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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft.
ist. Der öffentliche Haushalt bietet das Werkzeug, die Stadt, das Territorium, den
Staat durch die Zoll- und Handelspolitik in richtige Beziehung zu den Nachbargebieten
und anderen Volkswirtschaften zu bringen; davon wird im letzten Buche näher die Rede
sein. Von den übrigen großen, bisher nicht behandelten Wirtschaftsinstitutionen der
neueren Zeit (z. B. vom Maß- und Gewichtswesen, Münzwesen, Kreditwesen, Bank-
politik etc.) wird weiterhin im einzelnen zu handeln sein. Das Wichtigste, was wir
hier festzuhalten haben, ist die principielle Frage nach den Zwecken der öffentlichen
Haushalte und der öffentlichen Anstalten, da wir im bisherigen mehr die Mittel der
ersteren erörtert haben. Und unter den Zwecken von Staat und Gemeinde stehen für
uns die primären voran, nicht die sekundären, welche bloß um der Einnahmen willen
verfolgt werden. Die Frage spitzt sich darauf zu, welche Ursachen den Gebietskörperschaften
den einen Teil der wirtschaftlichen oder wirtschaftliche Mittel erfordernden Funktionen,
den privatwirtschaftlichen Organen, Familie und Unternehmung, den anderen zugewiesen
haben. Wir werden ein letztes Wort darüber erst nach Untersuchung der Unternehmung
sagen können; hier aber muß das Wichtigste zur Charakterisierung der wirtschaftlichen
Rolle von Staat und Gemeinde beigefügt werden.

Das ursprüngliche Wirtschaftsleben ist auf Ernährung, Kleidung, Wohnung,
Herrichtung gewöhnlicher Werkzeuge, einfache Dienstleistungen gerichtet; alles Derartige
besorgt am einfachsten und billigsten das Individuum, die Familie, die Unternehmung,
welche Produkte oder Dienste für andere auf dem Markte nach dem Princip von Leistung
und Gegenleistung mit Gewinnabsicht verkauft. Wenn nun mit steigender Kultur und
zunehmender Bildung größerer socialer Körper ein Teil der Befriedigung menschlicher Be-
dürfnisse auf die öffentlichen Haushalte und Anstalten, ein anderer aber nicht übergegangen
ist, so muß die Ursache darin liegen, daß von den gesteigerten und differenzierten Be-
dürfnissen ein Teil, der ältere, einfachere, natürlichere, im ganzen doch besser durch die
privatwirtschaftlichen, ein anderer, der spätere, höhere, kompliziertere, besser durch die öffent-
lichen Organe befriedigt wird. Zu jenen Bedürfnissen gehören alle die, welche jeder ohne
weiteres fühlt, die im Gesichtskreise jedes Alltagsmenschen liegen, deren Befriedigungs-
mittel in der Familie und auf dem Markte jeder kennt und durchschnittlich richtig
beurteilen kann; es ist heute so noch der größere Teil aller gewöhnlichen wirtschaftlichen
Bedürfnisse, für welche Familie und Unternehmung Besseres und Billigeres leistet; schon
um ihrer einfacheren Organisation willen sind sie vorzuziehen. In dem Maße aber, als die
höheren, feineren Bedürfnisse wachsen, als es sich um größere sociale Körper, ihre Ein-
richtungen und Wirkungen, die nicht jeder begreift und übersieht, handelt, als vielerlei
Bedürfnisbefriedigung durch die Arbeitsteilung, die socialen Klassenkämpfe, die komplizierte
Einkommensverteilung schwieriger, von vielen Mittelursachen abhängiger wird, als es sich
um ein dichteres Wohnen, um eine höhere, für die Massen oft unverständliche Technik
handelt, als für die Bedürfnisse der Zukunft schon heute gesorgt, als für die Gesamt-
heit der nationalen Existenz, der Volksbildung und Volksgesundheit gehandelt werden
muß, für welche dem Alltagsmenschen in seinem Egoismus das Verständnis fehlt, --
da versagt die Privatwirtschaft, da muß die Gemeinschaft in ihrer Rechts- und Macht-
organisation oder es müssen, wenn sie unfähig ist, stellvertretend Vereine und Korpo-
rationen eintreten, welche das gemeine Wohl, seine Bedürfnisse und Zwecke verstehen. Wir
werden so sagen können, die zunehmende wirtschaftliche Thätigkeit der öffentlichen Organe
sei das Ergebnis der höheren geistigen, moralischen und technischen Kultur überhaupt, des
zunehmenden Sinnes für die zeitlich und örtlich auseinander liegenden Zwecke, sei die
Folge der wachsenden Vergesellschaftung und komplizierteren Staats- und Gesellschafts-
verfassung. Wir werden freilich gleich hinzufügen: diese Bedürfnisse zu erkennen und
zu befriedigen, sei viel schwerer, sei, wie wir sahen, nicht zu ermöglichen ohne gesell-
schaftliche Apparate, welche Mißbrauch, Irrtum, große Kosten, Freiheitsverluste, despotische
Vergewaltigungen in sich schließen. Also werde die Verfolgung dieser Zwecke durch
Staat und Semeinde immer nur dann überwiegend von Segen sein, wenn es gelingt,
über diese Schwierigkeiten einigermaßen Herr zu werden. Gelingt es nicht, so wird
man teils die Zwecke wieder fallen lassen müssen, teils sie Vereinen oder auch der

Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
iſt. Der öffentliche Haushalt bietet das Werkzeug, die Stadt, das Territorium, den
Staat durch die Zoll- und Handelspolitik in richtige Beziehung zu den Nachbargebieten
und anderen Volkswirtſchaften zu bringen; davon wird im letzten Buche näher die Rede
ſein. Von den übrigen großen, bisher nicht behandelten Wirtſchaftsinſtitutionen der
neueren Zeit (z. B. vom Maß- und Gewichtsweſen, Münzweſen, Kreditweſen, Bank-
politik ꝛc.) wird weiterhin im einzelnen zu handeln ſein. Das Wichtigſte, was wir
hier feſtzuhalten haben, iſt die principielle Frage nach den Zwecken der öffentlichen
Haushalte und der öffentlichen Anſtalten, da wir im bisherigen mehr die Mittel der
erſteren erörtert haben. Und unter den Zwecken von Staat und Gemeinde ſtehen für
uns die primären voran, nicht die ſekundären, welche bloß um der Einnahmen willen
verfolgt werden. Die Frage ſpitzt ſich darauf zu, welche Urſachen den Gebietskörperſchaften
den einen Teil der wirtſchaftlichen oder wirtſchaftliche Mittel erfordernden Funktionen,
den privatwirtſchaftlichen Organen, Familie und Unternehmung, den anderen zugewieſen
haben. Wir werden ein letztes Wort darüber erſt nach Unterſuchung der Unternehmung
ſagen können; hier aber muß das Wichtigſte zur Charakteriſierung der wirtſchaftlichen
Rolle von Staat und Gemeinde beigefügt werden.

Das urſprüngliche Wirtſchaftsleben iſt auf Ernährung, Kleidung, Wohnung,
Herrichtung gewöhnlicher Werkzeuge, einfache Dienſtleiſtungen gerichtet; alles Derartige
beſorgt am einfachſten und billigſten das Individuum, die Familie, die Unternehmung,
welche Produkte oder Dienſte für andere auf dem Markte nach dem Princip von Leiſtung
und Gegenleiſtung mit Gewinnabſicht verkauft. Wenn nun mit ſteigender Kultur und
zunehmender Bildung größerer ſocialer Körper ein Teil der Befriedigung menſchlicher Be-
dürfniſſe auf die öffentlichen Haushalte und Anſtalten, ein anderer aber nicht übergegangen
iſt, ſo muß die Urſache darin liegen, daß von den geſteigerten und differenzierten Be-
dürfniſſen ein Teil, der ältere, einfachere, natürlichere, im ganzen doch beſſer durch die
privatwirtſchaftlichen, ein anderer, der ſpätere, höhere, kompliziertere, beſſer durch die öffent-
lichen Organe befriedigt wird. Zu jenen Bedürfniſſen gehören alle die, welche jeder ohne
weiteres fühlt, die im Geſichtskreiſe jedes Alltagsmenſchen liegen, deren Befriedigungs-
mittel in der Familie und auf dem Markte jeder kennt und durchſchnittlich richtig
beurteilen kann; es iſt heute ſo noch der größere Teil aller gewöhnlichen wirtſchaftlichen
Bedürfniſſe, für welche Familie und Unternehmung Beſſeres und Billigeres leiſtet; ſchon
um ihrer einfacheren Organiſation willen ſind ſie vorzuziehen. In dem Maße aber, als die
höheren, feineren Bedürfniſſe wachſen, als es ſich um größere ſociale Körper, ihre Ein-
richtungen und Wirkungen, die nicht jeder begreift und überſieht, handelt, als vielerlei
Bedürfnisbefriedigung durch die Arbeitsteilung, die ſocialen Klaſſenkämpfe, die komplizierte
Einkommensverteilung ſchwieriger, von vielen Mittelurſachen abhängiger wird, als es ſich
um ein dichteres Wohnen, um eine höhere, für die Maſſen oft unverſtändliche Technik
handelt, als für die Bedürfniſſe der Zukunft ſchon heute geſorgt, als für die Geſamt-
heit der nationalen Exiſtenz, der Volksbildung und Volksgeſundheit gehandelt werden
muß, für welche dem Alltagsmenſchen in ſeinem Egoismus das Verſtändnis fehlt, —
da verſagt die Privatwirtſchaft, da muß die Gemeinſchaft in ihrer Rechts- und Macht-
organiſation oder es müſſen, wenn ſie unfähig iſt, ſtellvertretend Vereine und Korpo-
rationen eintreten, welche das gemeine Wohl, ſeine Bedürfniſſe und Zwecke verſtehen. Wir
werden ſo ſagen können, die zunehmende wirtſchaftliche Thätigkeit der öffentlichen Organe
ſei das Ergebnis der höheren geiſtigen, moraliſchen und techniſchen Kultur überhaupt, des
zunehmenden Sinnes für die zeitlich und örtlich auseinander liegenden Zwecke, ſei die
Folge der wachſenden Vergeſellſchaftung und komplizierteren Staats- und Geſellſchafts-
verfaſſung. Wir werden freilich gleich hinzufügen: dieſe Bedürfniſſe zu erkennen und
zu befriedigen, ſei viel ſchwerer, ſei, wie wir ſahen, nicht zu ermöglichen ohne geſell-
ſchaftliche Apparate, welche Mißbrauch, Irrtum, große Koſten, Freiheitsverluſte, despotiſche
Vergewaltigungen in ſich ſchließen. Alſo werde die Verfolgung dieſer Zwecke durch
Staat und Semeinde immer nur dann überwiegend von Segen ſein, wenn es gelingt,
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[318/0334] Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft. iſt. Der öffentliche Haushalt bietet das Werkzeug, die Stadt, das Territorium, den Staat durch die Zoll- und Handelspolitik in richtige Beziehung zu den Nachbargebieten und anderen Volkswirtſchaften zu bringen; davon wird im letzten Buche näher die Rede ſein. Von den übrigen großen, bisher nicht behandelten Wirtſchaftsinſtitutionen der neueren Zeit (z. B. vom Maß- und Gewichtsweſen, Münzweſen, Kreditweſen, Bank- politik ꝛc.) wird weiterhin im einzelnen zu handeln ſein. Das Wichtigſte, was wir hier feſtzuhalten haben, iſt die principielle Frage nach den Zwecken der öffentlichen Haushalte und der öffentlichen Anſtalten, da wir im bisherigen mehr die Mittel der erſteren erörtert haben. Und unter den Zwecken von Staat und Gemeinde ſtehen für uns die primären voran, nicht die ſekundären, welche bloß um der Einnahmen willen verfolgt werden. Die Frage ſpitzt ſich darauf zu, welche Urſachen den Gebietskörperſchaften den einen Teil der wirtſchaftlichen oder wirtſchaftliche Mittel erfordernden Funktionen, den privatwirtſchaftlichen Organen, Familie und Unternehmung, den anderen zugewieſen haben. Wir werden ein letztes Wort darüber erſt nach Unterſuchung der Unternehmung ſagen können; hier aber muß das Wichtigſte zur Charakteriſierung der wirtſchaftlichen Rolle von Staat und Gemeinde beigefügt werden. Das urſprüngliche Wirtſchaftsleben iſt auf Ernährung, Kleidung, Wohnung, Herrichtung gewöhnlicher Werkzeuge, einfache Dienſtleiſtungen gerichtet; alles Derartige beſorgt am einfachſten und billigſten das Individuum, die Familie, die Unternehmung, welche Produkte oder Dienſte für andere auf dem Markte nach dem Princip von Leiſtung und Gegenleiſtung mit Gewinnabſicht verkauft. Wenn nun mit ſteigender Kultur und zunehmender Bildung größerer ſocialer Körper ein Teil der Befriedigung menſchlicher Be- dürfniſſe auf die öffentlichen Haushalte und Anſtalten, ein anderer aber nicht übergegangen iſt, ſo muß die Urſache darin liegen, daß von den geſteigerten und differenzierten Be- dürfniſſen ein Teil, der ältere, einfachere, natürlichere, im ganzen doch beſſer durch die privatwirtſchaftlichen, ein anderer, der ſpätere, höhere, kompliziertere, beſſer durch die öffent- lichen Organe befriedigt wird. Zu jenen Bedürfniſſen gehören alle die, welche jeder ohne weiteres fühlt, die im Geſichtskreiſe jedes Alltagsmenſchen liegen, deren Befriedigungs- mittel in der Familie und auf dem Markte jeder kennt und durchſchnittlich richtig beurteilen kann; es iſt heute ſo noch der größere Teil aller gewöhnlichen wirtſchaftlichen Bedürfniſſe, für welche Familie und Unternehmung Beſſeres und Billigeres leiſtet; ſchon um ihrer einfacheren Organiſation willen ſind ſie vorzuziehen. In dem Maße aber, als die höheren, feineren Bedürfniſſe wachſen, als es ſich um größere ſociale Körper, ihre Ein- richtungen und Wirkungen, die nicht jeder begreift und überſieht, handelt, als vielerlei Bedürfnisbefriedigung durch die Arbeitsteilung, die ſocialen Klaſſenkämpfe, die komplizierte Einkommensverteilung ſchwieriger, von vielen Mittelurſachen abhängiger wird, als es ſich um ein dichteres Wohnen, um eine höhere, für die Maſſen oft unverſtändliche Technik handelt, als für die Bedürfniſſe der Zukunft ſchon heute geſorgt, als für die Geſamt- heit der nationalen Exiſtenz, der Volksbildung und Volksgeſundheit gehandelt werden muß, für welche dem Alltagsmenſchen in ſeinem Egoismus das Verſtändnis fehlt, — da verſagt die Privatwirtſchaft, da muß die Gemeinſchaft in ihrer Rechts- und Macht- organiſation oder es müſſen, wenn ſie unfähig iſt, ſtellvertretend Vereine und Korpo- rationen eintreten, welche das gemeine Wohl, ſeine Bedürfniſſe und Zwecke verſtehen. Wir werden ſo ſagen können, die zunehmende wirtſchaftliche Thätigkeit der öffentlichen Organe ſei das Ergebnis der höheren geiſtigen, moraliſchen und techniſchen Kultur überhaupt, des zunehmenden Sinnes für die zeitlich und örtlich auseinander liegenden Zwecke, ſei die Folge der wachſenden Vergeſellſchaftung und komplizierteren Staats- und Geſellſchafts- verfaſſung. Wir werden freilich gleich hinzufügen: dieſe Bedürfniſſe zu erkennen und zu befriedigen, ſei viel ſchwerer, ſei, wie wir ſahen, nicht zu ermöglichen ohne geſell- ſchaftliche Apparate, welche Mißbrauch, Irrtum, große Koſten, Freiheitsverluſte, despotiſche Vergewaltigungen in ſich ſchließen. Alſo werde die Verfolgung dieſer Zwecke durch Staat und Semeinde immer nur dann überwiegend von Segen ſein, wenn es gelingt, über dieſe Schwierigkeiten einigermaßen Herr zu werden. Gelingt es nicht, ſo wird man teils die Zwecke wieder fallen laſſen müſſen, teils ſie Vereinen oder auch der

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/334>, abgerufen am 22.11.2024.