Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch. Die gesellschaftliche Verfassung der Volkswirtschaft.
kamen. Die Leibeigenen schätzt Grimm schon für das 8.--10. Jahrhundert auf die
Hälfte der Bevölkerung, später haben sie wohl vielfach vier Fünftel derselben ausgemacht.
Dabei darf freilich nicht übersehen werden, daß diese Leibeigenen als Klasse mit den
Sklaven gar nicht vergleichbar sind. Ein großer Teil von ihnen stand viel höher,
repräsentierte trotz seiner Lasten und Pflichten eine Art Mittelstand, ging später in
diesen über. Nur die tiefer stehenden Leibeigenen, die, welche mit der Freiheit besitzlos
wurden, können mit den Sklaven in Vergleich gezogen werden.

117. Die Entstehung des neueren freien Arbeiterstandes. Das
große Problem unserer Tage ist die Entstehung eines breiten Standes mechanischer
Lohnarbeiter, die auf Grund freier Verträge ganz oder überwiegend von einem Geld-
lohn leben, den sie durch ihre Arbeit in den Unternehmungen, Familien oder in
wechselnder Stellung verdienen. Wir fragen: wie kommt es, daß mit dem Siege der
persönlichen Freiheit nicht bloß in den Ländern der alten Kultur, sondern auch in den
europäischen Kolonien mit ihrem Bodenüberfluß die alte Zweiteilung der Gesellschaft
sich erhielt: in eine leitende Minorität, die überwiegend geistige und in eine ausführende
Majorität, die überwiegend mechanische Arbeit versieht? Wer alle Menschen für gleich,
das Princip der persönlichen Freiheit für ein magisches Mittel zur raschesten Entwickelung
aller Körper- und Geistesgaben aller Menschen hält, wer die Vorstellung hat, eine
allgemeine Besitzausgleichung hätte, mit der Erteilung der persönlichen Freiheit verknüpft,
für immer die Klassengegensätze beseitigt, wer, von den Wundern der heutigen Technik
berauscht, annimmt, es wäre wirtschaftlicher Überfluß für alle Menschen bei richtiger
Verteilung und demokratischer Organisation von Staat und Volkswirtschaft vorhanden,
der kann natürlich die große historische Thatsache des modernen Arbeitsverhältnisses
nicht richtig verstehen.

Wer die Dinge historisch auffaßt, wird die Wucht der überlieferten Klassen- und Besitz-
verhältnisse, die Bevölkerungsbewegung, die Notwendigkeit herrschaftlicher Organisations-
formen bei der Entstehung der modernen Institution des freien Arbeitsvertrags mit in
Rechnung ziehen und begreifen, daß allerdings seine Ausbildung besser und schlechter
gelingen konnte, da und dort verschiedene Resultate erzeugte; er wird verstehen, daß er,
obwohl von Anfang an ein großer principieller Fortschritt, doch erst langsam und
durch mancherlei Reformen zu einer befriedigenden Einrichtung werden konnte; der wird
es für eine kindliche Täuschung erklären, wenn die Lehre aufgestellt wird, ausschließlich
böse brutale Menschen oder das Gespenst des blutaussaugenden Kapitalismus hätten
es dahin gebracht, daß einige wenige sich der Arbeitsmittel und des Bodens bemächtigt
und so die Masse der Bevölkerung enterbt, zu besitzlosen mechanischen Arbeitern
gemacht hätten.

Schon die Nachwirkung der Leibeigenschaft, in den Kolonien die der Sklaverei, die
großen Schwierigkeiten der Durchführung der allgemeinen Schulpflicht, die Unmöglichkeit,
bei der Aufhebung der feudalen Agrarverfassung alle Hörigen mit Besitz auszustatten,
schuf, wie wir schon sahen, breite Schichten wirtschaftlich, technisch und geistig niedrig
stehender Menschen, welche mit der Freiheit auf irgend eine mechanische Lohnarbeit
angewiesen waren. Sie besaßen nicht die Fähigkeit, auf dem Boden der neuen Technik
isoliert oder genossenschaftlich gewerbliche oder agrarische Betriebe zu schaffen; auch wo
Bodenüberfluß war, wie in den Kolonien, zogen sie Lohnarbeit dem Leben des Squatters
im Urwald vor. Die große Menge kleiner Handwerker und Hausindustrieller war
ebenfalls nicht recht fähig, sich aktiv an der neuen Organisation des wirtschaftlichen
Lebens zu beteiligen. Wo sie verkümmerten, waren sie wie die besitzlosen ländlichen
Taglöhner auf Arbeit bei der nicht zu großen Zahl von Unternehmern angewiesen, welche
nach ihren persönlichen Eigenschaften und ihrem Besitz den technischen und organi-
satorischen Fortschritt in die Hand nehmen konnten. Die gesamten westeuropäischen
Staaten waren 1750--1850 nach langer Stagnation wieder in eine Phase des wirt-
schaftlichen Aufschwunges gekommen; aber die überlieferten Klassenabstufungen waren
nicht plötzlich zu beseitigen. Die Bevölkerung blieb nach Rasse, Abstammung, Lebens-
haltung, Arbeitsgewöhnung, Begabung stark differenziert; die einen waren zu geistiger,

Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft.
kamen. Die Leibeigenen ſchätzt Grimm ſchon für das 8.—10. Jahrhundert auf die
Hälfte der Bevölkerung, ſpäter haben ſie wohl vielfach vier Fünftel derſelben ausgemacht.
Dabei darf freilich nicht überſehen werden, daß dieſe Leibeigenen als Klaſſe mit den
Sklaven gar nicht vergleichbar ſind. Ein großer Teil von ihnen ſtand viel höher,
repräſentierte trotz ſeiner Laſten und Pflichten eine Art Mittelſtand, ging ſpäter in
dieſen über. Nur die tiefer ſtehenden Leibeigenen, die, welche mit der Freiheit beſitzlos
wurden, können mit den Sklaven in Vergleich gezogen werden.

117. Die Entſtehung des neueren freien Arbeiterſtandes. Das
große Problem unſerer Tage iſt die Entſtehung eines breiten Standes mechaniſcher
Lohnarbeiter, die auf Grund freier Verträge ganz oder überwiegend von einem Geld-
lohn leben, den ſie durch ihre Arbeit in den Unternehmungen, Familien oder in
wechſelnder Stellung verdienen. Wir fragen: wie kommt es, daß mit dem Siege der
perſönlichen Freiheit nicht bloß in den Ländern der alten Kultur, ſondern auch in den
europäiſchen Kolonien mit ihrem Bodenüberfluß die alte Zweiteilung der Geſellſchaft
ſich erhielt: in eine leitende Minorität, die überwiegend geiſtige und in eine ausführende
Majorität, die überwiegend mechaniſche Arbeit verſieht? Wer alle Menſchen für gleich,
das Princip der perſönlichen Freiheit für ein magiſches Mittel zur raſcheſten Entwickelung
aller Körper- und Geiſtesgaben aller Menſchen hält, wer die Vorſtellung hat, eine
allgemeine Beſitzausgleichung hätte, mit der Erteilung der perſönlichen Freiheit verknüpft,
für immer die Klaſſengegenſätze beſeitigt, wer, von den Wundern der heutigen Technik
berauſcht, annimmt, es wäre wirtſchaftlicher Überfluß für alle Menſchen bei richtiger
Verteilung und demokratiſcher Organiſation von Staat und Volkswirtſchaft vorhanden,
der kann natürlich die große hiſtoriſche Thatſache des modernen Arbeitsverhältniſſes
nicht richtig verſtehen.

Wer die Dinge hiſtoriſch auffaßt, wird die Wucht der überlieferten Klaſſen- und Beſitz-
verhältniſſe, die Bevölkerungsbewegung, die Notwendigkeit herrſchaftlicher Organiſations-
formen bei der Entſtehung der modernen Inſtitution des freien Arbeitsvertrags mit in
Rechnung ziehen und begreifen, daß allerdings ſeine Ausbildung beſſer und ſchlechter
gelingen konnte, da und dort verſchiedene Reſultate erzeugte; er wird verſtehen, daß er,
obwohl von Anfang an ein großer principieller Fortſchritt, doch erſt langſam und
durch mancherlei Reformen zu einer befriedigenden Einrichtung werden konnte; der wird
es für eine kindliche Täuſchung erklären, wenn die Lehre aufgeſtellt wird, ausſchließlich
böſe brutale Menſchen oder das Geſpenſt des blutausſaugenden Kapitalismus hätten
es dahin gebracht, daß einige wenige ſich der Arbeitsmittel und des Bodens bemächtigt
und ſo die Maſſe der Bevölkerung enterbt, zu beſitzloſen mechaniſchen Arbeitern
gemacht hätten.

Schon die Nachwirkung der Leibeigenſchaft, in den Kolonien die der Sklaverei, die
großen Schwierigkeiten der Durchführung der allgemeinen Schulpflicht, die Unmöglichkeit,
bei der Aufhebung der feudalen Agrarverfaſſung alle Hörigen mit Beſitz auszuſtatten,
ſchuf, wie wir ſchon ſahen, breite Schichten wirtſchaftlich, techniſch und geiſtig niedrig
ſtehender Menſchen, welche mit der Freiheit auf irgend eine mechaniſche Lohnarbeit
angewieſen waren. Sie beſaßen nicht die Fähigkeit, auf dem Boden der neuen Technik
iſoliert oder genoſſenſchaftlich gewerbliche oder agrariſche Betriebe zu ſchaffen; auch wo
Bodenüberfluß war, wie in den Kolonien, zogen ſie Lohnarbeit dem Leben des Squatters
im Urwald vor. Die große Menge kleiner Handwerker und Hausinduſtrieller war
ebenfalls nicht recht fähig, ſich aktiv an der neuen Organiſation des wirtſchaftlichen
Lebens zu beteiligen. Wo ſie verkümmerten, waren ſie wie die beſitzloſen ländlichen
Taglöhner auf Arbeit bei der nicht zu großen Zahl von Unternehmern angewieſen, welche
nach ihren perſönlichen Eigenſchaften und ihrem Beſitz den techniſchen und organi-
ſatoriſchen Fortſchritt in die Hand nehmen konnten. Die geſamten weſteuropäiſchen
Staaten waren 1750—1850 nach langer Stagnation wieder in eine Phaſe des wirt-
ſchaftlichen Aufſchwunges gekommen; aber die überlieferten Klaſſenabſtufungen waren
nicht plötzlich zu beſeitigen. Die Bevölkerung blieb nach Raſſe, Abſtammung, Lebens-
haltung, Arbeitsgewöhnung, Begabung ſtark differenziert; die einen waren zu geiſtiger,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0358" n="342"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Die ge&#x017F;ell&#x017F;chaftliche Verfa&#x017F;&#x017F;ung der Volkswirt&#x017F;chaft.</fw><lb/>
kamen. Die Leibeigenen &#x017F;chätzt Grimm &#x017F;chon für das 8.&#x2014;10. Jahrhundert auf die<lb/>
Hälfte der Bevölkerung, &#x017F;päter haben &#x017F;ie wohl vielfach vier Fünftel der&#x017F;elben ausgemacht.<lb/>
Dabei darf freilich nicht über&#x017F;ehen werden, daß die&#x017F;e Leibeigenen als Kla&#x017F;&#x017F;e mit den<lb/>
Sklaven gar nicht vergleichbar &#x017F;ind. Ein großer Teil von ihnen &#x017F;tand viel höher,<lb/>
reprä&#x017F;entierte trotz &#x017F;einer La&#x017F;ten und Pflichten eine Art Mittel&#x017F;tand, ging &#x017F;päter in<lb/>
die&#x017F;en über. Nur die tiefer &#x017F;tehenden Leibeigenen, die, welche mit der Freiheit be&#x017F;itzlos<lb/>
wurden, können mit den Sklaven in Vergleich gezogen werden.</p><lb/>
          <p>117. <hi rendition="#g">Die Ent&#x017F;tehung des neueren freien Arbeiter&#x017F;tandes</hi>. Das<lb/>
große Problem un&#x017F;erer Tage i&#x017F;t die Ent&#x017F;tehung eines breiten Standes mechani&#x017F;cher<lb/>
Lohnarbeiter, die auf Grund freier Verträge ganz oder überwiegend von einem Geld-<lb/>
lohn leben, den &#x017F;ie durch ihre Arbeit in den Unternehmungen, Familien oder in<lb/>
wech&#x017F;elnder Stellung verdienen. Wir fragen: wie kommt es, daß mit dem Siege der<lb/>
per&#x017F;önlichen Freiheit nicht bloß in den Ländern der alten Kultur, &#x017F;ondern auch in den<lb/>
europäi&#x017F;chen Kolonien mit ihrem Bodenüberfluß die alte Zweiteilung der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft<lb/>
&#x017F;ich erhielt: in eine leitende Minorität, die überwiegend gei&#x017F;tige und in eine ausführende<lb/>
Majorität, die überwiegend mechani&#x017F;che Arbeit ver&#x017F;ieht? Wer alle Men&#x017F;chen für gleich,<lb/>
das Princip der per&#x017F;önlichen Freiheit für ein magi&#x017F;ches Mittel zur ra&#x017F;che&#x017F;ten Entwickelung<lb/>
aller Körper- und Gei&#x017F;tesgaben aller Men&#x017F;chen hält, wer die Vor&#x017F;tellung hat, eine<lb/>
allgemeine Be&#x017F;itzausgleichung hätte, mit der Erteilung der per&#x017F;önlichen Freiheit verknüpft,<lb/>
für immer die Kla&#x017F;&#x017F;engegen&#x017F;ätze be&#x017F;eitigt, wer, von den Wundern der heutigen Technik<lb/>
berau&#x017F;cht, annimmt, es wäre wirt&#x017F;chaftlicher Überfluß für alle Men&#x017F;chen bei richtiger<lb/>
Verteilung und demokrati&#x017F;cher Organi&#x017F;ation von Staat und Volkswirt&#x017F;chaft vorhanden,<lb/>
der kann natürlich die große hi&#x017F;tori&#x017F;che That&#x017F;ache des modernen Arbeitsverhältni&#x017F;&#x017F;es<lb/>
nicht richtig ver&#x017F;tehen.</p><lb/>
          <p>Wer die Dinge hi&#x017F;tori&#x017F;ch auffaßt, wird die Wucht der überlieferten Kla&#x017F;&#x017F;en- und Be&#x017F;itz-<lb/>
verhältni&#x017F;&#x017F;e, die Bevölkerungsbewegung, die Notwendigkeit herr&#x017F;chaftlicher Organi&#x017F;ations-<lb/>
formen bei der Ent&#x017F;tehung der modernen In&#x017F;titution des freien Arbeitsvertrags mit in<lb/>
Rechnung ziehen und begreifen, daß allerdings &#x017F;eine Ausbildung be&#x017F;&#x017F;er und &#x017F;chlechter<lb/>
gelingen konnte, da und dort ver&#x017F;chiedene Re&#x017F;ultate erzeugte; er wird ver&#x017F;tehen, daß er,<lb/>
obwohl von Anfang an ein großer principieller Fort&#x017F;chritt, doch er&#x017F;t lang&#x017F;am und<lb/>
durch mancherlei Reformen zu einer befriedigenden Einrichtung werden konnte; der wird<lb/>
es für eine kindliche Täu&#x017F;chung erklären, wenn die Lehre aufge&#x017F;tellt wird, aus&#x017F;chließlich<lb/>&#x017F;e brutale Men&#x017F;chen oder das Ge&#x017F;pen&#x017F;t des blutaus&#x017F;augenden Kapitalismus hätten<lb/>
es dahin gebracht, daß einige wenige &#x017F;ich der Arbeitsmittel und des Bodens bemächtigt<lb/>
und &#x017F;o die Ma&#x017F;&#x017F;e der Bevölkerung enterbt, zu be&#x017F;itzlo&#x017F;en mechani&#x017F;chen Arbeitern<lb/>
gemacht hätten.</p><lb/>
          <p>Schon die Nachwirkung der Leibeigen&#x017F;chaft, in den Kolonien die der Sklaverei, die<lb/>
großen Schwierigkeiten der Durchführung der allgemeinen Schulpflicht, die Unmöglichkeit,<lb/>
bei der Aufhebung der feudalen Agrarverfa&#x017F;&#x017F;ung alle Hörigen mit Be&#x017F;itz auszu&#x017F;tatten,<lb/>
&#x017F;chuf, wie wir &#x017F;chon &#x017F;ahen, breite Schichten wirt&#x017F;chaftlich, techni&#x017F;ch und gei&#x017F;tig niedrig<lb/>
&#x017F;tehender Men&#x017F;chen, welche mit der Freiheit auf irgend eine mechani&#x017F;che Lohnarbeit<lb/>
angewie&#x017F;en waren. Sie be&#x017F;aßen nicht die Fähigkeit, auf dem Boden der neuen Technik<lb/>
i&#x017F;oliert oder geno&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlich gewerbliche oder agrari&#x017F;che Betriebe zu &#x017F;chaffen; auch wo<lb/>
Bodenüberfluß war, wie in den Kolonien, zogen &#x017F;ie Lohnarbeit dem Leben des Squatters<lb/>
im Urwald vor. Die große Menge kleiner Handwerker und Hausindu&#x017F;trieller war<lb/>
ebenfalls nicht recht fähig, &#x017F;ich aktiv an der neuen Organi&#x017F;ation des wirt&#x017F;chaftlichen<lb/>
Lebens zu beteiligen. Wo &#x017F;ie verkümmerten, waren &#x017F;ie wie die be&#x017F;itzlo&#x017F;en ländlichen<lb/>
Taglöhner auf Arbeit bei der nicht zu großen Zahl von Unternehmern angewie&#x017F;en, welche<lb/>
nach ihren per&#x017F;önlichen Eigen&#x017F;chaften und ihrem Be&#x017F;itz den techni&#x017F;chen und organi-<lb/>
&#x017F;atori&#x017F;chen Fort&#x017F;chritt in die Hand nehmen konnten. Die ge&#x017F;amten we&#x017F;teuropäi&#x017F;chen<lb/>
Staaten waren 1750&#x2014;1850 nach langer Stagnation wieder in eine Pha&#x017F;e des wirt-<lb/>
&#x017F;chaftlichen Auf&#x017F;chwunges gekommen; aber die überlieferten Kla&#x017F;&#x017F;enab&#x017F;tufungen waren<lb/>
nicht plötzlich zu be&#x017F;eitigen. Die Bevölkerung blieb nach Ra&#x017F;&#x017F;e, Ab&#x017F;tammung, Lebens-<lb/>
haltung, Arbeitsgewöhnung, Begabung &#x017F;tark differenziert; die einen waren zu gei&#x017F;tiger,<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[342/0358] Zweites Buch. Die geſellſchaftliche Verfaſſung der Volkswirtſchaft. kamen. Die Leibeigenen ſchätzt Grimm ſchon für das 8.—10. Jahrhundert auf die Hälfte der Bevölkerung, ſpäter haben ſie wohl vielfach vier Fünftel derſelben ausgemacht. Dabei darf freilich nicht überſehen werden, daß dieſe Leibeigenen als Klaſſe mit den Sklaven gar nicht vergleichbar ſind. Ein großer Teil von ihnen ſtand viel höher, repräſentierte trotz ſeiner Laſten und Pflichten eine Art Mittelſtand, ging ſpäter in dieſen über. Nur die tiefer ſtehenden Leibeigenen, die, welche mit der Freiheit beſitzlos wurden, können mit den Sklaven in Vergleich gezogen werden. 117. Die Entſtehung des neueren freien Arbeiterſtandes. Das große Problem unſerer Tage iſt die Entſtehung eines breiten Standes mechaniſcher Lohnarbeiter, die auf Grund freier Verträge ganz oder überwiegend von einem Geld- lohn leben, den ſie durch ihre Arbeit in den Unternehmungen, Familien oder in wechſelnder Stellung verdienen. Wir fragen: wie kommt es, daß mit dem Siege der perſönlichen Freiheit nicht bloß in den Ländern der alten Kultur, ſondern auch in den europäiſchen Kolonien mit ihrem Bodenüberfluß die alte Zweiteilung der Geſellſchaft ſich erhielt: in eine leitende Minorität, die überwiegend geiſtige und in eine ausführende Majorität, die überwiegend mechaniſche Arbeit verſieht? Wer alle Menſchen für gleich, das Princip der perſönlichen Freiheit für ein magiſches Mittel zur raſcheſten Entwickelung aller Körper- und Geiſtesgaben aller Menſchen hält, wer die Vorſtellung hat, eine allgemeine Beſitzausgleichung hätte, mit der Erteilung der perſönlichen Freiheit verknüpft, für immer die Klaſſengegenſätze beſeitigt, wer, von den Wundern der heutigen Technik berauſcht, annimmt, es wäre wirtſchaftlicher Überfluß für alle Menſchen bei richtiger Verteilung und demokratiſcher Organiſation von Staat und Volkswirtſchaft vorhanden, der kann natürlich die große hiſtoriſche Thatſache des modernen Arbeitsverhältniſſes nicht richtig verſtehen. Wer die Dinge hiſtoriſch auffaßt, wird die Wucht der überlieferten Klaſſen- und Beſitz- verhältniſſe, die Bevölkerungsbewegung, die Notwendigkeit herrſchaftlicher Organiſations- formen bei der Entſtehung der modernen Inſtitution des freien Arbeitsvertrags mit in Rechnung ziehen und begreifen, daß allerdings ſeine Ausbildung beſſer und ſchlechter gelingen konnte, da und dort verſchiedene Reſultate erzeugte; er wird verſtehen, daß er, obwohl von Anfang an ein großer principieller Fortſchritt, doch erſt langſam und durch mancherlei Reformen zu einer befriedigenden Einrichtung werden konnte; der wird es für eine kindliche Täuſchung erklären, wenn die Lehre aufgeſtellt wird, ausſchließlich böſe brutale Menſchen oder das Geſpenſt des blutausſaugenden Kapitalismus hätten es dahin gebracht, daß einige wenige ſich der Arbeitsmittel und des Bodens bemächtigt und ſo die Maſſe der Bevölkerung enterbt, zu beſitzloſen mechaniſchen Arbeitern gemacht hätten. Schon die Nachwirkung der Leibeigenſchaft, in den Kolonien die der Sklaverei, die großen Schwierigkeiten der Durchführung der allgemeinen Schulpflicht, die Unmöglichkeit, bei der Aufhebung der feudalen Agrarverfaſſung alle Hörigen mit Beſitz auszuſtatten, ſchuf, wie wir ſchon ſahen, breite Schichten wirtſchaftlich, techniſch und geiſtig niedrig ſtehender Menſchen, welche mit der Freiheit auf irgend eine mechaniſche Lohnarbeit angewieſen waren. Sie beſaßen nicht die Fähigkeit, auf dem Boden der neuen Technik iſoliert oder genoſſenſchaftlich gewerbliche oder agrariſche Betriebe zu ſchaffen; auch wo Bodenüberfluß war, wie in den Kolonien, zogen ſie Lohnarbeit dem Leben des Squatters im Urwald vor. Die große Menge kleiner Handwerker und Hausinduſtrieller war ebenfalls nicht recht fähig, ſich aktiv an der neuen Organiſation des wirtſchaftlichen Lebens zu beteiligen. Wo ſie verkümmerten, waren ſie wie die beſitzloſen ländlichen Taglöhner auf Arbeit bei der nicht zu großen Zahl von Unternehmern angewieſen, welche nach ihren perſönlichen Eigenſchaften und ihrem Beſitz den techniſchen und organi- ſatoriſchen Fortſchritt in die Hand nehmen konnten. Die geſamten weſteuropäiſchen Staaten waren 1750—1850 nach langer Stagnation wieder in eine Phaſe des wirt- ſchaftlichen Aufſchwunges gekommen; aber die überlieferten Klaſſenabſtufungen waren nicht plötzlich zu beſeitigen. Die Bevölkerung blieb nach Raſſe, Abſtammung, Lebens- haltung, Arbeitsgewöhnung, Begabung ſtark differenziert; die einen waren zu geiſtiger,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/358
Zitationshilfe: Schmoller, Gustav: Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre. Bd. 1. Leipzig, 1900, S. 342. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/schmoller_grundriss01_1900/358>, abgerufen am 22.11.2024.