Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft.
Gruppen von zehn bis dreißig kleinen Hütten, von ein paar Langhäusern trifft man auch heute noch überwiegend bei den niedrigstehenden Rassen. Sie beherbergen kleine Stämme oder Teile derselben, je meist nicht mehr als 50--150 Menschen. Bei den Negern wohnt häufig noch ein ganzer Stamm gedrängt um seinen Häuptling oder in einigen nahen Dörfern. Die Dörfer liegen in nahen Gruppen zusammen, welche dann wieder von größeren leeren Räumen umgeben sind. Einzelhöfe kommen auf solcher Stufe der Entwickelung in besserem Klima nur selten, im Gebirge, im Walde, am Rande des kulturfähigen Bodens vor. Hirten und Nomaden haben häufig größere Ortschaften als die Hackbauern, weil sie, leicht beweglich, ihre Weideplätze vorübergehend ohne zu große Schwierigkeit erreichen, sich periodisch zerstreuen und wieder versammeln können. Ibn Batutu erzählt im 14. Jahrhundert von sehr großen, stadtartigen Zeltlagern der tata- rischen Sultanate in Südrußland. Größere Orte kommen im übrigen überhaupt sehr selten vor, und so weit wir sie finden, haben sie den Charakter vergrößerter Dörfer, d. h. es leben da zusammengedrängt die fünf- bis zehn- und mehrfache Zahl Hackbauern, Hirten, primitiver Ackerbauern, weil der Boden und die sonstigen Lebensverhältnisse die Anhäufung gestatteten oder zu ihr nötigten (wie z. B. der enge Raum der Oase, der Küstenrand etc.). Diese Orte, aber auch meist die alten Dörfer sind durch Erdwälle oder Verhaue geschützt; aber sie erhalten damit keinen wesentlich anderen Charakter als die offenen Dörfer. Der vorhandene Jahrmarktsverkehr findet nicht in ihnen, sondern etwa auf freien Grenzgebieten, an der Kreuzung von Karawanenstraßen außerhalb der Orte statt. Etwaige Schutzbauten, starke Wälle, in die sich ganze Stämme auf einen Berg, in Schluchten und Thäler zurückziehen können, fallen in solcher Zeit auch häufig nicht mit den Dörfern zusammen.
Fast ganz Afrika, außer dem Nordrand und einigen südafrikanischen Kolonien der Europäer, ist heute noch stadtlos. Wohl giebt es da und dort Großdörfer und Resi- denzen kriegerischer Häuptlinge von einigen Tausend Seelen; aber sie haben nicht Stadt- charakter. Auch ein großer Teil Asiens ist darüber nicht viel hinaus gekommen, wenn auch China, Japan, Indien schon Orte bis 100000 und mehr Seelen besitzen. Die Häuser und Bauten, das Leben und die Wirtschaftsweise hat sich noch nicht stark diffe- renziert. In Japan wohnen etwa 12 % der Menschen in Orten mit über 10000 Ein- wohnern, fünf derselben sind Städte mit über 100000. Aber, sagt Rathgen, Japan ist kein Land der Städte; sie sind nicht zahlreich und unterscheiden sich von den Dörfern nicht viel. Der brittisch-indische Census bezeichnet von 717549 Wohnplätzen wohl etwas über 2000 als towns; in ihnen wohnen 9,48 % der Bevölkerung; von dem Rest der Wohnplätze haben 1891 343052 unter 200 Seelen, 222996 aber 2--500. Und bis nach Rußland und Polen, Ungarn und die Balkanhalbinsel hinein hat sich eine Wohn- und Siedlungsweise erhalten, welche überwiegend dorfartig geblieben ist. Es haben da freilich besondere historische und wirtschaftliche Schicksale, Nachwirkungen kriegerischer Verfassung, die Natur des Landes teilweise übergroße Dörfer wie in Ungarn, teilweise Städte geschaffen und erhalten; aber der übrige Teil des Landes ist davon nicht wesentlich berührt. Von China wird berichtet, daß dort neben großen Städten sehr viele große ummauerte Dörfer vorhanden seien; ein Land der Städte, wie Westeuropa, ist es doch nicht.
Man wird so nicht zu weit gehen, wenn man sagt, für alle älteren und alle ein- fachen wirtschaftlichen Zustände sei das Fehlen von Höfen und Städten das Vor- herrschende; beides komme mehr nur als Ausnahme vor; das Zusammenwohnen in kleinen Orten, in Menschengruppen von 50--300 Seelen, sei die Regel, habe viele Jahr- tausende hindurch vorgeherrscht. Das Dorf giebt der Siedlung und Wohnweise dieser Stämme und Völker seinen Charakter. Das Dorf entspricht dem vorwiegenden Leben vom Hack- und Ackerbau; das zu bebauende Land ist für 50--300 Menschen meist in sehr leicht erreichbarer Nähe zu haben; vier Geviertkilometer geben Getreidenahrung für 150 bis 400 Menschen; auch wo die Orte bis 1000 und mehr Seelen steigen, ist die Acker- wirtschaft in Sommerhütten draußen leicht zu führen, wie das in Ungarn von den großen Dörfern aus üblich ist. Ob die einzelnen Wohnplätze etwas größer oder kleiner, langgestreckt oder um einen runden Platz herum gebaut, offen oder geschützt sind, das
Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Gruppen von zehn bis dreißig kleinen Hütten, von ein paar Langhäuſern trifft man auch heute noch überwiegend bei den niedrigſtehenden Raſſen. Sie beherbergen kleine Stämme oder Teile derſelben, je meiſt nicht mehr als 50—150 Menſchen. Bei den Negern wohnt häufig noch ein ganzer Stamm gedrängt um ſeinen Häuptling oder in einigen nahen Dörfern. Die Dörfer liegen in nahen Gruppen zuſammen, welche dann wieder von größeren leeren Räumen umgeben ſind. Einzelhöfe kommen auf ſolcher Stufe der Entwickelung in beſſerem Klima nur ſelten, im Gebirge, im Walde, am Rande des kulturfähigen Bodens vor. Hirten und Nomaden haben häufig größere Ortſchaften als die Hackbauern, weil ſie, leicht beweglich, ihre Weideplätze vorübergehend ohne zu große Schwierigkeit erreichen, ſich periodiſch zerſtreuen und wieder verſammeln können. Ibn Batutu erzählt im 14. Jahrhundert von ſehr großen, ſtadtartigen Zeltlagern der tata- riſchen Sultanate in Südrußland. Größere Orte kommen im übrigen überhaupt ſehr ſelten vor, und ſo weit wir ſie finden, haben ſie den Charakter vergrößerter Dörfer, d. h. es leben da zuſammengedrängt die fünf- bis zehn- und mehrfache Zahl Hackbauern, Hirten, primitiver Ackerbauern, weil der Boden und die ſonſtigen Lebensverhältniſſe die Anhäufung geſtatteten oder zu ihr nötigten (wie z. B. der enge Raum der Oaſe, der Küſtenrand ꝛc.). Dieſe Orte, aber auch meiſt die alten Dörfer ſind durch Erdwälle oder Verhaue geſchützt; aber ſie erhalten damit keinen weſentlich anderen Charakter als die offenen Dörfer. Der vorhandene Jahrmarktsverkehr findet nicht in ihnen, ſondern etwa auf freien Grenzgebieten, an der Kreuzung von Karawanenſtraßen außerhalb der Orte ſtatt. Etwaige Schutzbauten, ſtarke Wälle, in die ſich ganze Stämme auf einen Berg, in Schluchten und Thäler zurückziehen können, fallen in ſolcher Zeit auch häufig nicht mit den Dörfern zuſammen.
Faſt ganz Afrika, außer dem Nordrand und einigen ſüdafrikaniſchen Kolonien der Europäer, iſt heute noch ſtadtlos. Wohl giebt es da und dort Großdörfer und Reſi- denzen kriegeriſcher Häuptlinge von einigen Tauſend Seelen; aber ſie haben nicht Stadt- charakter. Auch ein großer Teil Aſiens iſt darüber nicht viel hinaus gekommen, wenn auch China, Japan, Indien ſchon Orte bis 100000 und mehr Seelen beſitzen. Die Häuſer und Bauten, das Leben und die Wirtſchaftsweiſe hat ſich noch nicht ſtark diffe- renziert. In Japan wohnen etwa 12 % der Menſchen in Orten mit über 10000 Ein- wohnern, fünf derſelben ſind Städte mit über 100000. Aber, ſagt Rathgen, Japan iſt kein Land der Städte; ſie ſind nicht zahlreich und unterſcheiden ſich von den Dörfern nicht viel. Der brittiſch-indiſche Cenſus bezeichnet von 717549 Wohnplätzen wohl etwas über 2000 als towns; in ihnen wohnen 9,48 % der Bevölkerung; von dem Reſt der Wohnplätze haben 1891 343052 unter 200 Seelen, 222996 aber 2—500. Und bis nach Rußland und Polen, Ungarn und die Balkanhalbinſel hinein hat ſich eine Wohn- und Siedlungsweiſe erhalten, welche überwiegend dorfartig geblieben iſt. Es haben da freilich beſondere hiſtoriſche und wirtſchaftliche Schickſale, Nachwirkungen kriegeriſcher Verfaſſung, die Natur des Landes teilweiſe übergroße Dörfer wie in Ungarn, teilweiſe Städte geſchaffen und erhalten; aber der übrige Teil des Landes iſt davon nicht weſentlich berührt. Von China wird berichtet, daß dort neben großen Städten ſehr viele große ummauerte Dörfer vorhanden ſeien; ein Land der Städte, wie Weſteuropa, iſt es doch nicht.
Man wird ſo nicht zu weit gehen, wenn man ſagt, für alle älteren und alle ein- fachen wirtſchaftlichen Zuſtände ſei das Fehlen von Höfen und Städten das Vor- herrſchende; beides komme mehr nur als Ausnahme vor; das Zuſammenwohnen in kleinen Orten, in Menſchengruppen von 50—300 Seelen, ſei die Regel, habe viele Jahr- tauſende hindurch vorgeherrſcht. Das Dorf giebt der Siedlung und Wohnweiſe dieſer Stämme und Völker ſeinen Charakter. Das Dorf entſpricht dem vorwiegenden Leben vom Hack- und Ackerbau; das zu bebauende Land iſt für 50—300 Menſchen meiſt in ſehr leicht erreichbarer Nähe zu haben; vier Geviertkilometer geben Getreidenahrung für 150 bis 400 Menſchen; auch wo die Orte bis 1000 und mehr Seelen ſteigen, iſt die Acker- wirtſchaft in Sommerhütten draußen leicht zu führen, wie das in Ungarn von den großen Dörfern aus üblich iſt. Ob die einzelnen Wohnplätze etwas größer oder kleiner, langgeſtreckt oder um einen runden Platz herum gebaut, offen oder geſchützt ſind, das
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Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Gruppen von zehn bis dreißig kleinen Hütten, von ein paar Langhäuſern trifft
man auch heute noch überwiegend bei den niedrigſtehenden Raſſen. Sie beherbergen
kleine Stämme oder Teile derſelben, je meiſt nicht mehr als 50—150 Menſchen. Bei
den Negern wohnt häufig noch ein ganzer Stamm gedrängt um ſeinen Häuptling oder
in einigen nahen Dörfern. Die Dörfer liegen in nahen Gruppen zuſammen, welche
dann wieder von größeren leeren Räumen umgeben ſind. Einzelhöfe kommen auf ſolcher
Stufe der Entwickelung in beſſerem Klima nur ſelten, im Gebirge, im Walde, am Rande
des kulturfähigen Bodens vor. Hirten und Nomaden haben häufig größere Ortſchaften als
die Hackbauern, weil ſie, leicht beweglich, ihre Weideplätze vorübergehend ohne zu große
Schwierigkeit erreichen, ſich periodiſch zerſtreuen und wieder verſammeln können. Ibn
Batutu erzählt im 14. Jahrhundert von ſehr großen, ſtadtartigen Zeltlagern der tata-
riſchen Sultanate in Südrußland. Größere Orte kommen im übrigen überhaupt ſehr
ſelten vor, und ſo weit wir ſie finden, haben ſie den Charakter vergrößerter Dörfer,
d. h. es leben da zuſammengedrängt die fünf- bis zehn- und mehrfache Zahl Hackbauern,
Hirten, primitiver Ackerbauern, weil der Boden und die ſonſtigen Lebensverhältniſſe die
Anhäufung geſtatteten oder zu ihr nötigten (wie z. B. der enge Raum der Oaſe, der
Küſtenrand ꝛc.). Dieſe Orte, aber auch meiſt die alten Dörfer ſind durch Erdwälle
oder Verhaue geſchützt; aber ſie erhalten damit keinen weſentlich anderen Charakter als
die offenen Dörfer. Der vorhandene Jahrmarktsverkehr findet nicht in ihnen, ſondern
etwa auf freien Grenzgebieten, an der Kreuzung von Karawanenſtraßen außerhalb der
Orte ſtatt. Etwaige Schutzbauten, ſtarke Wälle, in die ſich ganze Stämme auf einen
Berg, in Schluchten und Thäler zurückziehen können, fallen in ſolcher Zeit auch häufig
nicht mit den Dörfern zuſammen.
Faſt ganz Afrika, außer dem Nordrand und einigen ſüdafrikaniſchen Kolonien der
Europäer, iſt heute noch ſtadtlos. Wohl giebt es da und dort Großdörfer und Reſi-
denzen kriegeriſcher Häuptlinge von einigen Tauſend Seelen; aber ſie haben nicht Stadt-
charakter. Auch ein großer Teil Aſiens iſt darüber nicht viel hinaus gekommen, wenn
auch China, Japan, Indien ſchon Orte bis 100000 und mehr Seelen beſitzen. Die
Häuſer und Bauten, das Leben und die Wirtſchaftsweiſe hat ſich noch nicht ſtark diffe-
renziert. In Japan wohnen etwa 12 % der Menſchen in Orten mit über 10000 Ein-
wohnern, fünf derſelben ſind Städte mit über 100000. Aber, ſagt Rathgen, Japan
iſt kein Land der Städte; ſie ſind nicht zahlreich und unterſcheiden ſich von den Dörfern
nicht viel. Der brittiſch-indiſche Cenſus bezeichnet von 717549 Wohnplätzen wohl etwas
über 2000 als towns; in ihnen wohnen 9,48 % der Bevölkerung; von dem Reſt der
Wohnplätze haben 1891 343052 unter 200 Seelen, 222996 aber 2—500. Und bis
nach Rußland und Polen, Ungarn und die Balkanhalbinſel hinein hat ſich eine Wohn- und
Siedlungsweiſe erhalten, welche überwiegend dorfartig geblieben iſt. Es haben da freilich
beſondere hiſtoriſche und wirtſchaftliche Schickſale, Nachwirkungen kriegeriſcher Verfaſſung,
die Natur des Landes teilweiſe übergroße Dörfer wie in Ungarn, teilweiſe Städte geſchaffen
und erhalten; aber der übrige Teil des Landes iſt davon nicht weſentlich berührt. Von
China wird berichtet, daß dort neben großen Städten ſehr viele große ummauerte
Dörfer vorhanden ſeien; ein Land der Städte, wie Weſteuropa, iſt es doch nicht.
Man wird ſo nicht zu weit gehen, wenn man ſagt, für alle älteren und alle ein-
fachen wirtſchaftlichen Zuſtände ſei das Fehlen von Höfen und Städten das Vor-
herrſchende; beides komme mehr nur als Ausnahme vor; das Zuſammenwohnen in
kleinen Orten, in Menſchengruppen von 50—300 Seelen, ſei die Regel, habe viele Jahr-
tauſende hindurch vorgeherrſcht. Das Dorf giebt der Siedlung und Wohnweiſe dieſer
Stämme und Völker ſeinen Charakter. Das Dorf entſpricht dem vorwiegenden Leben vom
Hack- und Ackerbau; das zu bebauende Land iſt für 50—300 Menſchen meiſt in ſehr
leicht erreichbarer Nähe zu haben; vier Geviertkilometer geben Getreidenahrung für 150
bis 400 Menſchen; auch wo die Orte bis 1000 und mehr Seelen ſteigen, iſt die Acker-
wirtſchaft in Sommerhütten draußen leicht zu führen, wie das in Ungarn von den
großen Dörfern aus üblich iſt. Ob die einzelnen Wohnplätze etwas größer oder kleiner,
langgeſtreckt oder um einen runden Platz herum gebaut, offen oder geſchützt ſind, das
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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/272>, abgerufen am 21.11.2024.
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