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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

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Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft.

Die Arbeitsteilung ist eine und vielleicht die wichtigste Erscheinung des gesellschaft-
lichen Lebens, sie trennt und verknüpft die Menschen politisch, geistig, wirtschaftlich und
zwar in dem Maße, wie die Kultur steigt, die gesellschaftlichen Körper größer und ver-
schlungener werden. Die Stämme roher, primitiver Menschen zeigen wenig körperliche
und geistige Verschiedenheit; jeder lebt, nährt sich wie der andere, stellt seine Kleider
und Geräte wie der andere her; auch der Häuptling führt alle die kleinen Verrichtungen
für seinen eigenen Bedarf aus wie der letzte Stammesgenosse; selbst Mann und Frau
unterscheiden sich nicht viel in ihrer wirtschaftlichen Lebensfürsorge, so lange jedes auf
sich angewiesen ist. Sobald nun zu gewissen Arbeiten mehrere zusammentreten, sei es
der Geselligkeit, sei es der Größe und Krafterfordernis der Aufgaben wegen, entsteht
eine gewisse Vergesellschaftung; die Sippen in ihrer Thätigkeit, auch die Familien, später
Nachbarn und Arbeitsgenossenschaften, die ältere Kriegsverfassung, manche Arbeiten, die
mit der Feldgemeinschaft sich ergeben, führen zu solcher Gemeinschaft der Arbeit; Bücher
hat sie neuerdings zu beschreiben und zu klassifizieren gesucht. Aber sie erzeugen zunächst
nur die Gemeinsamkeit der gleichen, oft im Rhythmus verrichteten Arbeit, die nicht
differenziert, meist nur vorübergehend die Menschen in Beschlag nimmt. Sobald aber
einer befiehlt, die anderen gehorchen, sobald die Frau den Hackbau treibt, der Mann
jagt, sobald ein Teil der Männer Eisen schmilzt und Geräte fertigt, der andere den
Acker baut, sind die Anfänge der Arbeitsteilung und eine höhere Form der Organisie-
rung der gesellschaftlichen Gruppen vorhanden.

Alle Arbeitsteilung knüpft an gewisse geistige, moralische, kriegerische, technische
Fortschritte an. Aber nicht jeder solche Fortschritt erzeugt sofort Arbeitsteilung. Die
meisten Verbesserungen menschlichen Thuns, menschlicher Arbeitsmethoden fügen sich
zunächst in die hergebrachte Lebensweise der betreffenden so ein, daß sie zu einer zeit-
weise geübten Funktion ihres täglichen Lebens und Treibens werden. Das Feuer, die
Werkzeuge, die Tierzähmung, die Künste des Kochens, Spinnens und Webens sind Jahr-
tausende lang von allen oder den meisten Gliedern unzähliger Stämme so ausgeübt worden,
ohne zu einer Arbeitsteilung Anlaß zu geben. Jahrhunderte lang war der römische
Bauer zugleich Soldat, der römische Großgrundbesitzer nebenher Priester, Jurist, Offizier
und Kaufmann. Die ausgebildete Haus- und Eigenwirtschaft der indogermanischen und
semitischen Völker umfaßte lange Ackerbau, Viehzucht und gewerbliche Künste aller
Art, wie heute noch die der norwegischen und anderer isolierter Bauern. Bis in die
Gegenwart bleibt überall ein Teil alles wirtschaftlichen und Kulturfortschrittes auf das
Ziel gerichtet, in den Thätigkeitskreis der Individuen und Familien so weitere Einzel-
heiten und Verbesserungen einzufügen, die mit der bestehenden Lebensweise sich vertragen.
Die Arbeitsteilung setzt erst da ein, wo ein Teilstück einer Lebenssphäre so anwächst,
daß es nicht mehr Glied derselben bleiben kann, daß es seinen eigenen Mann fordert,
wo die Einfügung neuer Operationen und Thätigkeiten ins hergebrachte Leben nicht
geht, zu schlechte Resultate liefert, wo man für die neue Thätigkeit einen freiwilligen oder
erzwungenen Vertreter und eine ernährende Lebensstellung für ihn findet oder eine solche
schaffen kann. Das Leben derer, für die der arbeitsteilig Fungierende nun eine Arbeit über-
nimmt, wird meist nicht allzuviel verändert, es wird nur an einzelnen Punkten entlastet.
Aber der, welcher den Teilinhalt nun zu seiner Lebensaufgabe macht, muß seine Lebens-
weise gänzlich umgestalten. Zwar muß auch er für seine und seiner Familie Wirtschaft
und Lebenszwecke eine gewisse Zeit und Kraft behalten, denn gewisse unveräußerliche
Eigenzwecke kann niemand aufgeben, aber sie werden eingeschränkt, müssen sich mit seiner
neuen Thätigkeit für andere vertragen.

Jeder Fortschritt der Arbeitsteilung verläuft so in Kompromissen zwischen dem
Alten und dem Neuen, zwischen der bisherigen Vielseitigkeit der Arbeit und der Speciali-
sierung. Was früher allgemein und selbstverständlich in der Wirtschaftsführung der
Familie, der Gemeinde, einer Unternehmung verbunden war, ist nun eine getrennte
Funktion von zweien oder mehreren, und wenn sich diese Scheidung eingelebt hat, so
erscheint sie nun von diesem Standpunkte als etwas, dessen Verbindung, wo sie noch
besteht, überrascht, als rückständig erscheint. Und doch hatte die ältere Verbindung oft

Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.

Die Arbeitsteilung iſt eine und vielleicht die wichtigſte Erſcheinung des geſellſchaft-
lichen Lebens, ſie trennt und verknüpft die Menſchen politiſch, geiſtig, wirtſchaftlich und
zwar in dem Maße, wie die Kultur ſteigt, die geſellſchaftlichen Körper größer und ver-
ſchlungener werden. Die Stämme roher, primitiver Menſchen zeigen wenig körperliche
und geiſtige Verſchiedenheit; jeder lebt, nährt ſich wie der andere, ſtellt ſeine Kleider
und Geräte wie der andere her; auch der Häuptling führt alle die kleinen Verrichtungen
für ſeinen eigenen Bedarf aus wie der letzte Stammesgenoſſe; ſelbſt Mann und Frau
unterſcheiden ſich nicht viel in ihrer wirtſchaftlichen Lebensfürſorge, ſo lange jedes auf
ſich angewieſen iſt. Sobald nun zu gewiſſen Arbeiten mehrere zuſammentreten, ſei es
der Geſelligkeit, ſei es der Größe und Krafterfordernis der Aufgaben wegen, entſteht
eine gewiſſe Vergeſellſchaftung; die Sippen in ihrer Thätigkeit, auch die Familien, ſpäter
Nachbarn und Arbeitsgenoſſenſchaften, die ältere Kriegsverfaſſung, manche Arbeiten, die
mit der Feldgemeinſchaft ſich ergeben, führen zu ſolcher Gemeinſchaft der Arbeit; Bücher
hat ſie neuerdings zu beſchreiben und zu klaſſifizieren geſucht. Aber ſie erzeugen zunächſt
nur die Gemeinſamkeit der gleichen, oft im Rhythmus verrichteten Arbeit, die nicht
differenziert, meiſt nur vorübergehend die Menſchen in Beſchlag nimmt. Sobald aber
einer befiehlt, die anderen gehorchen, ſobald die Frau den Hackbau treibt, der Mann
jagt, ſobald ein Teil der Männer Eiſen ſchmilzt und Geräte fertigt, der andere den
Acker baut, ſind die Anfänge der Arbeitsteilung und eine höhere Form der Organiſie-
rung der geſellſchaftlichen Gruppen vorhanden.

Alle Arbeitsteilung knüpft an gewiſſe geiſtige, moraliſche, kriegeriſche, techniſche
Fortſchritte an. Aber nicht jeder ſolche Fortſchritt erzeugt ſofort Arbeitsteilung. Die
meiſten Verbeſſerungen menſchlichen Thuns, menſchlicher Arbeitsmethoden fügen ſich
zunächſt in die hergebrachte Lebensweiſe der betreffenden ſo ein, daß ſie zu einer zeit-
weiſe geübten Funktion ihres täglichen Lebens und Treibens werden. Das Feuer, die
Werkzeuge, die Tierzähmung, die Künſte des Kochens, Spinnens und Webens ſind Jahr-
tauſende lang von allen oder den meiſten Gliedern unzähliger Stämme ſo ausgeübt worden,
ohne zu einer Arbeitsteilung Anlaß zu geben. Jahrhunderte lang war der römiſche
Bauer zugleich Soldat, der römiſche Großgrundbeſitzer nebenher Prieſter, Juriſt, Offizier
und Kaufmann. Die ausgebildete Haus- und Eigenwirtſchaft der indogermaniſchen und
ſemitiſchen Völker umfaßte lange Ackerbau, Viehzucht und gewerbliche Künſte aller
Art, wie heute noch die der norwegiſchen und anderer iſolierter Bauern. Bis in die
Gegenwart bleibt überall ein Teil alles wirtſchaftlichen und Kulturfortſchrittes auf das
Ziel gerichtet, in den Thätigkeitskreis der Individuen und Familien ſo weitere Einzel-
heiten und Verbeſſerungen einzufügen, die mit der beſtehenden Lebensweiſe ſich vertragen.
Die Arbeitsteilung ſetzt erſt da ein, wo ein Teilſtück einer Lebensſphäre ſo anwächſt,
daß es nicht mehr Glied derſelben bleiben kann, daß es ſeinen eigenen Mann fordert,
wo die Einfügung neuer Operationen und Thätigkeiten ins hergebrachte Leben nicht
geht, zu ſchlechte Reſultate liefert, wo man für die neue Thätigkeit einen freiwilligen oder
erzwungenen Vertreter und eine ernährende Lebensſtellung für ihn findet oder eine ſolche
ſchaffen kann. Das Leben derer, für die der arbeitsteilig Fungierende nun eine Arbeit über-
nimmt, wird meiſt nicht allzuviel verändert, es wird nur an einzelnen Punkten entlaſtet.
Aber der, welcher den Teilinhalt nun zu ſeiner Lebensaufgabe macht, muß ſeine Lebens-
weiſe gänzlich umgeſtalten. Zwar muß auch er für ſeine und ſeiner Familie Wirtſchaft
und Lebenszwecke eine gewiſſe Zeit und Kraft behalten, denn gewiſſe unveräußerliche
Eigenzwecke kann niemand aufgeben, aber ſie werden eingeſchränkt, müſſen ſich mit ſeiner
neuen Thätigkeit für andere vertragen.

Jeder Fortſchritt der Arbeitsteilung verläuft ſo in Kompromiſſen zwiſchen dem
Alten und dem Neuen, zwiſchen der bisherigen Vielſeitigkeit der Arbeit und der Speciali-
ſierung. Was früher allgemein und ſelbſtverſtändlich in der Wirtſchaftsführung der
Familie, der Gemeinde, einer Unternehmung verbunden war, iſt nun eine getrennte
Funktion von zweien oder mehreren, und wenn ſich dieſe Scheidung eingelebt hat, ſo
erſcheint ſie nun von dieſem Standpunkte als etwas, deſſen Verbindung, wo ſie noch
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[326/0342] Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft. Die Arbeitsteilung iſt eine und vielleicht die wichtigſte Erſcheinung des geſellſchaft- lichen Lebens, ſie trennt und verknüpft die Menſchen politiſch, geiſtig, wirtſchaftlich und zwar in dem Maße, wie die Kultur ſteigt, die geſellſchaftlichen Körper größer und ver- ſchlungener werden. Die Stämme roher, primitiver Menſchen zeigen wenig körperliche und geiſtige Verſchiedenheit; jeder lebt, nährt ſich wie der andere, ſtellt ſeine Kleider und Geräte wie der andere her; auch der Häuptling führt alle die kleinen Verrichtungen für ſeinen eigenen Bedarf aus wie der letzte Stammesgenoſſe; ſelbſt Mann und Frau unterſcheiden ſich nicht viel in ihrer wirtſchaftlichen Lebensfürſorge, ſo lange jedes auf ſich angewieſen iſt. Sobald nun zu gewiſſen Arbeiten mehrere zuſammentreten, ſei es der Geſelligkeit, ſei es der Größe und Krafterfordernis der Aufgaben wegen, entſteht eine gewiſſe Vergeſellſchaftung; die Sippen in ihrer Thätigkeit, auch die Familien, ſpäter Nachbarn und Arbeitsgenoſſenſchaften, die ältere Kriegsverfaſſung, manche Arbeiten, die mit der Feldgemeinſchaft ſich ergeben, führen zu ſolcher Gemeinſchaft der Arbeit; Bücher hat ſie neuerdings zu beſchreiben und zu klaſſifizieren geſucht. Aber ſie erzeugen zunächſt nur die Gemeinſamkeit der gleichen, oft im Rhythmus verrichteten Arbeit, die nicht differenziert, meiſt nur vorübergehend die Menſchen in Beſchlag nimmt. Sobald aber einer befiehlt, die anderen gehorchen, ſobald die Frau den Hackbau treibt, der Mann jagt, ſobald ein Teil der Männer Eiſen ſchmilzt und Geräte fertigt, der andere den Acker baut, ſind die Anfänge der Arbeitsteilung und eine höhere Form der Organiſie- rung der geſellſchaftlichen Gruppen vorhanden. Alle Arbeitsteilung knüpft an gewiſſe geiſtige, moraliſche, kriegeriſche, techniſche Fortſchritte an. Aber nicht jeder ſolche Fortſchritt erzeugt ſofort Arbeitsteilung. Die meiſten Verbeſſerungen menſchlichen Thuns, menſchlicher Arbeitsmethoden fügen ſich zunächſt in die hergebrachte Lebensweiſe der betreffenden ſo ein, daß ſie zu einer zeit- weiſe geübten Funktion ihres täglichen Lebens und Treibens werden. Das Feuer, die Werkzeuge, die Tierzähmung, die Künſte des Kochens, Spinnens und Webens ſind Jahr- tauſende lang von allen oder den meiſten Gliedern unzähliger Stämme ſo ausgeübt worden, ohne zu einer Arbeitsteilung Anlaß zu geben. Jahrhunderte lang war der römiſche Bauer zugleich Soldat, der römiſche Großgrundbeſitzer nebenher Prieſter, Juriſt, Offizier und Kaufmann. Die ausgebildete Haus- und Eigenwirtſchaft der indogermaniſchen und ſemitiſchen Völker umfaßte lange Ackerbau, Viehzucht und gewerbliche Künſte aller Art, wie heute noch die der norwegiſchen und anderer iſolierter Bauern. Bis in die Gegenwart bleibt überall ein Teil alles wirtſchaftlichen und Kulturfortſchrittes auf das Ziel gerichtet, in den Thätigkeitskreis der Individuen und Familien ſo weitere Einzel- heiten und Verbeſſerungen einzufügen, die mit der beſtehenden Lebensweiſe ſich vertragen. Die Arbeitsteilung ſetzt erſt da ein, wo ein Teilſtück einer Lebensſphäre ſo anwächſt, daß es nicht mehr Glied derſelben bleiben kann, daß es ſeinen eigenen Mann fordert, wo die Einfügung neuer Operationen und Thätigkeiten ins hergebrachte Leben nicht geht, zu ſchlechte Reſultate liefert, wo man für die neue Thätigkeit einen freiwilligen oder erzwungenen Vertreter und eine ernährende Lebensſtellung für ihn findet oder eine ſolche ſchaffen kann. Das Leben derer, für die der arbeitsteilig Fungierende nun eine Arbeit über- nimmt, wird meiſt nicht allzuviel verändert, es wird nur an einzelnen Punkten entlaſtet. Aber der, welcher den Teilinhalt nun zu ſeiner Lebensaufgabe macht, muß ſeine Lebens- weiſe gänzlich umgeſtalten. Zwar muß auch er für ſeine und ſeiner Familie Wirtſchaft und Lebenszwecke eine gewiſſe Zeit und Kraft behalten, denn gewiſſe unveräußerliche Eigenzwecke kann niemand aufgeben, aber ſie werden eingeſchränkt, müſſen ſich mit ſeiner neuen Thätigkeit für andere vertragen. Jeder Fortſchritt der Arbeitsteilung verläuft ſo in Kompromiſſen zwiſchen dem Alten und dem Neuen, zwiſchen der bisherigen Vielſeitigkeit der Arbeit und der Speciali- ſierung. Was früher allgemein und ſelbſtverſtändlich in der Wirtſchaftsführung der Familie, der Gemeinde, einer Unternehmung verbunden war, iſt nun eine getrennte Funktion von zweien oder mehreren, und wenn ſich dieſe Scheidung eingelebt hat, ſo erſcheint ſie nun von dieſem Standpunkte als etwas, deſſen Verbindung, wo ſie noch beſteht, überraſcht, als rückſtändig erſcheint. Und doch hatte die ältere Verbindung oft

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Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/342>, abgerufen am 22.11.2024.