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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Größe der Gemeinden und ihrer Finanzen.
kilometer, 10--14 Kirchspiele umfassend. Die rheinischen Bürgermeistereien sind etwas
Ähnliches, nur kleiner, etwa 40 Geviertkilometer groß, die neuen preußischen Amts-
bezirke ebenso, etwa 20--40 Geviertkilometer. In Rußland ist neuerdings neben und
über die Dorf- die Samtgemeinde und der Kreis getreten. Die Samtgemeinden zumal
der Kronbauern haben durchschnittlich etwa 1000--1200 Seelen. In den Vereinigten
Staaten ging das Kommunalleben im Norden von den Dorfschaften und Kirchspielen,
im Süden von den Grafschaften aus, da hier der Großbesitz vorherrschte; jetzt ist, ent-
sprechend der dortigen dünnen Bevölkerung, die an die nördlichen Einrichtungen sich
anlehnende township die Grundform des Gemeindelebens geworden; sie hat 92--93 Geviert-
kilometer mit einigen Hundert bis einigen Tausend Seelen; sie läßt bei zunehmender
Bevölkerung Städte und Schulbezirke in sich entstehen.

Wenn nun in Großbritannien die sämtlichen kommunalen Körperschaften 1867--68
36, 1892--93 82 Mill. L, der Staat aber 1892--98 91--106 Mill. L, in Frankreich
die Gemeinden 1871 998, 1885 1060, der Staat jedoch 1885 über 3000 Mill. Francs,
in Preußen die sämtlichen Stadt- und Landgemeinden 1883--84 373, der Staat
1092 Mill. Mark (ohne Reichsbudget) ausgaben, so erhellt wohl, wie sehr die lokalen
Gebietskörperschaften an finanzieller Bedeutung wuchsen, wie wenig sie aber noch den
Staat eingeholt haben. Freilich unsere großen Städte haben Finanzen, die an die
Budgets der größeren Staaten des 16.--18. Jahrhunderts heranreichen: Paris 1801
12, 1860 106, 1888 304 Mill. Francs, Berlin 1889--90 85 Mill. Einnahmen,
75 Mill Mark Ausgaben, Boston 1889--90 17,8 Mill. Doll. Ausgaben; selbst Städte
wie Mainz und Altona haben einen Etat von 3,7 und 4,5 Mill. Mark, mehr als
zu Luthers Zeiten ein mächtiger König. Aber dafür bewegen sich auch die Ausgaben
einer Dorfgemeinde und Landstadt noch immer in den bescheidensten Grenzen. --

An diese statistisch-historischen Größenangaben möchten wir nur ein paar all-
gemeine Schlüsse und Bemerkungen knüpfen.

a) Die ältere Vorstellung, als ob die lokalen kleinen Ortsgemeinden in ihrer
Verfassung allerwärts das Ältere, Ursprünglichere seien, als ob durch deren Zusammen-
fassung etwa die Staaten sich gebildet hätten, ist nicht richtig. Die älteren Stämme
und Stammesbündnisse führten zuerst zu kleinen Kanton- oder Stadtstaaten, welche
Staat und Lokalgemeinde zugleich waren; innerhalb derselben brachten es die Orts-
gemeinden in älterer Zeit überhaupt nicht zu einem kräftigen Sonderleben, sondern
blieben Teile der Kantone. Erst im Mittelalter und in der neueren Zeit geschah
dies; es beruht darauf der die ganze neuere Volkswirtschaft und Staatsverfassung
beherrschende Gegensatz von Stadt und Land, der dem Altertume fehlte. Aber auch
in der neueren Entwickelung sind der Gau, die Markgenossenschaft, die nordamerikanische
Grafschaft und township und ähnliche größere Bezirke das Ältere, innerhalb deren
erst nach und nach durch Differenzierung der Zwecke und Organe die kleineren Gemeinden
als selbständige Gebietskörperschaften entstanden und von Recht und Staat anerkannt
und geordnet wurden. Vollends in unserem Jahrhundert sind eine Menge kleinerer
und größerer Gebietskörperschaften absichtlich durch die Staatsverwaltung und Gesetzgebung
geschaffen worden.

Die Vergrößerung der Staaten erfolgte einerseits durch Bündnisse ganzer Gebiete
und Völker untereinander, andererseits durch Eroberung, Staatsverträge, fürstliche Erb-
schaften, Kaufgeschäfte fürstlicher Familien, die meist ganze Grundherrschaften, Graf-
schaften, Territorien betrafen.

Das Charakteristische des historischen Entwickelungsprozesses in Bezug auf die
Gebietskörperschaften ist der Umstand, daß je größer die Reiche und Staaten werden,
desto mehr eine komplizierte Hierarchie von größeren und kleineren Körperschaften über-
einander entsteht, die sich nun in die verschiedenen Aufgaben des politischen und wirt-
schaftlichen Gemeinschaftslebens teilen. Je höher die Verfassung der Staaten sich aus-
bildet, desto mehr erhalten die untergeordneten Körperschaften in gewissen, besonders
wirtschaftlichen Gebieten eine relative Selbständigkeit, müssen dafür aber in anderen

Größe der Gemeinden und ihrer Finanzen.
kilometer, 10—14 Kirchſpiele umfaſſend. Die rheiniſchen Bürgermeiſtereien ſind etwas
Ähnliches, nur kleiner, etwa 40 Geviertkilometer groß, die neuen preußiſchen Amts-
bezirke ebenſo, etwa 20—40 Geviertkilometer. In Rußland iſt neuerdings neben und
über die Dorf- die Samtgemeinde und der Kreis getreten. Die Samtgemeinden zumal
der Kronbauern haben durchſchnittlich etwa 1000—1200 Seelen. In den Vereinigten
Staaten ging das Kommunalleben im Norden von den Dorfſchaften und Kirchſpielen,
im Süden von den Grafſchaften aus, da hier der Großbeſitz vorherrſchte; jetzt iſt, ent-
ſprechend der dortigen dünnen Bevölkerung, die an die nördlichen Einrichtungen ſich
anlehnende township die Grundform des Gemeindelebens geworden; ſie hat 92—93 Geviert-
kilometer mit einigen Hundert bis einigen Tauſend Seelen; ſie läßt bei zunehmender
Bevölkerung Städte und Schulbezirke in ſich entſtehen.

Wenn nun in Großbritannien die ſämtlichen kommunalen Körperſchaften 1867—68
36, 1892—93 82 Mill. ₤, der Staat aber 1892—98 91—106 Mill. ₤, in Frankreich
die Gemeinden 1871 998, 1885 1060, der Staat jedoch 1885 über 3000 Mill. Francs,
in Preußen die ſämtlichen Stadt- und Landgemeinden 1883—84 373, der Staat
1092 Mill. Mark (ohne Reichsbudget) ausgaben, ſo erhellt wohl, wie ſehr die lokalen
Gebietskörperſchaften an finanzieller Bedeutung wuchſen, wie wenig ſie aber noch den
Staat eingeholt haben. Freilich unſere großen Städte haben Finanzen, die an die
Budgets der größeren Staaten des 16.—18. Jahrhunderts heranreichen: Paris 1801
12, 1860 106, 1888 304 Mill. Francs, Berlin 1889—90 85 Mill. Einnahmen,
75 Mill Mark Ausgaben, Boſton 1889—90 17,8 Mill. Doll. Ausgaben; ſelbſt Städte
wie Mainz und Altona haben einen Etat von 3,7 und 4,5 Mill. Mark, mehr als
zu Luthers Zeiten ein mächtiger König. Aber dafür bewegen ſich auch die Ausgaben
einer Dorfgemeinde und Landſtadt noch immer in den beſcheidenſten Grenzen. —

An dieſe ſtatiſtiſch-hiſtoriſchen Größenangaben möchten wir nur ein paar all-
gemeine Schlüſſe und Bemerkungen knüpfen.

a) Die ältere Vorſtellung, als ob die lokalen kleinen Ortsgemeinden in ihrer
Verfaſſung allerwärts das Ältere, Urſprünglichere ſeien, als ob durch deren Zuſammen-
faſſung etwa die Staaten ſich gebildet hätten, iſt nicht richtig. Die älteren Stämme
und Stammesbündniſſe führten zuerſt zu kleinen Kanton- oder Stadtſtaaten, welche
Staat und Lokalgemeinde zugleich waren; innerhalb derſelben brachten es die Orts-
gemeinden in älterer Zeit überhaupt nicht zu einem kräftigen Sonderleben, ſondern
blieben Teile der Kantone. Erſt im Mittelalter und in der neueren Zeit geſchah
dies; es beruht darauf der die ganze neuere Volkswirtſchaft und Staatsverfaſſung
beherrſchende Gegenſatz von Stadt und Land, der dem Altertume fehlte. Aber auch
in der neueren Entwickelung ſind der Gau, die Markgenoſſenſchaft, die nordamerikaniſche
Grafſchaft und township und ähnliche größere Bezirke das Ältere, innerhalb deren
erſt nach und nach durch Differenzierung der Zwecke und Organe die kleineren Gemeinden
als ſelbſtändige Gebietskörperſchaften entſtanden und von Recht und Staat anerkannt
und geordnet wurden. Vollends in unſerem Jahrhundert ſind eine Menge kleinerer
und größerer Gebietskörperſchaften abſichtlich durch die Staatsverwaltung und Geſetzgebung
geſchaffen worden.

Die Vergrößerung der Staaten erfolgte einerſeits durch Bündniſſe ganzer Gebiete
und Völker untereinander, andererſeits durch Eroberung, Staatsverträge, fürſtliche Erb-
ſchaften, Kaufgeſchäfte fürſtlicher Familien, die meiſt ganze Grundherrſchaften, Graf-
ſchaften, Territorien betrafen.

Das Charakteriſtiſche des hiſtoriſchen Entwickelungsprozeſſes in Bezug auf die
Gebietskörperſchaften iſt der Umſtand, daß je größer die Reiche und Staaten werden,
deſto mehr eine komplizierte Hierarchie von größeren und kleineren Körperſchaften über-
einander entſteht, die ſich nun in die verſchiedenen Aufgaben des politiſchen und wirt-
ſchaftlichen Gemeinſchaftslebens teilen. Je höher die Verfaſſung der Staaten ſich aus-
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[285/0301] Größe der Gemeinden und ihrer Finanzen. kilometer, 10—14 Kirchſpiele umfaſſend. Die rheiniſchen Bürgermeiſtereien ſind etwas Ähnliches, nur kleiner, etwa 40 Geviertkilometer groß, die neuen preußiſchen Amts- bezirke ebenſo, etwa 20—40 Geviertkilometer. In Rußland iſt neuerdings neben und über die Dorf- die Samtgemeinde und der Kreis getreten. Die Samtgemeinden zumal der Kronbauern haben durchſchnittlich etwa 1000—1200 Seelen. In den Vereinigten Staaten ging das Kommunalleben im Norden von den Dorfſchaften und Kirchſpielen, im Süden von den Grafſchaften aus, da hier der Großbeſitz vorherrſchte; jetzt iſt, ent- ſprechend der dortigen dünnen Bevölkerung, die an die nördlichen Einrichtungen ſich anlehnende township die Grundform des Gemeindelebens geworden; ſie hat 92—93 Geviert- kilometer mit einigen Hundert bis einigen Tauſend Seelen; ſie läßt bei zunehmender Bevölkerung Städte und Schulbezirke in ſich entſtehen. Wenn nun in Großbritannien die ſämtlichen kommunalen Körperſchaften 1867—68 36, 1892—93 82 Mill. ₤, der Staat aber 1892—98 91—106 Mill. ₤, in Frankreich die Gemeinden 1871 998, 1885 1060, der Staat jedoch 1885 über 3000 Mill. Francs, in Preußen die ſämtlichen Stadt- und Landgemeinden 1883—84 373, der Staat 1092 Mill. Mark (ohne Reichsbudget) ausgaben, ſo erhellt wohl, wie ſehr die lokalen Gebietskörperſchaften an finanzieller Bedeutung wuchſen, wie wenig ſie aber noch den Staat eingeholt haben. Freilich unſere großen Städte haben Finanzen, die an die Budgets der größeren Staaten des 16.—18. Jahrhunderts heranreichen: Paris 1801 12, 1860 106, 1888 304 Mill. Francs, Berlin 1889—90 85 Mill. Einnahmen, 75 Mill Mark Ausgaben, Boſton 1889—90 17,8 Mill. Doll. Ausgaben; ſelbſt Städte wie Mainz und Altona haben einen Etat von 3,7 und 4,5 Mill. Mark, mehr als zu Luthers Zeiten ein mächtiger König. Aber dafür bewegen ſich auch die Ausgaben einer Dorfgemeinde und Landſtadt noch immer in den beſcheidenſten Grenzen. — An dieſe ſtatiſtiſch-hiſtoriſchen Größenangaben möchten wir nur ein paar all- gemeine Schlüſſe und Bemerkungen knüpfen. a) Die ältere Vorſtellung, als ob die lokalen kleinen Ortsgemeinden in ihrer Verfaſſung allerwärts das Ältere, Urſprünglichere ſeien, als ob durch deren Zuſammen- faſſung etwa die Staaten ſich gebildet hätten, iſt nicht richtig. Die älteren Stämme und Stammesbündniſſe führten zuerſt zu kleinen Kanton- oder Stadtſtaaten, welche Staat und Lokalgemeinde zugleich waren; innerhalb derſelben brachten es die Orts- gemeinden in älterer Zeit überhaupt nicht zu einem kräftigen Sonderleben, ſondern blieben Teile der Kantone. Erſt im Mittelalter und in der neueren Zeit geſchah dies; es beruht darauf der die ganze neuere Volkswirtſchaft und Staatsverfaſſung beherrſchende Gegenſatz von Stadt und Land, der dem Altertume fehlte. Aber auch in der neueren Entwickelung ſind der Gau, die Markgenoſſenſchaft, die nordamerikaniſche Grafſchaft und township und ähnliche größere Bezirke das Ältere, innerhalb deren erſt nach und nach durch Differenzierung der Zwecke und Organe die kleineren Gemeinden als ſelbſtändige Gebietskörperſchaften entſtanden und von Recht und Staat anerkannt und geordnet wurden. Vollends in unſerem Jahrhundert ſind eine Menge kleinerer und größerer Gebietskörperſchaften abſichtlich durch die Staatsverwaltung und Geſetzgebung geſchaffen worden. Die Vergrößerung der Staaten erfolgte einerſeits durch Bündniſſe ganzer Gebiete und Völker untereinander, andererſeits durch Eroberung, Staatsverträge, fürſtliche Erb- ſchaften, Kaufgeſchäfte fürſtlicher Familien, die meiſt ganze Grundherrſchaften, Graf- ſchaften, Territorien betrafen. Das Charakteriſtiſche des hiſtoriſchen Entwickelungsprozeſſes in Bezug auf die Gebietskörperſchaften iſt der Umſtand, daß je größer die Reiche und Staaten werden, deſto mehr eine komplizierte Hierarchie von größeren und kleineren Körperſchaften über- einander entſteht, die ſich nun in die verſchiedenen Aufgaben des politiſchen und wirt- ſchaftlichen Gemeinſchaftslebens teilen. Je höher die Verfaſſung der Staaten ſich aus- bildet, deſto mehr erhalten die untergeordneten Körperſchaften in gewiſſen, beſonders wirtſchaftlichen Gebieten eine relative Selbſtändigkeit, müſſen dafür aber in anderen

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 285. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/301>, abgerufen am 22.11.2024.