine verſchwunden, ſondern teilweiſe noch ſehr gewachſen. Aber dieſe Begleitumſtände, mehr als die moderne Maſchine, erzeugten 1770 bis Daß manche Maſchinen und maſchinellen Arbeitsprozeſſe mit ihrer Zerlegung in Faſſen wir unſer Urteil über das Maſchinenzeitalter zuſammen: Die einſeitigen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0240" n="224"/><fw place="top" type="header">Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.</fw><lb/> erſchöpfende, ſchädliche Handarbeit in Bergwerken und Hausinduſtrien, auf Schiffen und<lb/> auf dem Ackerfelde; eine ausbeutende, geſundheitsſchädliche, verkümmernde Handarbeit von<lb/> Sklaven, Leibeigenen und Freien iſt faſt in allen älteren Kulturländern früher vorhanden<lb/> geweſen, wo nicht eine beſonders gute ſociale Ordnung die Handarbeiter dichtbevölkerter<lb/> Gebiete vor ſocialem Drucke ſchützte. 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Daß heute unter veränderten und<lb/> verbeſſerten ſocialen Bedingungen zahlreiche geſunde, kräftige, geiſtig und ſittlich voran-<lb/> ſchreitende Maſchinenarbeitertypen ſich gebildet haben, kann kein Unbefangener leugnen.<lb/> Nur iſt die Frage, auf welche und wie große Teile der Maſchinenarbeiter ſich dieſe<lb/> günſtige Ausſage beſchränke oder ausdehne.</p><lb/> <p>Daß manche Maſchinen und maſchinellen Arbeitsprozeſſe mit ihrer Zerlegung in<lb/> kleine Teiloperationen, auch wo ſie dem Menſchen Muskelanſtrengung abnahmen, ihn<lb/> zu mechaniſcher, geiſttötender, monotoner Thätigkeit des Fadenknüpfens, Rohſtoffauf-<lb/> gebens, Handgriffemachens nötigten, iſt bekannt. Ein Teil der neuen Technik hat ſofort<lb/> die Beteiligten gehoben, ein anderer hat ſie körperlich und geiſtig herabgedrückt; es<lb/> fragt ſich nur, wie weit man die letztere Wirkung durch ſociale Anordnungen einſchränken,<lb/> wie weit man durch noch größere techniſche Fortſchritte, durch ſich ſelbſt bedienende und<lb/> regulierende Maſchinen die rein mechaniſche Arbeit des Menſchen noch mehr als bisher<lb/> beſeitigen könne. Faſt alle Arbeit aber an der Maſchine hat neben der geiſttötenden<lb/> Wirkung des Mechaniſchen eine erziehende, anregende: ſie leitet zu Ordnung und Prä-<lb/> ciſion, zum Nachdenken und zum Erwerbe techniſcher Kenntniſſe an. Je komplizierter<lb/> der Maſchinenmechanismus wird, deſto mehr braucht man für die meiſten, nicht für<lb/> alle Arbeiten in ihm verantwortliche, kluge, kenntnisreiche, gut genährte und bezahlte<lb/> Arbeiter. Mögen wir alſo an meiſterhafter Handausbildung keine Arbeiter mehr haben<lb/> wie die Gehülfen des Praxiteles und die Geſellen in der Werkſtatt Peter Viſchers waren, in<lb/> einer großen Anzahl unſerer techniſch hochſtehenden Induſtrien haben wir Arbeiter, welche<lb/> techniſch, geiſtig, körperlich und moraliſch den Vergleich mit den beſſeren Arbeitern aller<lb/> Zeiten nicht nur aushalten, ſondern ſie übertreffen. Freilich nur da, wo die ſittliche<lb/> Ordnung unſerer modernen Betriebseinrichtungen ſchon die ſchlimmſten Mißbräuche der<lb/> erſten Geſtaltung überwunden hat, da, wo man einſah, daß der Betrieb nicht bloß<lb/> nach der Leiſtungsfähigkeit der Maſchine, ſondern ebenſo nach der des arbeitenden<lb/> Menſchen eingerichtet werden muß. Das hatten die Unternehmer, wie Cunningham ſagt,<lb/> zuerſt ganz vergeſſen! —</p><lb/> <p>Faſſen wir unſer Urteil über das Maſchinenzeitalter zuſammen: Die einſeitigen<lb/> Optimiſten, wie Michel Chevalier, Paſſy, Reuleaux, auch einzelne Socialiſten, wie<lb/> Fourier und Bebel, ſehen nur das Licht, die einſeitigen Peſſimiſten, wie Sismondi,<lb/> Marx, überwiegend den Schatten; die wiſſenſchaftliche Betrachtung iſt mit Nicholſon,<lb/> Marſhall, Hobſon doch überwiegend zu einem gerechten, wohlabgewogenen Urteile<lb/> gekommen. Die moderne Technik und die Maſchine haben aus einer Volkswirtſchaft mit<lb/> mäßiger Bevölkerung, Kleinſtädten, durch die Waſſerkräfte zerſtreuten Gewerben, mit<lb/> feudaler, ſtabiler Agrarverfaſſung, lokalem Abſatz, geringem Außenverkehr eine ſolche<lb/> gemacht, die durch dichte Bevölkerung, Rieſenſtädte und Induſtriecentren, Großbetrieb,<lb/> großartigen Fernverkehr und weltwirtſchaftliche Arbeitsteilung ſich charakteriſiert. Dieſe<lb/> neue Volkswirtſchaft zeigt in Weſteuropa und den engliſchen Kolonien einſchließlich der<lb/> Vereinigten Staaten übereinſtimmende techniſche, aber daneben doch ſehr verſchiedene<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [224/0240]
Erſtes Buch. Land, Leute und Technik.
erſchöpfende, ſchädliche Handarbeit in Bergwerken und Hausinduſtrien, auf Schiffen und
auf dem Ackerfelde; eine ausbeutende, geſundheitsſchädliche, verkümmernde Handarbeit von
Sklaven, Leibeigenen und Freien iſt faſt in allen älteren Kulturländern früher vorhanden
geweſen, wo nicht eine beſonders gute ſociale Ordnung die Handarbeiter dichtbevölkerter
Gebiete vor ſocialem Drucke ſchützte. Und ihnen eröffnete die Kraft- und Arbeits-
maſchine wenigſtens die Möglichkeit einer Abnahme der übermäßigen Muskelanſtrengung.
Ob ſie praktiſch gelang, hing freilich davon ab, ob die Maſchine nicht gleich mit einer
unnatürlichen Verlängerung des Arbeitstages, ſchlechten Räumen, ungeſunder Luft und
mit unvollkommenen ſocialen Inſtitutionen überhaupt ſich verband. Daran fehlte es.
Und deshalb ſind auch die ſekundären Folgen der Überarbeit, der ſchlechten Ernährung
und Wohnung, wie proletariſche Vermehrung, Trunkenheit, Schlaffheit, die längſt bei
vielen Handarbeitern vorhanden waren, nicht ſofort mit der Maſchine verſchwunden,
ſondern teilweiſe noch ſehr gewachſen.
Aber dieſe Begleitumſtände, mehr als die moderne Maſchine, erzeugten 1770 bis
1850 ſo vielfach einen entarteten Arbeitertypus. Daß heute unter veränderten und
verbeſſerten ſocialen Bedingungen zahlreiche geſunde, kräftige, geiſtig und ſittlich voran-
ſchreitende Maſchinenarbeitertypen ſich gebildet haben, kann kein Unbefangener leugnen.
Nur iſt die Frage, auf welche und wie große Teile der Maſchinenarbeiter ſich dieſe
günſtige Ausſage beſchränke oder ausdehne.
Daß manche Maſchinen und maſchinellen Arbeitsprozeſſe mit ihrer Zerlegung in
kleine Teiloperationen, auch wo ſie dem Menſchen Muskelanſtrengung abnahmen, ihn
zu mechaniſcher, geiſttötender, monotoner Thätigkeit des Fadenknüpfens, Rohſtoffauf-
gebens, Handgriffemachens nötigten, iſt bekannt. Ein Teil der neuen Technik hat ſofort
die Beteiligten gehoben, ein anderer hat ſie körperlich und geiſtig herabgedrückt; es
fragt ſich nur, wie weit man die letztere Wirkung durch ſociale Anordnungen einſchränken,
wie weit man durch noch größere techniſche Fortſchritte, durch ſich ſelbſt bedienende und
regulierende Maſchinen die rein mechaniſche Arbeit des Menſchen noch mehr als bisher
beſeitigen könne. Faſt alle Arbeit aber an der Maſchine hat neben der geiſttötenden
Wirkung des Mechaniſchen eine erziehende, anregende: ſie leitet zu Ordnung und Prä-
ciſion, zum Nachdenken und zum Erwerbe techniſcher Kenntniſſe an. Je komplizierter
der Maſchinenmechanismus wird, deſto mehr braucht man für die meiſten, nicht für
alle Arbeiten in ihm verantwortliche, kluge, kenntnisreiche, gut genährte und bezahlte
Arbeiter. Mögen wir alſo an meiſterhafter Handausbildung keine Arbeiter mehr haben
wie die Gehülfen des Praxiteles und die Geſellen in der Werkſtatt Peter Viſchers waren, in
einer großen Anzahl unſerer techniſch hochſtehenden Induſtrien haben wir Arbeiter, welche
techniſch, geiſtig, körperlich und moraliſch den Vergleich mit den beſſeren Arbeitern aller
Zeiten nicht nur aushalten, ſondern ſie übertreffen. Freilich nur da, wo die ſittliche
Ordnung unſerer modernen Betriebseinrichtungen ſchon die ſchlimmſten Mißbräuche der
erſten Geſtaltung überwunden hat, da, wo man einſah, daß der Betrieb nicht bloß
nach der Leiſtungsfähigkeit der Maſchine, ſondern ebenſo nach der des arbeitenden
Menſchen eingerichtet werden muß. Das hatten die Unternehmer, wie Cunningham ſagt,
zuerſt ganz vergeſſen! —
Faſſen wir unſer Urteil über das Maſchinenzeitalter zuſammen: Die einſeitigen
Optimiſten, wie Michel Chevalier, Paſſy, Reuleaux, auch einzelne Socialiſten, wie
Fourier und Bebel, ſehen nur das Licht, die einſeitigen Peſſimiſten, wie Sismondi,
Marx, überwiegend den Schatten; die wiſſenſchaftliche Betrachtung iſt mit Nicholſon,
Marſhall, Hobſon doch überwiegend zu einem gerechten, wohlabgewogenen Urteile
gekommen. Die moderne Technik und die Maſchine haben aus einer Volkswirtſchaft mit
mäßiger Bevölkerung, Kleinſtädten, durch die Waſſerkräfte zerſtreuten Gewerben, mit
feudaler, ſtabiler Agrarverfaſſung, lokalem Abſatz, geringem Außenverkehr eine ſolche
gemacht, die durch dichte Bevölkerung, Rieſenſtädte und Induſtriecentren, Großbetrieb,
großartigen Fernverkehr und weltwirtſchaftliche Arbeitsteilung ſich charakteriſiert. Dieſe
neue Volkswirtſchaft zeigt in Weſteuropa und den engliſchen Kolonien einſchließlich der
Vereinigten Staaten übereinſtimmende techniſche, aber daneben doch ſehr verſchiedene
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