Die neuere Handelsentwickelung, ihre Arbeitsentwickelung und Bedeutung.
gesunde und große Grundaristokratie, eine ausgebildete Heeres- und Beamtenverfassung ist, existieren noch starke Gegengewichte, welche ihren monopolartigen Einfluß in der Volkswirtschaft und Gesetzgebung, sowie im Staatsleben im ganzen hemmen, ihren großen Gewinnen gewisse Schranken setzen.
Die höhere Schicht der kaufmännischen Welt stützt sich auf ihren beweglichen Kapitalbesitz, wie die Grundaristokratie auf ihren Grundbesitz. Aber es ist eine sehr schiefe Auffassung, aus dem Kapital an sich alles heute abzuleiten, was Folge der technischen, geistigen und moralischen Eigenschaften der Kaufleute, was das Ergebnis ihrer Marktkenntnis und -beherrschung, ihrer Organisation, ihres teilweise vorhandenen Monopolbesitzes der Geschäftsformen und Geschäftsgeheimnisse ist. Ihre Stellung in der modernen Volkswirtschaft hat man lange von der günstigsten Seite, neuerdings unter dem Eindrucke gewisser Mißbräuche und Entartungen, auch unter dem Einflusse socia- listischer Theorien vielfach überwiegend zu ungünstig be- und verurteilt. Gewiß kann der habsüchtige Handelsgeist entarten, in herrschsüchtiger Monopolstellung für Volks- wirtschaft und Staat große Gefahren bringen. Aber nie sollte man dabei übersehen, daß die arbeitsteilige Ausbildung des Handelsstandes der Fortschritt ist, der unsere moderne Volks- und Weltwirtschaft schuf. Und stets sollte man sich klar sein, daß dieser Handelsgeist je nach den Menschen, ihren Gefühlen und Sitten, ihrer Moral und Rasse etwas sehr Verschiedenes sein kann. Eine fortschreitende Versittlichung der Geschäftsformen kann die Auswüchse des egoistischen Handelsgeistes abschneiden; ein reeller Geschäfts- verkehr, eine steigende Ehrlichkeit und Anständigkeit in Handel und Wandel kann Platz greifen; durch Staats- und Kommunalbanken, durch Genossenschaften und Vereine, die wirtschaftliche Funktionen übernehmen, teilweise auch durch das Aktienwesen und seine Beamten kommt in einen Teil des Geschäftslebens ein anderer, zugleich auf Gesamt- interessen gerichteter Geist. Die großen Organisationen der Industrie und der Land- wirtschaft haben sich teilweise schon von der Vorherrschaft des Händlertums befreit. Alle Gefahren wucherischer Ausbeutung der übrigen Volksklassen und des Staates durch die Händler werden in dem Maße zurückgedrängt, wie das ganze Volk die modernen Handels- und Kreditformen erlernt und beherrscht.
Für das Verständnis der neueren politischen und volkswirtschaftlichen Entwicke- lung der Kulturvölker ist es eine Erscheinung von größter Bedeutung, daß von den drei bisher geschilderten, durch Arbeitsteilung entstandenen aristokratischen Gruppen der Gesellschaft die beiden ersteren, die Priester und Krieger, wenn nicht verschwunden, so doch ihrer Übermacht entkleidet sind; ihre Berufe dauern in wesentlich anderen gesell- schaftlichen Formen heute fort. Wohl giebt es noch Staaten mit starker Priesterschaft; aber die höher civilisierten, besonders die protestantischen, haben eine Geistlichkeit, einen Lehrerstand ohne wirtschaftliche Vorrechte und Übermacht. Wohl giebt es noch Militär- staaten, wie Preußen, aber der Offiziersstand herrscht nicht, rekrutiert sich aus allen Kreisen der Gebildeten; die allgemeine Wehrpflicht hat das proletarische Söldnerberufs- heer mit seiner einseitigen Arbeitsteilung abgelöst.
Die Handelsaristokratie der Gegenwart konnte und kann nicht ebenso verschwinden, weil ihre arbeitsteilige Funktion, die Leitung und Regulierung der wirtschaftlichen Pro- duktion, der Verteilung der Güter erst in den letzten 2--3 Jahrhunderten entstand und heute unentbehrlich ist. Wäre der Handel aller Zwischenhändler so entbehrlich, wie die Socialisten meinen, verdienten die kaufmännischen Fabrikleiter ihre Gewinne nur mit demselben Rechtstitel wie die Jungen, die über die Mauer steigen, um Äpfel zu stehlen (Kautsky), dann wäre diese Handelsaristokratie auch schon verschwunden. Sie wird bleiben, so lange sie am besten große und wichtige Funktionen der Volkswirtschaft versieht. Aber ihre einseitige Herrschaft wird abnehmen, wie wir eben schon andeuteten. --
116. Die Entstehung eines Arbeiterstandes. Sklaverei, Leibeigen- schaft. Die drei Gruppen der Gesellschaft: Priester, Krieger, Händler, bleiben die Grundtypen aller Aristokratie. Die betreffenden Individuen und Gesellschaftsgruppen steigen durch eigentümliche Kräfte und Vorzüge empor, erreichen durch sie die größere
Schmoller, Grundriß der Volkswirtschaftslehre. I. 22
Die neuere Handelsentwickelung, ihre Arbeitsentwickelung und Bedeutung.
geſunde und große Grundariſtokratie, eine ausgebildete Heeres- und Beamtenverfaſſung iſt, exiſtieren noch ſtarke Gegengewichte, welche ihren monopolartigen Einfluß in der Volkswirtſchaft und Geſetzgebung, ſowie im Staatsleben im ganzen hemmen, ihren großen Gewinnen gewiſſe Schranken ſetzen.
Die höhere Schicht der kaufmänniſchen Welt ſtützt ſich auf ihren beweglichen Kapitalbeſitz, wie die Grundariſtokratie auf ihren Grundbeſitz. Aber es iſt eine ſehr ſchiefe Auffaſſung, aus dem Kapital an ſich alles heute abzuleiten, was Folge der techniſchen, geiſtigen und moraliſchen Eigenſchaften der Kaufleute, was das Ergebnis ihrer Marktkenntnis und -beherrſchung, ihrer Organiſation, ihres teilweiſe vorhandenen Monopolbeſitzes der Geſchäftsformen und Geſchäftsgeheimniſſe iſt. Ihre Stellung in der modernen Volkswirtſchaft hat man lange von der günſtigſten Seite, neuerdings unter dem Eindrucke gewiſſer Mißbräuche und Entartungen, auch unter dem Einfluſſe ſocia- liſtiſcher Theorien vielfach überwiegend zu ungünſtig be- und verurteilt. Gewiß kann der habſüchtige Handelsgeiſt entarten, in herrſchſüchtiger Monopolſtellung für Volks- wirtſchaft und Staat große Gefahren bringen. Aber nie ſollte man dabei überſehen, daß die arbeitsteilige Ausbildung des Handelsſtandes der Fortſchritt iſt, der unſere moderne Volks- und Weltwirtſchaft ſchuf. Und ſtets ſollte man ſich klar ſein, daß dieſer Handelsgeiſt je nach den Menſchen, ihren Gefühlen und Sitten, ihrer Moral und Raſſe etwas ſehr Verſchiedenes ſein kann. Eine fortſchreitende Verſittlichung der Geſchäftsformen kann die Auswüchſe des egoiſtiſchen Handelsgeiſtes abſchneiden; ein reeller Geſchäfts- verkehr, eine ſteigende Ehrlichkeit und Anſtändigkeit in Handel und Wandel kann Platz greifen; durch Staats- und Kommunalbanken, durch Genoſſenſchaften und Vereine, die wirtſchaftliche Funktionen übernehmen, teilweiſe auch durch das Aktienweſen und ſeine Beamten kommt in einen Teil des Geſchäftslebens ein anderer, zugleich auf Geſamt- intereſſen gerichteter Geiſt. Die großen Organiſationen der Induſtrie und der Land- wirtſchaft haben ſich teilweiſe ſchon von der Vorherrſchaft des Händlertums befreit. Alle Gefahren wucheriſcher Ausbeutung der übrigen Volksklaſſen und des Staates durch die Händler werden in dem Maße zurückgedrängt, wie das ganze Volk die modernen Handels- und Kreditformen erlernt und beherrſcht.
Für das Verſtändnis der neueren politiſchen und volkswirtſchaftlichen Entwicke- lung der Kulturvölker iſt es eine Erſcheinung von größter Bedeutung, daß von den drei bisher geſchilderten, durch Arbeitsteilung entſtandenen ariſtokratiſchen Gruppen der Geſellſchaft die beiden erſteren, die Prieſter und Krieger, wenn nicht verſchwunden, ſo doch ihrer Übermacht entkleidet ſind; ihre Berufe dauern in weſentlich anderen geſell- ſchaftlichen Formen heute fort. Wohl giebt es noch Staaten mit ſtarker Prieſterſchaft; aber die höher civiliſierten, beſonders die proteſtantiſchen, haben eine Geiſtlichkeit, einen Lehrerſtand ohne wirtſchaftliche Vorrechte und Übermacht. Wohl giebt es noch Militär- ſtaaten, wie Preußen, aber der Offiziersſtand herrſcht nicht, rekrutiert ſich aus allen Kreiſen der Gebildeten; die allgemeine Wehrpflicht hat das proletariſche Söldnerberufs- heer mit ſeiner einſeitigen Arbeitsteilung abgelöſt.
Die Handelsariſtokratie der Gegenwart konnte und kann nicht ebenſo verſchwinden, weil ihre arbeitsteilige Funktion, die Leitung und Regulierung der wirtſchaftlichen Pro- duktion, der Verteilung der Güter erſt in den letzten 2—3 Jahrhunderten entſtand und heute unentbehrlich iſt. Wäre der Handel aller Zwiſchenhändler ſo entbehrlich, wie die Socialiſten meinen, verdienten die kaufmänniſchen Fabrikleiter ihre Gewinne nur mit demſelben Rechtstitel wie die Jungen, die über die Mauer ſteigen, um Äpfel zu ſtehlen (Kautsky), dann wäre dieſe Handelsariſtokratie auch ſchon verſchwunden. Sie wird bleiben, ſo lange ſie am beſten große und wichtige Funktionen der Volkswirtſchaft verſieht. Aber ihre einſeitige Herrſchaft wird abnehmen, wie wir eben ſchon andeuteten. —
116. Die Entſtehung eines Arbeiterſtandes. Sklaverei, Leibeigen- ſchaft. Die drei Gruppen der Geſellſchaft: Prieſter, Krieger, Händler, bleiben die Grundtypen aller Ariſtokratie. Die betreffenden Individuen und Geſellſchaftsgruppen ſteigen durch eigentümliche Kräfte und Vorzüge empor, erreichen durch ſie die größere
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 22
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Die neuere Handelsentwickelung, ihre Arbeitsentwickelung und Bedeutung.
geſunde und große Grundariſtokratie, eine ausgebildete Heeres- und Beamtenverfaſſung
iſt, exiſtieren noch ſtarke Gegengewichte, welche ihren monopolartigen Einfluß in der
Volkswirtſchaft und Geſetzgebung, ſowie im Staatsleben im ganzen hemmen, ihren großen
Gewinnen gewiſſe Schranken ſetzen.
Die höhere Schicht der kaufmänniſchen Welt ſtützt ſich auf ihren beweglichen
Kapitalbeſitz, wie die Grundariſtokratie auf ihren Grundbeſitz. Aber es iſt eine ſehr
ſchiefe Auffaſſung, aus dem Kapital an ſich alles heute abzuleiten, was Folge der
techniſchen, geiſtigen und moraliſchen Eigenſchaften der Kaufleute, was das Ergebnis
ihrer Marktkenntnis und -beherrſchung, ihrer Organiſation, ihres teilweiſe vorhandenen
Monopolbeſitzes der Geſchäftsformen und Geſchäftsgeheimniſſe iſt. Ihre Stellung in
der modernen Volkswirtſchaft hat man lange von der günſtigſten Seite, neuerdings unter
dem Eindrucke gewiſſer Mißbräuche und Entartungen, auch unter dem Einfluſſe ſocia-
liſtiſcher Theorien vielfach überwiegend zu ungünſtig be- und verurteilt. Gewiß kann
der habſüchtige Handelsgeiſt entarten, in herrſchſüchtiger Monopolſtellung für Volks-
wirtſchaft und Staat große Gefahren bringen. Aber nie ſollte man dabei überſehen,
daß die arbeitsteilige Ausbildung des Handelsſtandes der Fortſchritt iſt, der unſere
moderne Volks- und Weltwirtſchaft ſchuf. Und ſtets ſollte man ſich klar ſein, daß dieſer
Handelsgeiſt je nach den Menſchen, ihren Gefühlen und Sitten, ihrer Moral und Raſſe
etwas ſehr Verſchiedenes ſein kann. Eine fortſchreitende Verſittlichung der Geſchäftsformen
kann die Auswüchſe des egoiſtiſchen Handelsgeiſtes abſchneiden; ein reeller Geſchäfts-
verkehr, eine ſteigende Ehrlichkeit und Anſtändigkeit in Handel und Wandel kann Platz
greifen; durch Staats- und Kommunalbanken, durch Genoſſenſchaften und Vereine, die
wirtſchaftliche Funktionen übernehmen, teilweiſe auch durch das Aktienweſen und ſeine
Beamten kommt in einen Teil des Geſchäftslebens ein anderer, zugleich auf Geſamt-
intereſſen gerichteter Geiſt. Die großen Organiſationen der Induſtrie und der Land-
wirtſchaft haben ſich teilweiſe ſchon von der Vorherrſchaft des Händlertums befreit.
Alle Gefahren wucheriſcher Ausbeutung der übrigen Volksklaſſen und des Staates durch
die Händler werden in dem Maße zurückgedrängt, wie das ganze Volk die modernen
Handels- und Kreditformen erlernt und beherrſcht.
Für das Verſtändnis der neueren politiſchen und volkswirtſchaftlichen Entwicke-
lung der Kulturvölker iſt es eine Erſcheinung von größter Bedeutung, daß von den
drei bisher geſchilderten, durch Arbeitsteilung entſtandenen ariſtokratiſchen Gruppen der
Geſellſchaft die beiden erſteren, die Prieſter und Krieger, wenn nicht verſchwunden, ſo
doch ihrer Übermacht entkleidet ſind; ihre Berufe dauern in weſentlich anderen geſell-
ſchaftlichen Formen heute fort. Wohl giebt es noch Staaten mit ſtarker Prieſterſchaft;
aber die höher civiliſierten, beſonders die proteſtantiſchen, haben eine Geiſtlichkeit, einen
Lehrerſtand ohne wirtſchaftliche Vorrechte und Übermacht. Wohl giebt es noch Militär-
ſtaaten, wie Preußen, aber der Offiziersſtand herrſcht nicht, rekrutiert ſich aus allen
Kreiſen der Gebildeten; die allgemeine Wehrpflicht hat das proletariſche Söldnerberufs-
heer mit ſeiner einſeitigen Arbeitsteilung abgelöſt.
Die Handelsariſtokratie der Gegenwart konnte und kann nicht ebenſo verſchwinden,
weil ihre arbeitsteilige Funktion, die Leitung und Regulierung der wirtſchaftlichen Pro-
duktion, der Verteilung der Güter erſt in den letzten 2—3 Jahrhunderten entſtand und heute
unentbehrlich iſt. Wäre der Handel aller Zwiſchenhändler ſo entbehrlich, wie die Socialiſten
meinen, verdienten die kaufmänniſchen Fabrikleiter ihre Gewinne nur mit demſelben
Rechtstitel wie die Jungen, die über die Mauer ſteigen, um Äpfel zu ſtehlen (Kautsky),
dann wäre dieſe Handelsariſtokratie auch ſchon verſchwunden. Sie wird bleiben, ſo
lange ſie am beſten große und wichtige Funktionen der Volkswirtſchaft verſieht. Aber
ihre einſeitige Herrſchaft wird abnehmen, wie wir eben ſchon andeuteten. —
116. Die Entſtehung eines Arbeiterſtandes. Sklaverei, Leibeigen-
ſchaft. Die drei Gruppen der Geſellſchaft: Prieſter, Krieger, Händler, bleiben die
Grundtypen aller Ariſtokratie. Die betreffenden Individuen und Geſellſchaftsgruppen
ſteigen durch eigentümliche Kräfte und Vorzüge empor, erreichen durch ſie die größere
Schmoller, Grundriß der Volkswirtſchaftslehre. I. 22
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Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/353>, abgerufen am 16.07.2024.
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