Würdigung der Stadtwirtschaft. Entstehung der Territorial- und Volkswirtschaft.
Schon in den etwas größeren Stadtstaaten des Altertumes, dann in den Klein- und Territorialstaaten der neueren Zeit bis zu 30 und 50000 Geviertkilometern, bis zu 1--500000 Seelen, vollends in den neueren Großstaaten mit ihren weiten Flächen und Millionen Menschen, ihren verschiedenen Landesteilen, kennen sich die Menschen nicht mehr alle persönlich; die Gegenden, die Klassen, die einzelnen Familien und vollends die Geschäfte und Geschäftsgruppen stehen sich mit ihren wirtschaftlichen Sonder- interessen ganz anders gegenüber; der selbstsüchtige Erwerbstrieb spielt in der arbeits- teiligen Gesellschaft nun eine ganz andere Rolle. Und wenn auch bald das lebendige, besonders zu gewisser Zeit die Massen stark beherrschende Nationalgefühl, die gemeinsame Litteratur und Geschichte, der steigende materielle und geistige Verkehr wieder neue sympathische Bindemittel erzeugen, wenn die Einsicht in den Wert der gemeinsamen Staats-, Rechts- und Wirtschaftseinrichtungen nach und nach wächst, so sind die Voraus- setzungen für das gemeinsame wirtschaftliche Leben in diesen viel größeren socialen Körpern doch ganz andere, kompliziertere, schwieriger herzustellende. Die Macht- und Zwangs- organisation der Centralgewalt muß daher viel größer und stärker sein, zumal wo kräftige Gemeingefühle und die Einsicht in die Gesamtinteressen fehlen. Und doch muß den ein- zelnen Familien, Individuen, Unternehmungen, den untergeordneten Gebietskörperschaften ein gewisser Spielraum freier Bethätigung eingeräumt werden, sonst versiegt die frische Spannkraft, die Freude am eigenen Thun und Vorwärtskommen, alles Selbstgefühl. Mag daraus Selbstsucht, Hader, Interessenkonflikt und Kampf aller Art entstehen, das muß in Kauf genommen, durch gewisse feste Rechtsschranken gebändigt, durch gemeinsame öffentliche Einrichtungen überwunden werden. Die getrennten, verselbständigten Elemente müssen in höherer Form wieder vereinigt werden. Aber das ist nicht leicht, ist nur durch schwerfällige, leicht falsch wirkende Institutionen möglich. Jedenfalls aber sind auf die einfachen alten genossenschaftlichen Sympathien wohl kleine sociale Körper von Dutzenden und Hunderten, aber nie solche von Millionen zu begründen. Die Wirtschaft der Staaten muß eine andere viel stärkere Organisation, andere gröbere Züge an sich tragen als die der älteren kleinen socialen Gebilde; sie muß ganz anders auf Macht und Zwang sich stützen können.
In der Ausbildung dieser großen wirtschaftlichen Organisation der neuen Zeit werden wir unterscheiden können: 1. die territoriale Zeit, wobei es sich um Kleinstaaten handelt; sie reicht für fast ganz Europa bis ins 16. und 17. Jahrhundert, für einen Teil Deutschlands, für ganz Italien und die Schweiz bis über die Mitte unseres Jahr- hunderts; 2. die Bildung der großen, meist nationalen Staaten und Volkswirtschaften, die vom 16.--19. Jahrhundert hauptsächlich durch den aufgeklärten Despotismus und seine merkantilistischen Maßregeln hergestellt werden; 3. die Vollendung dieses Prozesses wird von den konstitutionellen und absoluten Staatsgewalten unseres Jahrhunderts über- nommen, wobei es sich darum handelt, das Übermaß centralistischer Leitung des Wirt- schaftslebens zu beseitigen, Gemeinde, Unternehmung und Individuum wieder freieren Spielraum einzuräumen, die nationale, wirtschaftliche Abschließung nach außen zu ermäßigen oder zu beseitigen; es ist eine Bewegung, die 1783--1840 beginnt, von da bis 1875 siegt, teilweise bereits übers Ziel hinausschießt. Seither hat nun eine neue, vierte Epoche begonnen: die Weltwirtschaft greift immer mächtiger in die einzelnen Volkswirtschaften ein; die längst vorhandenen Tendenzen nach Welthandelsherrschaft und Kolonialerwerbung schaffen einige weit über die Größe der bisherigen Nationalstaaten hinausgehende wirtschaftliche Weltreiche, in denen neue Abschließungstendenzen entstehen. Innerhalb der Staaten machen sich die centralen Wirtschaftsaufgaben wieder mehr geltend, die zugespitzten Klassengegensätze und -kämpfe machen eine Wirtschafts- und Socialpolitik nötig, welche eine Versöhnung der merkantilistisch-centralistischen und der individualistisch-liberalen Tendenzen darstellt; das Anwachsen der centralisierten Groß- betriebe und Kartelle bedeutet technischen und organisatorischen wirtschaftlichen Fortschritt, steigert aber die Kämpfe und bedroht teilweise die Staatsgewalt und die übrige Gesell- schaft mit Abhängigkeit; es erwachsen aus all' dem neue Formen des volkswirtschaftlichen, weltwirtschaftlichen und finanziellen Lebens.
Würdigung der Stadtwirtſchaft. Entſtehung der Territorial- und Volkswirtſchaft.
Schon in den etwas größeren Stadtſtaaten des Altertumes, dann in den Klein- und Territorialſtaaten der neueren Zeit bis zu 30 und 50000 Geviertkilometern, bis zu 1—500000 Seelen, vollends in den neueren Großſtaaten mit ihren weiten Flächen und Millionen Menſchen, ihren verſchiedenen Landesteilen, kennen ſich die Menſchen nicht mehr alle perſönlich; die Gegenden, die Klaſſen, die einzelnen Familien und vollends die Geſchäfte und Geſchäftsgruppen ſtehen ſich mit ihren wirtſchaftlichen Sonder- intereſſen ganz anders gegenüber; der ſelbſtſüchtige Erwerbstrieb ſpielt in der arbeits- teiligen Geſellſchaft nun eine ganz andere Rolle. Und wenn auch bald das lebendige, beſonders zu gewiſſer Zeit die Maſſen ſtark beherrſchende Nationalgefühl, die gemeinſame Litteratur und Geſchichte, der ſteigende materielle und geiſtige Verkehr wieder neue ſympathiſche Bindemittel erzeugen, wenn die Einſicht in den Wert der gemeinſamen Staats-, Rechts- und Wirtſchaftseinrichtungen nach und nach wächſt, ſo ſind die Voraus- ſetzungen für das gemeinſame wirtſchaftliche Leben in dieſen viel größeren ſocialen Körpern doch ganz andere, kompliziertere, ſchwieriger herzuſtellende. Die Macht- und Zwangs- organiſation der Centralgewalt muß daher viel größer und ſtärker ſein, zumal wo kräftige Gemeingefühle und die Einſicht in die Geſamtintereſſen fehlen. Und doch muß den ein- zelnen Familien, Individuen, Unternehmungen, den untergeordneten Gebietskörperſchaften ein gewiſſer Spielraum freier Bethätigung eingeräumt werden, ſonſt verſiegt die friſche Spannkraft, die Freude am eigenen Thun und Vorwärtskommen, alles Selbſtgefühl. Mag daraus Selbſtſucht, Hader, Intereſſenkonflikt und Kampf aller Art entſtehen, das muß in Kauf genommen, durch gewiſſe feſte Rechtsſchranken gebändigt, durch gemeinſame öffentliche Einrichtungen überwunden werden. Die getrennten, verſelbſtändigten Elemente müſſen in höherer Form wieder vereinigt werden. Aber das iſt nicht leicht, iſt nur durch ſchwerfällige, leicht falſch wirkende Inſtitutionen möglich. Jedenfalls aber ſind auf die einfachen alten genoſſenſchaftlichen Sympathien wohl kleine ſociale Körper von Dutzenden und Hunderten, aber nie ſolche von Millionen zu begründen. Die Wirtſchaft der Staaten muß eine andere viel ſtärkere Organiſation, andere gröbere Züge an ſich tragen als die der älteren kleinen ſocialen Gebilde; ſie muß ganz anders auf Macht und Zwang ſich ſtützen können.
In der Ausbildung dieſer großen wirtſchaftlichen Organiſation der neuen Zeit werden wir unterſcheiden können: 1. die territoriale Zeit, wobei es ſich um Kleinſtaaten handelt; ſie reicht für faſt ganz Europa bis ins 16. und 17. Jahrhundert, für einen Teil Deutſchlands, für ganz Italien und die Schweiz bis über die Mitte unſeres Jahr- hunderts; 2. die Bildung der großen, meiſt nationalen Staaten und Volkswirtſchaften, die vom 16.—19. Jahrhundert hauptſächlich durch den aufgeklärten Despotismus und ſeine merkantiliſtiſchen Maßregeln hergeſtellt werden; 3. die Vollendung dieſes Prozeſſes wird von den konſtitutionellen und abſoluten Staatsgewalten unſeres Jahrhunderts über- nommen, wobei es ſich darum handelt, das Übermaß centraliſtiſcher Leitung des Wirt- ſchaftslebens zu beſeitigen, Gemeinde, Unternehmung und Individuum wieder freieren Spielraum einzuräumen, die nationale, wirtſchaftliche Abſchließung nach außen zu ermäßigen oder zu beſeitigen; es iſt eine Bewegung, die 1783—1840 beginnt, von da bis 1875 ſiegt, teilweiſe bereits übers Ziel hinausſchießt. Seither hat nun eine neue, vierte Epoche begonnen: die Weltwirtſchaft greift immer mächtiger in die einzelnen Volkswirtſchaften ein; die längſt vorhandenen Tendenzen nach Welthandelsherrſchaft und Kolonialerwerbung ſchaffen einige weit über die Größe der bisherigen Nationalſtaaten hinausgehende wirtſchaftliche Weltreiche, in denen neue Abſchließungstendenzen entſtehen. Innerhalb der Staaten machen ſich die centralen Wirtſchaftsaufgaben wieder mehr geltend, die zugeſpitzten Klaſſengegenſätze und -kämpfe machen eine Wirtſchafts- und Socialpolitik nötig, welche eine Verſöhnung der merkantiliſtiſch-centraliſtiſchen und der individualiſtiſch-liberalen Tendenzen darſtellt; das Anwachſen der centraliſierten Groß- betriebe und Kartelle bedeutet techniſchen und organiſatoriſchen wirtſchaftlichen Fortſchritt, ſteigert aber die Kämpfe und bedroht teilweiſe die Staatsgewalt und die übrige Geſell- ſchaft mit Abhängigkeit; es erwachſen aus all’ dem neue Formen des volkswirtſchaftlichen, weltwirtſchaftlichen und finanziellen Lebens.
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Würdigung der Stadtwirtſchaft. Entſtehung der Territorial- und Volkswirtſchaft.
Schon in den etwas größeren Stadtſtaaten des Altertumes, dann in den Klein-
und Territorialſtaaten der neueren Zeit bis zu 30 und 50000 Geviertkilometern, bis
zu 1—500000 Seelen, vollends in den neueren Großſtaaten mit ihren weiten Flächen
und Millionen Menſchen, ihren verſchiedenen Landesteilen, kennen ſich die Menſchen
nicht mehr alle perſönlich; die Gegenden, die Klaſſen, die einzelnen Familien und
vollends die Geſchäfte und Geſchäftsgruppen ſtehen ſich mit ihren wirtſchaftlichen Sonder-
intereſſen ganz anders gegenüber; der ſelbſtſüchtige Erwerbstrieb ſpielt in der arbeits-
teiligen Geſellſchaft nun eine ganz andere Rolle. Und wenn auch bald das lebendige,
beſonders zu gewiſſer Zeit die Maſſen ſtark beherrſchende Nationalgefühl, die gemeinſame
Litteratur und Geſchichte, der ſteigende materielle und geiſtige Verkehr wieder neue
ſympathiſche Bindemittel erzeugen, wenn die Einſicht in den Wert der gemeinſamen
Staats-, Rechts- und Wirtſchaftseinrichtungen nach und nach wächſt, ſo ſind die Voraus-
ſetzungen für das gemeinſame wirtſchaftliche Leben in dieſen viel größeren ſocialen Körpern
doch ganz andere, kompliziertere, ſchwieriger herzuſtellende. Die Macht- und Zwangs-
organiſation der Centralgewalt muß daher viel größer und ſtärker ſein, zumal wo kräftige
Gemeingefühle und die Einſicht in die Geſamtintereſſen fehlen. Und doch muß den ein-
zelnen Familien, Individuen, Unternehmungen, den untergeordneten Gebietskörperſchaften
ein gewiſſer Spielraum freier Bethätigung eingeräumt werden, ſonſt verſiegt die friſche
Spannkraft, die Freude am eigenen Thun und Vorwärtskommen, alles Selbſtgefühl.
Mag daraus Selbſtſucht, Hader, Intereſſenkonflikt und Kampf aller Art entſtehen, das
muß in Kauf genommen, durch gewiſſe feſte Rechtsſchranken gebändigt, durch gemeinſame
öffentliche Einrichtungen überwunden werden. Die getrennten, verſelbſtändigten Elemente
müſſen in höherer Form wieder vereinigt werden. Aber das iſt nicht leicht, iſt nur
durch ſchwerfällige, leicht falſch wirkende Inſtitutionen möglich. Jedenfalls aber ſind
auf die einfachen alten genoſſenſchaftlichen Sympathien wohl kleine ſociale Körper von
Dutzenden und Hunderten, aber nie ſolche von Millionen zu begründen. Die Wirtſchaft
der Staaten muß eine andere viel ſtärkere Organiſation, andere gröbere Züge an ſich
tragen als die der älteren kleinen ſocialen Gebilde; ſie muß ganz anders auf Macht
und Zwang ſich ſtützen können.
In der Ausbildung dieſer großen wirtſchaftlichen Organiſation der neuen Zeit
werden wir unterſcheiden können: 1. die territoriale Zeit, wobei es ſich um Kleinſtaaten
handelt; ſie reicht für faſt ganz Europa bis ins 16. und 17. Jahrhundert, für einen
Teil Deutſchlands, für ganz Italien und die Schweiz bis über die Mitte unſeres Jahr-
hunderts; 2. die Bildung der großen, meiſt nationalen Staaten und Volkswirtſchaften,
die vom 16.—19. Jahrhundert hauptſächlich durch den aufgeklärten Despotismus und
ſeine merkantiliſtiſchen Maßregeln hergeſtellt werden; 3. die Vollendung dieſes Prozeſſes
wird von den konſtitutionellen und abſoluten Staatsgewalten unſeres Jahrhunderts über-
nommen, wobei es ſich darum handelt, das Übermaß centraliſtiſcher Leitung des Wirt-
ſchaftslebens zu beſeitigen, Gemeinde, Unternehmung und Individuum wieder freieren
Spielraum einzuräumen, die nationale, wirtſchaftliche Abſchließung nach außen zu
ermäßigen oder zu beſeitigen; es iſt eine Bewegung, die 1783—1840 beginnt, von da
bis 1875 ſiegt, teilweiſe bereits übers Ziel hinausſchießt. Seither hat nun eine neue,
vierte Epoche begonnen: die Weltwirtſchaft greift immer mächtiger in die einzelnen
Volkswirtſchaften ein; die längſt vorhandenen Tendenzen nach Welthandelsherrſchaft und
Kolonialerwerbung ſchaffen einige weit über die Größe der bisherigen Nationalſtaaten
hinausgehende wirtſchaftliche Weltreiche, in denen neue Abſchließungstendenzen entſtehen.
Innerhalb der Staaten machen ſich die centralen Wirtſchaftsaufgaben wieder mehr
geltend, die zugeſpitzten Klaſſengegenſätze und -kämpfe machen eine Wirtſchafts- und
Socialpolitik nötig, welche eine Verſöhnung der merkantiliſtiſch-centraliſtiſchen und der
individualiſtiſch-liberalen Tendenzen darſtellt; das Anwachſen der centraliſierten Groß-
betriebe und Kartelle bedeutet techniſchen und organiſatoriſchen wirtſchaftlichen Fortſchritt,
ſteigert aber die Kämpfe und bedroht teilweiſe die Staatsgewalt und die übrige Geſell-
ſchaft mit Abhängigkeit; es erwachſen aus all’ dem neue Formen des volkswirtſchaftlichen,
weltwirtſchaftlichen und finanziellen Lebens.
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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 299. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/315>, abgerufen am 22.11.2024.
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