Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft.
Mag man bei Vergleichung dieser Zahlen unter sich und mit den älteren daran erinnern, daß der veränderte Geldwert und der Ersatz naturaler Staatsansprüche durch Geld die Vergleichbarkeit erschweren, das ungeheure Wachstum der modernen staatlichen Finanzwirtschaft gegen alle früheren Zeiten geht doch klar aus all' diesen Zahlen hervor. Erst seit den letzten 200 Jahren begann der Prozeß, der große einheitliche Staaten mit einheitlichen Wirtschaftsinstitutionen und einheitlich centralisierten Finanzen schuf.
Es ist nur ein anderer Ausdruck derselben großen Erscheinung, daß die Staats- gewalt vom 16.--19. Jahrhundert versuchte, die selbständige Organisation und die selbständigen Finanzen der Städte, Gemeinden, Territorien und Provinzen, aus deren Zusammenfassung die größeren Staaten hervorgingen, zu beschneiden, teilweise ganz zu beseitigen. In Preußen z. B. hören die ständisch-finanziellen Organisationen der Pro- vinzen im 18. Jahrhundert fast ganz auf; die meisten Städte werden im 18. Jahr- hundert auf ein Jahresbudget von 3000--30000 Mark reduziert; selbst Berlin hatte 1734 mit 86000 Einwohnern nur eine Ausgabe von 72000 Mark, während im Mittel- alter Städte mit 10000 das 2--6fache Budget hatten. Aber ebenso klar ist, daß die finanzielle Centralisation, an ihrer äußersten Grenze angekommen, in unserem Jahr- hundert beginnen mußte, den mittleren und kleineren Gebietskörperschaften wieder eine größere Thätigkeit und Selbständigkeit einzuräumen. Und so sehen wir heute, daß neuere Reichsbildungen, z. B. die Deutschlands, neben den Reichs- die Staatsfinanzen belassen haben; von den Vereinigten Staaten und der Schweiz gilt Ähnliches. Österreich- Ungarn hat den Kronlanden eine erhebliche Selbständigkeit belassen oder wieder gegeben; überall werden zwischen Staat und Gemeinde neue Gebietskörperschaften geschaffen, teil- weise die Gemeinden vergrößert und zusammengelegt; allerwärts sind die Aufgaben und die Finanzen dieser Gebilde wieder in aufsteigender Linie begriffen. Über die Größe der neueren örtlichen Selbstverwaltungskörper sei noch folgendes beigefügt.
Die Gemeindemarkungen in Deutschland schwanken heute zwischen 4 und 13 Geviert- kilometern; in Ostpreußen und Schlesien umfaßt eine Gemeinde einschließlich der Guts- bezirke durchschnittlich 4--5, in der Rheinprovinz, Hessen-Kassel, Sachsen, Posen, Brandenburg 5--8, in Hannover, Westfalen, Schleswig-Holstein 9--13, in Württem- berg 10 Geviertkilometer. -- In diesen Zahlendurchschnitten sind alle Gemeinden, auch die großen Stadtgemeinden, es ist alles unwirtliche Land, der gesamte Waldbestand einbegriffen; das bewohnte und bebaute Land schrumpft also auf zwei Drittel oder weniger zusammen. Von der Seelenzahl der deutschen Landgemeinden haben wir oben (S. 269) schon gesprochen; wir sahen, daß fast die Hälfte der preußischen Landgemeinden unter 200 Seelen, die als Kommunen geltenden Gutsbezirke noch weniger Bewohner haben, während im Süden und Westen Deutschlands die Seelenzahl der Gemeinde auf 5--800 steigt, wie sie etwa auch in Frankreich sein wird. Dort kommen jetzt 14 bis 15 Geviertkilometer auf die Gemeinde. In Österreich zählt eine politische Gemeinde 500--1500 Seelen, jede umfaßt aber durchschnittlich 2--3 Ortschaften; diese, die älteren Gemeinden, haben 120--800 Seelen.
Nehmen wir den Durchschnitt einer alten germanischen Mark, welche, von den kleinsten (11/2) und den größten nordischen (8) abgesehen, 3--5 Geviertmeilen hatte, zu 4 gleich 225 Geviertkilometer, an, so sind heute 17--20 Dörfer auf einem solchen Raume. Überall haben sich in der langen historischen Entwickelung über den Dörfern wieder größere Gebietskörperschaften, Grafschaften, Departements, Kreise, Arrondissements und wie sie alle heißen entwickelt. Die englische Grafschaft hat durchschnittlich 2585 Geviertkilometer. Der preußische Kreis 200--2000, durchschnittlich 825, mit 24000--100000 Seelen. Die süddeutschen Oberämter sind etwas kleiner; die fran- zösischen Arrondissements haben 1436 Geviertkilometer durchschnittlich. Auch zwischen diesen größeren Gebilden und den Dörfern haben sich überall noch Mittelglieder gebildet; z. B. in England seit der Reformation die Kirchspiele, welche ursprünglich 13, später durch Teilungen 8--9 Geviertkilometer umfaßten, heute etwa 1700 Seelen zählen. Da auch sie für die kommunalen Zwecke zu klein waren, bildete man neuerdings (meist mit den Friedensrichterdistrikten zusammenfallend) die Kirchspielunionen, 150--200 Geviert-
Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Mag man bei Vergleichung dieſer Zahlen unter ſich und mit den älteren daran erinnern, daß der veränderte Geldwert und der Erſatz naturaler Staatsanſprüche durch Geld die Vergleichbarkeit erſchweren, das ungeheure Wachstum der modernen ſtaatlichen Finanzwirtſchaft gegen alle früheren Zeiten geht doch klar aus all’ dieſen Zahlen hervor. Erſt ſeit den letzten 200 Jahren begann der Prozeß, der große einheitliche Staaten mit einheitlichen Wirtſchaftsinſtitutionen und einheitlich centraliſierten Finanzen ſchuf.
Es iſt nur ein anderer Ausdruck derſelben großen Erſcheinung, daß die Staats- gewalt vom 16.—19. Jahrhundert verſuchte, die ſelbſtändige Organiſation und die ſelbſtändigen Finanzen der Städte, Gemeinden, Territorien und Provinzen, aus deren Zuſammenfaſſung die größeren Staaten hervorgingen, zu beſchneiden, teilweiſe ganz zu beſeitigen. In Preußen z. B. hören die ſtändiſch-finanziellen Organiſationen der Pro- vinzen im 18. Jahrhundert faſt ganz auf; die meiſten Städte werden im 18. Jahr- hundert auf ein Jahresbudget von 3000—30000 Mark reduziert; ſelbſt Berlin hatte 1734 mit 86000 Einwohnern nur eine Ausgabe von 72000 Mark, während im Mittel- alter Städte mit 10000 das 2—6fache Budget hatten. Aber ebenſo klar iſt, daß die finanzielle Centraliſation, an ihrer äußerſten Grenze angekommen, in unſerem Jahr- hundert beginnen mußte, den mittleren und kleineren Gebietskörperſchaften wieder eine größere Thätigkeit und Selbſtändigkeit einzuräumen. Und ſo ſehen wir heute, daß neuere Reichsbildungen, z. B. die Deutſchlands, neben den Reichs- die Staatsfinanzen belaſſen haben; von den Vereinigten Staaten und der Schweiz gilt Ähnliches. Öſterreich- Ungarn hat den Kronlanden eine erhebliche Selbſtändigkeit belaſſen oder wieder gegeben; überall werden zwiſchen Staat und Gemeinde neue Gebietskörperſchaften geſchaffen, teil- weiſe die Gemeinden vergrößert und zuſammengelegt; allerwärts ſind die Aufgaben und die Finanzen dieſer Gebilde wieder in aufſteigender Linie begriffen. Über die Größe der neueren örtlichen Selbſtverwaltungskörper ſei noch folgendes beigefügt.
Die Gemeindemarkungen in Deutſchland ſchwanken heute zwiſchen 4 und 13 Geviert- kilometern; in Oſtpreußen und Schleſien umfaßt eine Gemeinde einſchließlich der Guts- bezirke durchſchnittlich 4—5, in der Rheinprovinz, Heſſen-Kaſſel, Sachſen, Poſen, Brandenburg 5—8, in Hannover, Weſtfalen, Schleswig-Holſtein 9—13, in Württem- berg 10 Geviertkilometer. — In dieſen Zahlendurchſchnitten ſind alle Gemeinden, auch die großen Stadtgemeinden, es iſt alles unwirtliche Land, der geſamte Waldbeſtand einbegriffen; das bewohnte und bebaute Land ſchrumpft alſo auf zwei Drittel oder weniger zuſammen. Von der Seelenzahl der deutſchen Landgemeinden haben wir oben (S. 269) ſchon geſprochen; wir ſahen, daß faſt die Hälfte der preußiſchen Landgemeinden unter 200 Seelen, die als Kommunen geltenden Gutsbezirke noch weniger Bewohner haben, während im Süden und Weſten Deutſchlands die Seelenzahl der Gemeinde auf 5—800 ſteigt, wie ſie etwa auch in Frankreich ſein wird. Dort kommen jetzt 14 bis 15 Geviertkilometer auf die Gemeinde. In Öſterreich zählt eine politiſche Gemeinde 500—1500 Seelen, jede umfaßt aber durchſchnittlich 2—3 Ortſchaften; dieſe, die älteren Gemeinden, haben 120—800 Seelen.
Nehmen wir den Durchſchnitt einer alten germaniſchen Mark, welche, von den kleinſten (1½) und den größten nordiſchen (8) abgeſehen, 3—5 Geviertmeilen hatte, zu 4 gleich 225 Geviertkilometer, an, ſo ſind heute 17—20 Dörfer auf einem ſolchen Raume. Überall haben ſich in der langen hiſtoriſchen Entwickelung über den Dörfern wieder größere Gebietskörperſchaften, Grafſchaften, Departements, Kreiſe, Arrondiſſements und wie ſie alle heißen entwickelt. Die engliſche Grafſchaft hat durchſchnittlich 2585 Geviertkilometer. Der preußiſche Kreis 200—2000, durchſchnittlich 825, mit 24000—100000 Seelen. Die ſüddeutſchen Oberämter ſind etwas kleiner; die fran- zöſiſchen Arrondiſſements haben 1436 Geviertkilometer durchſchnittlich. Auch zwiſchen dieſen größeren Gebilden und den Dörfern haben ſich überall noch Mittelglieder gebildet; z. B. in England ſeit der Reformation die Kirchſpiele, welche urſprünglich 13, ſpäter durch Teilungen 8—9 Geviertkilometer umfaßten, heute etwa 1700 Seelen zählen. Da auch ſie für die kommunalen Zwecke zu klein waren, bildete man neuerdings (meiſt mit den Friedensrichterdiſtrikten zuſammenfallend) die Kirchſpielunionen, 150—200 Geviert-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0300"n="284"/><fwplace="top"type="header">Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.</fw><lb/><p>Mag man bei Vergleichung dieſer Zahlen unter ſich und mit den älteren daran<lb/>
erinnern, daß der veränderte Geldwert und der Erſatz naturaler Staatsanſprüche durch<lb/>
Geld die Vergleichbarkeit erſchweren, das ungeheure Wachstum der modernen ſtaatlichen<lb/>
Finanzwirtſchaft gegen alle früheren Zeiten geht doch klar aus all’ dieſen Zahlen hervor.<lb/>
Erſt ſeit den letzten 200 Jahren begann der Prozeß, der große einheitliche Staaten mit<lb/>
einheitlichen Wirtſchaftsinſtitutionen und einheitlich centraliſierten Finanzen ſchuf.</p><lb/><p>Es iſt nur ein anderer Ausdruck derſelben großen Erſcheinung, daß die Staats-<lb/>
gewalt vom 16.—19. Jahrhundert verſuchte, die ſelbſtändige Organiſation und die<lb/>ſelbſtändigen Finanzen der Städte, Gemeinden, Territorien und Provinzen, aus deren<lb/>
Zuſammenfaſſung die größeren Staaten hervorgingen, zu beſchneiden, teilweiſe ganz zu<lb/>
beſeitigen. In Preußen z. B. hören die ſtändiſch-finanziellen Organiſationen der Pro-<lb/>
vinzen im 18. Jahrhundert faſt ganz auf; die meiſten Städte werden im 18. Jahr-<lb/>
hundert auf ein Jahresbudget von 3000—30000 Mark reduziert; ſelbſt Berlin hatte<lb/>
1734 mit 86000 Einwohnern nur eine Ausgabe von 72000 Mark, während im Mittel-<lb/>
alter Städte mit 10000 das 2—6fache Budget hatten. Aber ebenſo klar iſt, daß die<lb/>
finanzielle Centraliſation, an ihrer äußerſten Grenze angekommen, in unſerem Jahr-<lb/>
hundert beginnen mußte, den mittleren und kleineren Gebietskörperſchaften wieder eine<lb/>
größere Thätigkeit und Selbſtändigkeit einzuräumen. Und ſo ſehen wir heute, daß neuere<lb/>
Reichsbildungen, z. B. die Deutſchlands, neben den Reichs- die Staatsfinanzen belaſſen<lb/>
haben; von den Vereinigten Staaten und der Schweiz gilt Ähnliches. Öſterreich-<lb/>
Ungarn hat den Kronlanden eine erhebliche Selbſtändigkeit belaſſen oder wieder gegeben;<lb/>
überall werden zwiſchen Staat und Gemeinde neue Gebietskörperſchaften geſchaffen, teil-<lb/>
weiſe die Gemeinden vergrößert und zuſammengelegt; allerwärts ſind die Aufgaben und<lb/>
die Finanzen dieſer Gebilde wieder in aufſteigender Linie begriffen. Über die Größe<lb/>
der neueren örtlichen Selbſtverwaltungskörper ſei noch folgendes beigefügt.</p><lb/><p>Die Gemeindemarkungen in Deutſchland ſchwanken heute zwiſchen 4 und 13 Geviert-<lb/>
kilometern; in Oſtpreußen und Schleſien umfaßt eine Gemeinde einſchließlich der Guts-<lb/>
bezirke durchſchnittlich 4—5, in der Rheinprovinz, Heſſen-Kaſſel, Sachſen, Poſen,<lb/>
Brandenburg 5—8, in Hannover, Weſtfalen, Schleswig-Holſtein 9—13, in Württem-<lb/>
berg 10 Geviertkilometer. — In dieſen Zahlendurchſchnitten ſind alle Gemeinden, auch<lb/>
die großen Stadtgemeinden, es iſt alles unwirtliche Land, der geſamte Waldbeſtand<lb/>
einbegriffen; das bewohnte und bebaute Land ſchrumpft alſo auf zwei Drittel oder<lb/>
weniger zuſammen. Von der Seelenzahl der deutſchen Landgemeinden haben wir oben<lb/>
(S. 269) ſchon geſprochen; wir ſahen, daß faſt die Hälfte der preußiſchen Landgemeinden<lb/>
unter 200 Seelen, die als Kommunen geltenden Gutsbezirke noch weniger Bewohner<lb/>
haben, während im Süden und Weſten Deutſchlands die Seelenzahl der Gemeinde auf<lb/>
5—800 ſteigt, wie ſie etwa auch in Frankreich ſein wird. Dort kommen jetzt 14 bis<lb/>
15 Geviertkilometer auf die Gemeinde. In Öſterreich zählt eine politiſche Gemeinde<lb/>
500—1500 Seelen, jede umfaßt aber durchſchnittlich 2—3 Ortſchaften; dieſe, die älteren<lb/>
Gemeinden, haben 120—800 Seelen.</p><lb/><p>Nehmen wir den Durchſchnitt einer alten germaniſchen Mark, welche, von den<lb/>
kleinſten (1½) und den größten nordiſchen (8) abgeſehen, 3—5 Geviertmeilen hatte,<lb/>
zu 4 gleich 225 Geviertkilometer, an, ſo ſind heute 17—20 Dörfer auf einem ſolchen<lb/>
Raume. Überall haben ſich in der langen hiſtoriſchen Entwickelung über den Dörfern<lb/>
wieder größere Gebietskörperſchaften, Grafſchaften, Departements, Kreiſe, Arrondiſſements<lb/>
und wie ſie alle heißen entwickelt. Die engliſche Grafſchaft hat durchſchnittlich<lb/>
2585 Geviertkilometer. Der preußiſche Kreis 200—2000, durchſchnittlich 825, mit<lb/>
24000—100000 Seelen. Die ſüddeutſchen Oberämter ſind etwas kleiner; die fran-<lb/>
zöſiſchen Arrondiſſements haben 1436 Geviertkilometer durchſchnittlich. Auch zwiſchen<lb/>
dieſen größeren Gebilden und den Dörfern haben ſich überall noch Mittelglieder gebildet;<lb/>
z. B. in England ſeit der Reformation die Kirchſpiele, welche urſprünglich 13, ſpäter<lb/>
durch Teilungen 8—9 Geviertkilometer umfaßten, heute etwa 1700 Seelen zählen. Da<lb/>
auch ſie für die kommunalen Zwecke zu klein waren, bildete man neuerdings (meiſt mit<lb/>
den Friedensrichterdiſtrikten zuſammenfallend) die Kirchſpielunionen, 150—200 Geviert-<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[284/0300]
Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
Mag man bei Vergleichung dieſer Zahlen unter ſich und mit den älteren daran
erinnern, daß der veränderte Geldwert und der Erſatz naturaler Staatsanſprüche durch
Geld die Vergleichbarkeit erſchweren, das ungeheure Wachstum der modernen ſtaatlichen
Finanzwirtſchaft gegen alle früheren Zeiten geht doch klar aus all’ dieſen Zahlen hervor.
Erſt ſeit den letzten 200 Jahren begann der Prozeß, der große einheitliche Staaten mit
einheitlichen Wirtſchaftsinſtitutionen und einheitlich centraliſierten Finanzen ſchuf.
Es iſt nur ein anderer Ausdruck derſelben großen Erſcheinung, daß die Staats-
gewalt vom 16.—19. Jahrhundert verſuchte, die ſelbſtändige Organiſation und die
ſelbſtändigen Finanzen der Städte, Gemeinden, Territorien und Provinzen, aus deren
Zuſammenfaſſung die größeren Staaten hervorgingen, zu beſchneiden, teilweiſe ganz zu
beſeitigen. In Preußen z. B. hören die ſtändiſch-finanziellen Organiſationen der Pro-
vinzen im 18. Jahrhundert faſt ganz auf; die meiſten Städte werden im 18. Jahr-
hundert auf ein Jahresbudget von 3000—30000 Mark reduziert; ſelbſt Berlin hatte
1734 mit 86000 Einwohnern nur eine Ausgabe von 72000 Mark, während im Mittel-
alter Städte mit 10000 das 2—6fache Budget hatten. Aber ebenſo klar iſt, daß die
finanzielle Centraliſation, an ihrer äußerſten Grenze angekommen, in unſerem Jahr-
hundert beginnen mußte, den mittleren und kleineren Gebietskörperſchaften wieder eine
größere Thätigkeit und Selbſtändigkeit einzuräumen. Und ſo ſehen wir heute, daß neuere
Reichsbildungen, z. B. die Deutſchlands, neben den Reichs- die Staatsfinanzen belaſſen
haben; von den Vereinigten Staaten und der Schweiz gilt Ähnliches. Öſterreich-
Ungarn hat den Kronlanden eine erhebliche Selbſtändigkeit belaſſen oder wieder gegeben;
überall werden zwiſchen Staat und Gemeinde neue Gebietskörperſchaften geſchaffen, teil-
weiſe die Gemeinden vergrößert und zuſammengelegt; allerwärts ſind die Aufgaben und
die Finanzen dieſer Gebilde wieder in aufſteigender Linie begriffen. Über die Größe
der neueren örtlichen Selbſtverwaltungskörper ſei noch folgendes beigefügt.
Die Gemeindemarkungen in Deutſchland ſchwanken heute zwiſchen 4 und 13 Geviert-
kilometern; in Oſtpreußen und Schleſien umfaßt eine Gemeinde einſchließlich der Guts-
bezirke durchſchnittlich 4—5, in der Rheinprovinz, Heſſen-Kaſſel, Sachſen, Poſen,
Brandenburg 5—8, in Hannover, Weſtfalen, Schleswig-Holſtein 9—13, in Württem-
berg 10 Geviertkilometer. — In dieſen Zahlendurchſchnitten ſind alle Gemeinden, auch
die großen Stadtgemeinden, es iſt alles unwirtliche Land, der geſamte Waldbeſtand
einbegriffen; das bewohnte und bebaute Land ſchrumpft alſo auf zwei Drittel oder
weniger zuſammen. Von der Seelenzahl der deutſchen Landgemeinden haben wir oben
(S. 269) ſchon geſprochen; wir ſahen, daß faſt die Hälfte der preußiſchen Landgemeinden
unter 200 Seelen, die als Kommunen geltenden Gutsbezirke noch weniger Bewohner
haben, während im Süden und Weſten Deutſchlands die Seelenzahl der Gemeinde auf
5—800 ſteigt, wie ſie etwa auch in Frankreich ſein wird. Dort kommen jetzt 14 bis
15 Geviertkilometer auf die Gemeinde. In Öſterreich zählt eine politiſche Gemeinde
500—1500 Seelen, jede umfaßt aber durchſchnittlich 2—3 Ortſchaften; dieſe, die älteren
Gemeinden, haben 120—800 Seelen.
Nehmen wir den Durchſchnitt einer alten germaniſchen Mark, welche, von den
kleinſten (1½) und den größten nordiſchen (8) abgeſehen, 3—5 Geviertmeilen hatte,
zu 4 gleich 225 Geviertkilometer, an, ſo ſind heute 17—20 Dörfer auf einem ſolchen
Raume. Überall haben ſich in der langen hiſtoriſchen Entwickelung über den Dörfern
wieder größere Gebietskörperſchaften, Grafſchaften, Departements, Kreiſe, Arrondiſſements
und wie ſie alle heißen entwickelt. Die engliſche Grafſchaft hat durchſchnittlich
2585 Geviertkilometer. Der preußiſche Kreis 200—2000, durchſchnittlich 825, mit
24000—100000 Seelen. Die ſüddeutſchen Oberämter ſind etwas kleiner; die fran-
zöſiſchen Arrondiſſements haben 1436 Geviertkilometer durchſchnittlich. Auch zwiſchen
dieſen größeren Gebilden und den Dörfern haben ſich überall noch Mittelglieder gebildet;
z. B. in England ſeit der Reformation die Kirchſpiele, welche urſprünglich 13, ſpäter
durch Teilungen 8—9 Geviertkilometer umfaßten, heute etwa 1700 Seelen zählen. Da
auch ſie für die kommunalen Zwecke zu klein waren, bildete man neuerdings (meiſt mit
den Friedensrichterdiſtrikten zuſammenfallend) die Kirchſpielunionen, 150—200 Geviert-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/300>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.